Anonymes Schreiben aus Braunschweig an die Reichskanzlei und Ministerien
Ein NSDAP-Mitglied protestiert am 26. November 1934 anonym bei den Ministerien in Berlin gegen den fortwährenden Boykott jüdischer Geschäfte in Braunschweig:
Im Namen der Angestellten der jüdischen Firmen Braunschweigs erbitte ich dringend Ihre Hilfe und Ihren Beistand.
Als alter Parteigenosse, der bei den ersten Kämpfen um die Macht treu und in steter Bereitschaft zu seinem Führer Adolf Hitler stand, klage ich die braunschweigische Regierung und den braunschweigischen Ministerpräsidenten Klagges als Saboteure der Reichsregierung an. Ich klage den Leiter der NS.-Hago der hiesigen Ortsgruppe an, daß sie in frivoler Weise Eingriffe in die braunschweigische Wirtschaft dulden und befürworten, ferner die braunschweigische Polizei und damit den Polizeipräsidenten, daß sie Ansammlungen vor jüdischen Schaufenstern und Besetzung der Eingänge der jüdischen Geschäftshäuser nicht verhindert haben.
Durch die Presse habe ich wiederholt erfahren, daß jeglicher offener Boykott jüdischer Ge schäftshäuser vermieden werden soll, jedes Einmischen irgendwelcher Organisationen in das deutsche Wirtschaftsleben haben Sie aufs entschiedenste abgelehnt. Was gedenken Sie aber zu tun, wenn trotz ihrer Anordnungen Schädlinge unserer nationalsozialistischen Idee und Weltanschauung, die sich Nationalsozialisten nennen, Maßnahmen ergreifen, die nur dazu angetan sind, Unruhe unter der Bevölkerung Braunschweigs zu entzünden? Fünfhundert Angestellte in jüdischen Firmen zittern in Braunschweig um ihr Brot. Fünfhundert Angestellte und ihre Familien denken tagein tagaus daran, daß die Schaufenster ihrer Betriebsführer von verantwortungslosen Elementen wieder eingeworfen werden können, wie im vorigen Jahre unter der Anführung des Stadtrates Ammen ca. 60 große Schaufensterscheiben zertrümmert wurden. Sollen sich die Angestellten der jüdischen Geschäftshäuser und Parteigenossen gegen diese Provokateure zur Wehr setzen und zur Selbsthilfe greifen? Sollen sie Verräter einer Sache sein, für die zahllose unserer Parteigenossen in jüdischen Betrieben gekämpft haben, um von denen verhöhnt zu werden, die ihren Nationalsozialismus erst nach der Revolution entdeckt haben? Sollen sie diesen Schmarotzern vor Augen halten, was unser Führer von einem wahren Nationalsozialisten verlangt?
Positive und offene Kritik an den Maßnahmen der heimischen Führer ist verboten. Wohin sollen wir uns aber wenden, um Recht und Gerechtigkeit in der Sache unserer in jüdischen Geschäftshäusern beschäftigten Parteigenossen zu erlangen? Arbeitsfront, Gericht und Landesregierung sind unseren Bitten nicht zugänglich. In höchster Not und höchster Eile wenden wir uns an Sie.
Von Vorfällen, die sich in der Zeit vom 10. zum 24. November 1934 ereignet haben, berichte ich Ihnen einige. Eine Umfrage bei den Angestellten der jüdischen Geschäftshäuser würde nicht nur die Wahrheit der Ereignisse bestätigen, sondern würde Dinge zu Tage fördern, die nur in Braunschweig, dem Schmerzenskind unseres Führers, möglich sind. Aus der Art der Darstellung werden Sie ersehen, daß ich Ihnen Tatsachen berichte, die objektiv nicht zu widerlegen sind. Mitglieder der NS.-Hago u. a.
der Inhaber des „Cafe Hintze,“ Hulfäutchenplatz
der Inhaber der Firma Schmidt, vor der Burg
der Schuhmacher Wesche, Schützenstraße
der Kaufmann Faustmann, Hutfiltern
der Kreisleiter der NS.-Hago Deuter
der Ortsgruppenleiter der NS.-Hago Brinkmann
der Inhaber der Firma Schuhkönig Sack
der Malermeister und Sturmführer Bauermeister, Parkstr.
haben sich vor dem Kaufhaus Adolf Frank, Schuhstraße, einem der angesehensten Kaufhäuser unserer Stadt, an mehreren Abenden der oben erwähnten vierzehn Tage aufgestellt und die herauskommenden Käufer mit den unflätigsten Worten belegt, so daß ein großer Teil der Kunden nicht wagte, in der Hauptgeschäftszeit dort zu kaufen. Angehörigen unserer Wehrmacht wurde das Hoheitsabzeichen abgerissen, Forsteleven mußten auf Wunsch eines NS.-Hago-Mitgliedes einem diensthabenden Polizeibeamten ihre Personalien geben. Flieger unserer Militärfliegerschule durften das Geschäftshaus nicht betreten. Arbeitsmänner wurden verhöhnt. Alten Frauen wurde der Eintritt verwehrt. Mit roter Ölfarbe und scharfen Säuren haben die postierenden NS.-Hagoer die Schaufenster gekennzeichnet, daß das Geschäftshaus in jüdischen Händen ist. Aber damit nicht genug. Am Sonnabend, dem 24. November 1934, als sich die Provokateure vor dem Geschäftshaus versammelten und eine drohende Haltung einnahm [en], waren die Inhaber gezwungen, schon vor der Zeit ihr Geschäft zu schließen. Friedliche Käufer, die sich keiner Schuld bewußt waren, wurden mit grölenden sarkastischen Bemerkungen empfangen, wie z. B. Kauft deutschen Christbaumschmuck beim christlichen Frank.
All diese schmutzigen Angriffe auf Kunden jüdischer Geschäftshäuser, denen wir unser Brot und damit unsere Existenz verdanken, setzten nach der Versammlung des Frankenführers Julius Streicher ein, der in seiner Rede betonte, daß er den Anordnungen der Reichsregierung in Bezug auf Geschäftshäuser nicht folgen werde und mache, was er wolle.
Die Angestellten der jüdischen Firmen stehen am Ende ihrer Kraft. Die tägliche Sorge um ihre Existenz zermürbt sie. Jeden Tag müssen sie gewärtig sein, daß die jüdischen Geschäfte auf Drängen gewissenloser Denunzianten geschlossen werden. Sie sind machtlos gegen diese Willkür-Eingriffe, die gesetzlich geschützt werden. Gibt es denn in unserem neuen deutschen Reiche keine Gerechtigkeit mehr?
Als Parteigenosse habe ich keine Veranlassung, diesen Brief der Auslandspresse zuzuleiten. Als Mitglied einer Volksgemeinschaft fordere ich aber, daß man dieses schreiende Unrecht sühnt. Veranlassen Sie, daß jeglicher Boykott jüdischer Geschäftshäuser unterbleibt, dann haben Sie an dem großen Ziel, das sich unser Führer gesteckt hat, mitgearbeitet, allen Volksgenossen Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten.
Heil Hitler
Ein alter Parteigenosse.