Bericht von Martin Andermann
Martin Andermann beschreibt die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Königsberg i. Pr. im Jahr 1934:
Als ich im Januar 1934 meine Praxis nach Königsberg verlegte, war ich fast 12 Jahre von meiner Heimatstadt abwesend gewesen. Zwar war ich immer wieder in den Ferien oder zu kurzen Besuchen nach Hause gefahren, aber selten länger als 2 Wochen dort geblieben. Ich hing an der Stadt, und wenn sie mir in den 12 Jahren auch etwas entfremdet war, so war ich nicht unglücklich, wieder daheim zu sein. Inzwischen hatte sich freilich manches verändert. Der Kreis, in den ich zurückkehrte, war eine ausserhalb des eigentlichen Lebens in der Stadt dahinvegetierende Gesellschaft. Auf Schritt und Tritt, weit stärker als in Berlin, fühlte man und sah man, dass man als Jude nur noch eine Pariaexistenz führen durfte. Mit Ausnahme eines Cafes, das einem Schweizer gehörte, der es dank seiner ausländischen Nationalität wagte, sich dem Verlangen der S.A. zu widersetzen, hingen in sämtlichen Gaststätten grosse Schilder: Juden unerwünscht. Man konnte nicht mehr ins Theater, nicht mehr in die Konzerte gehen. Fast sämtliche Theater- und Musikveranstaltungen wurden durch die Organisation „Kraft durch Freude“ veranstaltet, ein völlig neues Publikum war entstanden, das früher vermutlich weder Opern noch Konzerte besuchte. Aber jetzt wurden die Leute hinkommandiert, so wie zu allem ändern, so auch zu den Vergnügungen. Ich weiss von diesen Dingen zufällig etwas, weil wir eine arische Bekannte hatten, die an der Königsberger Oper angestellt war. Wir Aerzte hatten nicht mehr die Erlaubnis, den Sitzungen der Aerztegesellschaft beizuwohnen, so dass die jüdischen Aerzte unter sich Fortbildungskurse veranstalteten.
Ich könnte immer neue Einzelheiten aufzählen, alle würden immer wieder dasselbe bedeuten: das Ausgeschlossensein, das virtuelle Ghetto, in dem wir zu leben hatten. Aber schliesslich, man gewöhnte sich auch daran, bis es einem fast selbstverständlich wurde. Als ich später ins Ausland kam, konnte ich mich gar nicht daran gewöhnen, in einem beliebigen Café Platz nehmen zu dürfen. Wenn ich an diese Jahre zurückdenke, so war das Leben gewiss ein schweres. Trotzdem, es gab auch manches, was schön war. Es war ja nur selbstverständlich, dass die aufeinander angewiesenen jüdischen Familien mehr miteinander verkehrten, als es früher der Fall war. Es entstand eine gewisse Herzlichkeit und Wärme, die durch die gemeinsame Not, die dauernde Angst, in der man lebte, gefördert wurde. Es wanderten auch so viele aus, und die Zurückgebliebenen schlossen sich immer enger zusammen. Man begann, die Dinge, die einem noch offen standen, das, was noch nicht verboten war, viel höher zu schätzen und war viel dankbarer für vieles, was einem früher eine Selbstverständlichkeit gewesen war. Meine Frau und ich freuten uns an manchen landschaftlichen Reizen Königsbergs, wir waren glücklich, dass wir ungehindert Spazierengehen durften, oder dass wir an die See fahren durften, unsere wunderbare Ostsee, die ich so lange hatte entbehren müssen. Gewiss, man konnte nicht in die Lokale gehen, man musste überall aussen bleiben, aber man konnte doch wandern und genoss alle Schönheit, die nicht „für Juden verboten“ war, mit gesteigerter Intensität. Man freute sich, dass niemand einem verbot, Bücher zu kaufen oder die Bücher, die man besass, wieder zu lesen. Mein alter Vater, dem man seine Anwaltspraxis auch arg beschränkt hatte -später musste er sie ganz einstellen -, sagte immer: Nun komme ich wenigstens dazu, alles das zu lesen, was ich immer lesen wollte, und nie konnte. Besonders dankbar war man aber für Besuche nichtjüdischer einstiger oder gar neuer Freunde. Denn man wusste, dass es keine konventionellen Besuche mehr gab. Es gab ja so viele, die nur zu eifrig bekundeten, dass sie einen lieber nicht mehr kennen wollten. Wie genau wusste man, dass ein Nichtjude, der einen besuchte, damit ein erhebliches Risiko lief, dass er es tat, um einem zu beweisen, dass er die Gefahr auf sich nehme, einem seine Achtung und Anhänglichkeit zu versichern. Man brauchte nicht viele Worte [zu] machen, man wusste auch ohne Worte ganz genau, dass der andere es ehrlich meinte, denn sonst wäre er nicht gekommen. Man war auch dankbar, wenn einmal ein einstiger Freund oder Studiengenosse einem herzlich und verstehend auf einen Brief antwortete. Wie viel war das alles geworden, was man früher gar nicht zu werten gewusst hatte. Ein jüdischer Freund sagte mir einmal, wenn er nach Hause käme, dann sei er immer glücklich, noch alles so vorzufinden, wie er es liebe: seine Möbel, an denen er hänge, seine Bücher und alles das. Denn, so fuhr er fort, wie lange wird das alles noch sein, wie lange werden wir auch nur die bescheidenste Existenz aufrechterhalten können. Eine jüdische Patientin sagte mir: „Im Grunde, es ist würdelos, aber glauben Sie mir, je mehr die Nazis gegen uns vorgehen, je dringender notwendig es ist, an Auswanderung zu denken, umso mehr liebe ich Deutschland, liebe Ostpreussen, die Stadt und alles. Früher, sagte diese Frau, war ich glücklich, wenn ich mit meinem Mann nach Italien fuhr. Jetzt dagegen denke ich in Italien nur: Wenn ich doch wieder zu Hause wäre, denn wer weiss, wie oft ich noch nach Hause werde zurückkehren können.“ -Ich weiss nicht, ob eine ähnliche Aenderung auch in nichtjüdischen Kreisen vor sich ging. Meine Beziehungen zu Nichtjuden wurden ja immer spärlicher. Ich kann nur über so wenige Dinge berichten, sozusagen Beobachtungen am Rande. Die Nichtjuden lebten ja ein ganz ander [e]s Leben, die Politik, der Staat mit seinen Anforderungen an jeden einzelnen überschattete alles. Die Umzüge, die Feste, die Aufmärsche, die Paraden, der Dienst hörten niemals auf. Er drang in die Familie und zersplitterte sie. Eine Schulfreundin meiner Schwester kam von Zeit zu Zeit zu uns und schüttete ihr Herz aus: ihr Mann, Lehrer an einem Gymnasium, sei einstiger Verbindungsstudent, monarchistisch, konservativ. Der Junge - der einzige Sohn -, 18 Jahre alt, war begeisterter Nazi. Die Familie drohte auseinanderzubrechen, Vater und Sohn verstanden sich nicht mehr, die Mutter stand hilflos dazwischen. Sie zitterte um ihre Existenz, denn die Intransigenz des Vaters hatte ihm schon in seiner Stellung erheblich geschadet, „er kann doch nie den Mund halten“, jammerte sie. - Unsere Schneiderin, eine einfache Frau, machte jedesmal ihrer Empörung Luft, wenn sie bei uns war. Ihre beiden Jungen waren fast nie mehr zu Hause. Sie war Witwe, hatte mit Mühe die Jungen grossgezogen, den ganzen Tag seien sie in der Hitlerjugend, und dort würden sie gegen alles aufgehetzt, gegen die eigene Mutter, gegen die Religion und gegen alles.
Eine katholische Volksschullehrerin, ebenfalls Jugendfreundin meiner Schwester, gehörte zu denjenigen, die beinahe in offener Opposition standen. Sie verteilte off Rundschreiben der Bischöfe und war eine entschiedene Kämpferin gegen das Regime. Aber alle diese Menschen waren ältere Menschen, Menschen der Vorkriegsgeneration. Sie dachten anders, aber sie wurden auch allgemein von den Jungen als die absterbende Generation angesehen. Jener 18jährige Sohn unserer Freundin fand, wie die Mutter sagte, „alles richtig und notwendig“, war begeistert und hingegeben an die neuen Ideen. - Einen einstigen Schulkameraden, ungefähr im selben Alter stehend wie ich, traf ich einmal in der Strassenbahn. Er war Christ, aber nach dem sehr frühen Tod seines Vaters bei jüdischen Freunden aufgewachsen, sie waren seine zweiten Eltern geworden. Da niemand zugegen war, wagte ich ein paar Worte an ihn zu richten. Ich wusste, dass er sehr linksgerichtete Tendenzen gehabt hatte und lange Jahre in der deutschen Wandervogelbewegung eine Rolle gespielt hatte. Jetzt war er Zahnarzt für die Hiderjugend und schien auch sonst viel in dieser Organisation tätig zu sein. Ich fragte, ob es ihm nicht schwer fiele, denn die jetzigen Tendenzen seien doch sehr verschieden von denen der alten Wandervogelbewegung. Oh nein, sagte er, im Gegenteil, im Grunde ist das alles sehr ähnlich. Bei uns in der Hitlerjugend, sagte er lachend, wird übrigens das Wort „Sozialismus“ mit ganz grossen Buchstaben geschrieben. Ich merkte, dass ihm die ganze Unterhaltung mit mir in der Strassenbahn nicht lieb war, und so verabschiedete ich mich. Ich hatte den Eindruck gewonnen, dass der Mann recht positiv und hoffnungsvoll dem neuen Deutschland gegenüberstand. Wenn ich Gelegenheit hatte, mit Nichtjuden unter vier Augen zu sprechen, begegnete mir off folgende Problemstellung: Sie können das eben nicht verstehen, hörte ich da. Wir sind Deutsche, unser Platz ist hier, was immer geschehen möge. Opposition ist unfruchtbar, wir müssen, das ist der einzige Weg, hinein in die Partei, hinein in die Bewegung, nur so können wir das, was später einmal den jetzigen Staat ablösen wird, vorbereiten. Der extremste Fall dieser Art begegnete mir in einer sozialen Fürsorgerin. Ein besonders geradliniger Mensch, im tiefsten der Partei ablehnend gegenüber stehend, aber sehr deutsch empfindend, war sie in einer besonders schwierigen Lage. Alle sozialen Aemter gingen über die Partei, sie wollte nicht eintreten und hatte so Schwierigkeiten, überhaupt eine Stellung zu finden. Ihr Bruder war Pfarrer der Bekenntniskirche, sie stand derselben Bewegung nahe.
Durch einen Zufall lernte die Führerin des nationalsozialistischen Frauenbundes dieses Mädchen kennen, sah sofort ihre Intelligenz und wollte sie durchaus als Mitarbeiterin haben. Schliesslich gab sie nach. Man vertraute ihr, gab ihr immer grössere Aufgaben, sie wurde als Delegierte auf eine jener Ordensburgen zur „weltanschaulichen Schulung“ geschickt, und man beauftragte sie schliesslich, Vortragsreisen in der Provinz zu machen, um vor den Frauen für die Sozialarbeit der Partei Propaganda zu machen. Ich sah sie einmal abends bei jüdischen Freunden, wo sie sich spät abends heimlich hingeschlichen hatte. Sie war in einem tiefen Zwiespalt, und man merkte es ihr an. „Soll ich denn nicht die Gelegenheit ergreifen, mit meinen besten Fähigkeiten zu wirken, wo sich mir diese Möglichkeit bietet?“ fragte sie. „Kann ich nicht für eine Ueberwindung der nationalsozialistischen Bewegung viel mehr von innen heraus tun, als wenn ich von aussen Opposition mache? Ihr wisst ja gar nicht, sagte sie, was wir alles für Mitarbeiter haben. Manch einer ist nur drin, um später, im geeigneten Moment, wenn es mal ,zum Klappen“ kommt, dabei zu sein.“ -Ein uns befreundeter nichtjüdischer Künstler, der lange Jahre mit einem jüdischen Künstler zusammen Konzerte gegeben hatte, wurde vor die Frage gestellt, ob er mit diesem Juden zusammen Deutschland verlassen wolle oder sich trennen und in Deutschland bleiben wolle. Es fiel ihm schwer, aber er wählte das letztere, er gehöre eben nach Deutschland. Ue-berall, wo ich mit Nichtjuden in Berührung kam, schien mir eins deutlich: Die Leute waren aufgewühlt, voller Fragen, hatten Entscheidungen zu treffen, die ihnen nahegingen. So hatte ich immer das starke Gefühl, als ob unter der Fassade dieses marschierenden, gleichgeschalteten Deutschlands das Leben jedes einzelnen mit einer nie dagewesenen Intensität gelebt wurde. Der ungeheure Druck, die Gefahr, die stets gegenwärtige Möglichkeit, dass Ungeheuerliches geschehen könne - wie 1934 die Röhmrevolte -, bewirkte eine Steigerung aller Einzelhandlungen des Lebens. Es gab ja nichts mehr, das einfach, selbstverständlich war. So wie es eine Tat war, wenn ein Nichtjude einen alten jüdischen Freund besuchte - er konnte öffentlich im „Stürmer“ angeprangert werden -, so war es eine Tat, wenn der Pfarrer der Bekenntniskirche es wagte zu predigen, obgleich man es ihm untersagt hatte. Es war noch mehr, wenn der gleiche Königsberger Pfarrer das nächste Mal, als man ihn verhinderte, in der Kirche zu sprechen, auf dem Platz vor der Kirche zu predigen begann und die Gemeinde ihn umringte, sodass ihn niemand verhaften konnte. Es war eine Tat, wenn unsere Schneiderin hinging, um auf dem Platze diesen verfemten Pfarrer zu hören. Früher mag ihr ihr Christentum etwas Selbstverständliches gewesen sein, womit man es nicht allzu genau nahm. Jetzt wurde ihr das Recht, auf ihre Weise christlich zu sein, bestritten, und die einfache Frau fing an, sich darüber Gedanken zu machen, ob das Recht sei, und was es denn überhaupt mit dem Glauben auf sich habe. So war es mit allem und jedem. Der Kaufmann oder der Bäcker in der ostpreussischen Kleinstadt, dem die S.A. verboten hatte, Brot an Juden zu verkaufen, brachte es seinem alten jüdischen Kunden des Nachts, heimlich, über das Dach, und während er früher nicht viel darüber nachgedacht haben wird, was es damit auf sich habe, tagaus, tagein Brote zu verkaufen: Jetzt dachte er darüber nach, und es gehörte Mut dazu, es an jene zu verkaufen, die aus der Gesellschaft ausgestossen waren.