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Chronik und Quellen
1938
Juli 1938

Zusammenfassender Bericht über Haftzeit

Ende Juli 1938, also rund sechs Wochen nach der vom 12.-18. Juni dauernden Verhaftungswelle wurde folgende Zusammenfassung aus Erzählungen entlassener Häftlinge aus Buchenwald sowie von Mitteilungen mehrerer Anwälte erstellt:

Der folgende Bericht beruht in erster Reihe auf den ausführlichen Erzählungen dreier Häftlinge, die der Verfasser selbst im Laufe des Monats Juli, jeweils nur wenige Tage nach ihrer Entlassung, einzeln gesprochen hat. In zweiter Linie wurde das berücksichtigt, was zwei seit sechs Wochen dauernd mit der Bearbeitung von Haftsachen aus Buchenwald befasste Juristen dem Schreiber als Quintessenz ihrer Erfahrung mitgeteilt hatten. Andere Quellen, insbesondere die in der englischen Presse veröffentlichten Berichte, sind nicht benutzt worden.

Die Namen der drei oben erwähnten Häftlinge sind dem Schreiber genau bekannt, können aber hier nicht wiedergegeben werden, weil die Betreffenden sich noch in Deutschland befinden.

Belegschaft des Lagers

Nach Angabe des Häftlings war die Zusammensetzung der Belegschaft des Lagers etwa am 20. Juni die folgende:

Gesamtbelegschaft:                           ca. 7850

Hiervon waren Juden                       1240-1250
Ernste Bibelforscher                             300-400
Arbeitsscheue                                       ca.3000
Politische Häftlinge                             800-1000
»B.V.« (Berufsverbrecher)             1500-2000

Außer diesen Häftlingen befinden sich im Lager nur SS-Mann-schaften in Uniform; Zivilisten dürfen niemals das Lager betreten - selbst Kriminalpolizei muss am Lagereingang warten. Die Zusammensetzung der Belegschaft ist jeweils in dem Raum, in dem die Häftlinge das ihnen von ihren Angehörigen gesandte Geld in Empfang nehmen, auf einer Tafel angeschlagen.

Die einzelnen Kategorien der Häftlinge

Zu den einzelnen Kategorien ist Folgendes zu bemerken: Bei den sog. »Arbeitsscheuen« soll es sich zum Teil um wirklich arbeitsunwillige Elemente, darunter auch um eine Anzahl Zigeuner handeln, zum größeren Teil aber um Personen, deren Verbrechen darin bestand, ihren Arbeitsplatz zu verlassen, um anderwärts besser bezahlte Arbeit anzunehmen.

Die »Ernsten Bibelforscher«, Angehörige der bekannten Sekte, die u. a. den Hitler-Gruß aus religiösen Gründen verweigern, werden sofort aus dem Konzentrationslager entlassen, wenn sie unterschreiben, dass sie »nicht mehr an Jehova glauben«. Sie lehnen dies aber durchweg ab. Die »Bibelforscher« nehmen sich im KZ der Juden besonders an, geben ihnen auch oft von ihren Brotrationen ab usw.

Die Zahl der Juden betrug anfänglich, d. h. nach Durchführung der großen Fahndungsaktion vom 12.-18. Juni, durch die erst die Juden nach B. kamen, etwa 1350. Der Abgang von etwa 100 innerhalb von fünf Wochen beruht zum kleineren Teil auf Entlassungen, zum größeren Teil auf Todesfällen. Im Allgemeinen werden die Juden entlassen, wenn ihnen sofortige Auswanderungsmöglichkeit nachgewiesen wird, d.h., wenn Visum und Fahrkarte vorhanden sind.

Die verschiedenen Arten der Häftlinge sind schon in der Kleidung gekennzeichnet; so tragen die Juden einen schwarzen Streifen als »Arbeitsscheue« und einen gelben als Juden, Die Häftlinge sind in großen Baracken untergebracht, und zwar die Juden in besonderen. In einer der jüdischen Baracken lagen anfänglich 462 Mann, hiervon waren innerhalb der ersten Woche zwölf Tote.

Der Verlauf des Arbeitstages

Der Tag der Häftlinge verläuft in der Regel wie folgt: Aufgestanden wird um ½ 4 Uhr. Um ¾ 5 ist Appell. Dieser dauert bis ¾ 6 - wie denn überhaupt die Häufigkeit und lange Dauer der Appelle, während derer stramm gestanden werden muss, als kaum weniger qualvoll empfunden wird als die Arbeit, die Misshandlungen und der Hunger. Um ¾ 6 Uhr treten die Arbeitskommandos an, um ¼ 7 beginnt die Arbeit. Diese dauert dann ununterbrochen bis 12 Uhr. Von 12 Uhr bis kurz vor ½ 1 ist Mittagspause, vor ½ 1 wird schon wieder ausgerückt, und von 1-4 wird wieder gearbeitet. Um 4 Uhr wird wieder abgezählt; dieser Appell dauert mindestens bis 5 Uhr 10, nämlich wenn niemand fehlt; andernfalls muss der sog. Stufendienst den Fehlenden suchen (meist im Walde), und die anderen müssen so lange stehen, bis er lebend oder tot aufgefunden ist; dies dauert unter Umständen von 4 Uhr bis 8 Uhr. Fehlt niemand, so ist um 5 Uhr 40 nochmals Arbeitsappell, und von 6 Uhr bis 8 Uhr wird wieder gearbeitet. Um 8 Uhr gibt es dann Abendbrot.

Verpflegung

Früh erhalten die Häftlinge Kaffee, aber nichts zu essen. Mittags gibt es meist Nudeln, Reis, Graupen oder dergl. oder Hülsenfrüchte. Das Essen soll qualitativ sehr gut sein, nur viel zu wenig. Abends erhalten die Juden insgesamt 300 g trocken Brot, welches gleichzeitig für den nächsten Morgen reichen muss. In der Kantine können sich die Häftlinge hierzu Marmelade kaufen, die übrigens gut sein soll. Die Folge dieser Verpflegung sind Gewichtsabnahme [n], die in der Regel zwischen 20 und 40 Pfund innerhalb von sechs Wochen zu liegen scheinen. Die Arier erhalten größere Brotrationen als die Juden. Doch ist ein Genaues nicht bekannt.

Arten der Arbeit

Die Arbeit der Häftlinge besteht vorwiegend im Steineschleppen aus dem nahen Steinbruch. Es wird mindestens bei den Juden streng darauf geachtet, dass sie nur diese gröbste Arbeit verrichten dürfen, einer der Häftlinge, der zum Maurer umgeschichtet hatte, bat um Erlaubnis, im Steinbruch selbst zu arbeiten, was ihm mit der Begründung abgelehnt wurde, für Juden käme so etwas gar nicht in Frage. Neben dem Steineschleppen werden die Häftlinge auch mit Holzfällen und Abschleppen beschäftigt. In jedem Falle werden sie gezwungen, mit äußerster Anspannung aller Kraft zu arbeiten, so müssen etwa Eichenbohlen, die normalerweise von vier Arbeitern getragen werden, hier von zwei Häftlingen getragen werden. Ebenso wird im Steinbruch darauf geachtet, dass Häftlinge Steine von je ein bis zwei Zentnern tragen müssen - und zwar auch die Alten und Kranken.

Misshandlungen

Während der Arbeit selbst geschehen täglich Misshandlungen aller Art bis zum direkten Totschlag. Bricht etwa jemand unter der Arbeitslast zusammen oder stolpert, so wird er mit Fußtritten oder Kolbenstoßen oder mit einem Eimer kalt[em] Wasser wieder hochgebracht. Einer der Häftlinge erzählte folgenden Fall: Ein Jude hatte beim Steintragen einen Stein gefasst, der etwa 40 Pfund wog. Darauf wurde er angeschrien, er solle das Ding mal hergeben und sich einen größeren Stein suchen. Während der Jude ging, nahm der Wachtmann den kleineren Stein und schleuderte ihn mit voller Wucht nach dem Juden; dieser wurde ins Genick getroffen und war tot. Auch sonst sterben dauernd Häftlinge an den direkten Folgen von Misshandlungen. Z. B. starb im Juli einer der jüdischen Häftlinge an doppeltem Nierenbeckenbruch infolge von Fußtritten. Die Misshandlungen während der Arbeit scheinen zum großen Teil durch die Vorarbeiter, genannt »Capo«, zu geschehen. Diese sind selbst Häftlinge (und zwar zum Teil »B.V.«-Leute, das heißt Berufsverbrecher), die von den SS-Mannschaften dazu angehalten werden, möglichst scharf durchzugreifen. Die Wachen selbst stehen mit schussbereitem Gewehr in der Nähe der Arbeitskommandos.

Außerhalb der Arbeit geschehen zahllose Misshandlungen auch bei den Appellen usw. Hier werden vor allem auch die Strafen verhängt und vollstreckt für alle möglichen Vergehen, z. B. wenn jemand nicht strammsteht oder nicht genau in der Reihe steht usw. Die reguläre Strafe sind 25 Peitschenhiebe, die zum Teil in der Anwesenheit der gesamten Belegschaft abends beim Appell vorgenommen werden. In manchen Fällen haben diese Auspeitschungen zur Folge, dass die Betreffenden auch dann nicht entlassen werden können, wenn unmittelbare Auswanderungsmöglichkeit nachgewiesen wird -weil man die Spuren der Misshandlungen nicht draußen sichtbar werden lassen will.

Ärztliche Versorgung

Krankmelden darf sich nur derjenige, der entweder eine offene Wunde oder einen Knochenbruch hat; infolgedessen werden alle die schweren inneren Krankheiten, die durch Überanstrengung während der Arbeit oder durch die mangelhafte Ernährung hervorgerufen werden, insbesondere Herzkrankheiten, nicht behandelt, und eine große Anzahl stirbt an Entkräftung oder Herzschlag usw., dies umso mehr, als auch die wenigstens unter den Juden ziemlich zahlreichen Leute über 50, ferner die schon von Anfang an Herzkranken, die Asthmatiker usw. jede Arbeit und auch alle Übungen (Dauerlauf usw.) mitmachen müssen wie die Anderen.

Es sind im Lager Ärzte und Sanitäter vorhanden. Diese sind selbst Häftlinge und haben viel zu wenig Betten, Medikamente usw., um wirksam helfen zu können. Bei schwersten Krämpfen geben sie unter Umständen ein paar Tropfen Belladonna oder dergl. Ein SS-Arzt kommt auf ein paar Stunden täglich ins Lager, »aber der fasst doch keinen Juden an«, wie einer der Häftlinge sagte.

Zahl der Todesfälle

Wenn die Arbeitskommandos früh zur Arbeit ausrücken, kommen sie an einer Stelle vorbei, wo immer ein oder zwei, oft auch mehrere Bahren liegen mit den neuen Toten, die abtransportiert werden. Insgesamt soll die Zahl der Todesfälle im Tagesdurchschnitt sechs bis acht betragen. Von diesen Todesfällen ist ein Teil auf Misshandlungen, ein anderer Teil auf Überanstrengung, Entkräftung usw., ein erheblicher Teil aber auf Selbstmord zurückzuführen. Dieser findet in der Regel so statt, dass die verzweifelten Häftlinge [sich] in den mit Hochspannung geladenen Stacheldraht stürzen, der um die Baracken gezogen ist. Dies war besonders in der ersten Zeit sehr häufig.

Besondere Ereignisse

Irgendeinen Hoffnungsstrahl gibt es für die Häftlinge nicht. Der Sonntag schien uns kaum weniger schrecklich zu sein als der Alltag; er besteht zum größten Teil aus stundenlangen Appellen. An einem Sonntag mussten die Häftlinge sogar den ganzen Tag überstehen, sodass sie sich zuletzt vor Müdigkeit nicht mehr aufrecht halten konnten. Zwischendurch wurden sie gruppenweise abkommandiert, sich völlig nackt auszuziehen, wonach die Kleider ganz genau durchsucht werden. Es hieß, in einer englischen Zeitung sei eine Photographie des Galgens veröffentlicht worden, an dem der Mörder des SS-Mannes, den man wieder eingefangen hatte, in Anwesenheit der gesamten Lagerbelegschaft gehängt wurde,1 und man suche nun im ganzen Lager nach dem Photoapparat. Auch sonst werden unter Umständen als Repressalie für ausländische Veröffentlichungen besondere Strafen verhängt, zum Beispiel völliger Nahrungsentzug für einen Tag.

Schlussfolgerung:

Die aus Buchenwald Entlassenen machen einen völlig gebrochenen und verängstigten Eindruck. In der Regel weinen die Männer, sobald man sie etwas fragt; oft antworten sie nur, wenn ihre Frau dabei ist und ihnen zuredet. Diese Menschen sind zweifellos in der Regel auswanderungsunfähig geworden, weil ihnen jeder Mut, jede Nervenkraft genommen ist. Wahrscheinlich wird ein großer Teil von ihnen nachträglich im Auslande zugrunde gehen. Endlich ist daraufhinzuweisen, dass entgegen den meisten Presse-Veröffentlichungen die überwiegende Mehrzahl der Häftlinge aus Nichtjuden besteht. Auch unter diesen ist das Elend grauenhaft; einer der entlassenen jüdischen Häftlinge versicherte, er habe in Buchenwald unter den Christen so furchtbares Elend gesehen wie in seinem Leben nie zuvor.

Berichterstatter ungenannt

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