Bericht der Reichsstelle für das Auswanderungswesen
Die Reichsstelle für das Auswanderungswesen informiert am 29. August 1934 über Stand und Probleme der jüdischen Emigration aus Deutschland im zweiten Quartal:
Betrifft: Stand der Auswanderungsbewegung im 2. Kalendervierteljahr 1934 (II/34). Berichterstatter. Ministerialrat Dr. Müller.
Mitberichterstatter: Regierungsrat Flemke.
Die Tätigkeit der Auswandererberatungsstellen weist gegenüber dem 1. Kalendervierteljahr 1934 (I/34) eine geringe Zunahme auf. Die Zahl der Ratsuchenden betrug 20 437 gegenüber 20325 in I/34 (= plus 0,45 %). Die Gesamtzahl der Anfragen ging von 26 625 in I/34 auf 26 434 im Berichtsvierteljahr zurück.
Von den Ratsuchenden stammten 40,4 v. H. aus Preußen, davon rund ein Viertel aus Berlin und fast ein Fünftel aus dem Rheinland. Aus Bayern waren 12,84 v. H. und aus dem übrigen Reich 41,82 v.FF. Davon entfielen auf Württemberg 15,14 v. H. und Baden 6,80 v. FF., also mehr als die Hälfte. Auf das Ausland entfielen 4,94 v. H. der Ratsuchenden.
Die Gesamtzahl der Ratsuchenden liegt nur ganz wenig höher als die im gleichen Berichtsvierteljahr 1933 und um rund ein Zehntel höher als in II/32.
Wurde für IV/33 und I/34 über ein Nachlassen des jüdischen Auswanderungsdranges berichtet, so trat im 2. Kalendervierteljahr 1934 eine neue Belebung des jüdischen Auswanderungswillens ein.
Die Ursachen für diese Zunahme, die insbesondere von den Beratungsstellen Berlin, München, Frankfurt und Hamburg gemeldet wurden, sind verschieden.
Die Ariergesetzgebung des vergangenen Jahres hatte zunächst alle diejenigen Juden betroffen, die im öffentlichen Dienst standen oder deren wirtschaftliche Existenz irgendwie von der öffentlichen Hand abhängig war, nicht dagegen die rein kaufmännischen Kreise, bei denen die Vorschriften des öffentlichen Dienstes keine Anwendung finden. Aber auch diese Kreise wurden allmählich von der geistigen Umstellung des deutschen Menschen, wenn auch langsamer, berührt, dadurch daß die Bevölkerung in stärkerem Maße die wirtschaftlichen Beziehungen zum Juden ablehnte; dies zeigte sich auch bei dem Rückgang der Tätigkeit der jüdischen Ärzte und Rechtsanwälte, die nach der neuen Gesetzgebung ihre Tätigkeit weiter ausüben konnten. Die Beratungsstelle Berlin erlebte gegen Ende Mai einen ganz ungewöhnlichen Ansturm von jüdischen Besuchern. Sie glaubt, diese Verstärkung des Auswanderungsdranges der Berliner Juden auch auf die Rede des Herrn Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda vom 11. Mai d. J. im Sportpalast zurückführen zu können.
Auch die immer noch in vielen Zielländern der Juden anhaltende gute Aufnahmebereitschaft hatte eine Stärkung der Auswanderungsneigung zur Folge. Insbesondere wurden die Beziehungen der deutschen Juden zu den nach Palästina, Südafrika und Nordamerika Ausgewanderten enger. Verwandte und Freunde zogen ihre Verwandtschaft und Bekanntschaften nach. Jüdische Eltern suchten in erster Linie für ihre Kinder im Ausland ein Unterkommen und blieben selbst noch in Deutschland zurück.
Vereinzelt wurde die Zunahme der Auswanderungsneigung der Juden gegenüber dem Vorvierteljahr auf rund ein Drittel geschätzt.
Während die Auswanderung der Juden bei ihrem Beginn off überstürzt war, erfolgte sie jetzt trotz des verstärkten Andrangs in geordneter und überlegter Weise. Alles war bei den hervorragenden Verbindungen der Juden und bei der großen Hilfe von Verwandten und Bekannten in den Zielländern bis in die kleinsten Einzelheiten vorbereitet. Berufsumstellungen waren sehr häufig. Landwirte und geschulte Handwerker, die unter den Juden wenig vertreten sind, hatten leichtere und bessere Fortkommensmöglichkeiten wie Angehörige des Handelsstandes und der freien Berufe.
Umschulungsmöglichkeiten für aussichtsreichere Berufe sind sowohl in Deutschland als auch in den angrenzenden Ländern sehr zahlreich entstanden. Sie wurden von den wohlhabenden Kreisen auch für [eine] länger dauernde Ausbildung in Anspruch genommen. Die jüdischen Organisationen in allen Teilen der Welt bemühten sich mit besonderer Sorgfalt und im allgemeinen mit gutem Erfolg, die Reibungen, die durch die Zuwanderung ihrer Rassegenossen in unterschiedlicher Stärke aufgetreten waren, zu mindern. So wurde mit großem Nachdruck in den neuen Zielländern die Ansicht verbreitet, daß der Zuzug der Juden, insbesondere aus Deutschland keine Last, sondern im Gegenteil einen wirtschaftlichen Vorteil bedeuten würde, durch den vermehrte Arbeitsgelegenheiten geschaffen würden. Besondere Schwierigkeiten bereitete den jüdischen Organisationen die Unterbringung der jüdischen Intellektuellen. Aber auch hier wird über gute Erfolge berichtet. Bisher sollen 6-700 Hochschullehrer und über 1.500 Studenten von insgesamt 7.000 Studenten, die die deutschen Universitäten verlassen haben sollen, ins Ausland gegangen sein. Auf möglichst viele Länder suchten die jüdischen Organisationen die überreiche Zahl von Akademikern, Angehörigen freier Berufe und Studenten zu verteilen.
Das Hauptzielland der jüdischen Auswanderer ist wieder Palästina geworden. Das wirtschaftliche Aufblühen Palästinas hielt im Berichtsvierteljahr an. Viele neue Pflanzungen wurden angelegt. Von einem lebhaften Fortschreiten der industriellen Anlagen wurde berichtet. Das Baugewerbe konnte die Nachfragen nach Wohnungen immer noch nicht befriedigen. Von einem großen Mangel an jüdischen Arbeitern wurde in der jüdischen Presse berichtet, so daß nicht nur bei den Arbeiten in den Städten, sondern auch bei den Plantagen der Juden viele arabische Arbeiter verwendet werden mußten.
Mehrfach wurde von den Beratern über eine Zunahme der Beratungstätigkeit im Verhältnis zur Gutachtertätigkeit berichtet. Die Ausstellung der Devisengutachten bereitete den Beratungsstellen wiederum viel Arbeit.
Nach dem Bericht der Beratungsstelle Frankfurt a. M. vollzog sich Ende Juli die Transferierung der Beträge über Sonderkonto I derart, daß etwa 65 v. H. der bewilligten Summe nach vier Monaten und der Rest nach 5 V2 bis 6 Monaten in Palästina zur Auszahlung gelangten und zwar mit einem Verluste von 5 bis 6 v. H., wovon 1 v. H. in Reichsmark an die Paltreu gezahlt werden konnte.
Von den Beratungsstellen Berlin, München, Köln, Hamburg, Breslau und Dresden wurden im zweiten Kalendervierteljahr 1934 insgesamt 1.709 (gegenüber I/341119) Gutachten ausgestellt und 20,3 Mill. RM (gegenüber 11,5 Mill. RM in I/34) zur Freigabe befürwortet, d. s. je Auswanderer durchschnittlich abgerundet 11.900 RM (gegenüber 10 200 RM in I/34). Immer wieder wird von den Beratungsstellen auf den krassen Gegensatz zwischen jüdischen und arischen Auswanderungswilligen hingewiesen. Bei den Juden fallen die großen Reichtümer und bei den Ariern die geringen Mittel auf, die zur Gründung einer neuen Existenz im Ausland zur Verfügung stehen. Bei einem großen Teil der arischen Auswanderungswilligen sind noch nicht einmal die Mittel für die Reisekosten vorhanden, so daß eine Verfolgung ihrer Auswandererpläne mangels Mittel aufgegeben werden mußte. Jüdische Auswanderer hingegen lassen, abgesehen von der Mitnahme beträchtlicher Vermögen zur Existenzneugründung, in vielen Fällen noch große Vermögen in Deutschland zurück.
Der Gesellschaft für Siedlung im Auslande konnten wiederum mehrfach geeignete Auswanderungswillige für Terra Nova bei Castro zugewiesen werden. Nach Erdteilen betrachtet, ergab sich folgendes Bild der Nachfragen: Amerika hatte gegenüber I/34 einen stärkeren Rückgang mit seinen 29,7 v. H. der Anfragen zu Gunsten von Asien, dessen Anteil von 9,74 auf 11,69 v. H. stieg, zu verzeichnen. Die Zahl der Anfragen über Europa mit 27,95 v. H., Afrika mit 7,02 v. H. und Australien mit 0,71 v. H. blieb gegenüber I/34 fast unverändert.
Von den 7.852 Auskünften (gegenüber 8.848 in I/34), die über Lebens- und Ansiedlungsverhältnisse im Erdteil Amerika eingeholt wurden, entfielen auf die Vereinigten Staaten von Amerika 2.202 (gegenüber 1.576 in I/34), Kanada 262 (324); auf die mittelamerikanischen Länder 207 (224), davon Haiti und die Dominikanische Republik 19 (7), sowie Cuba und P[ue] rto Rico 7 (15); auf die südamerikanischen Länder 5.181 (6.724), davon Brasilien 3.533 (4.815), Argentinien579 (644),Paraguay325 (311), Chile 206 (227),Uruguay 81 (76), Columbien 78 (95), Bolivien 54 (106), Venezuela 44 (70), Peru 36 (54) und Ekuador 20 (33).
Die Steigerung der Nachfrage über die Vereinigten Staaten ist auf die erleichterte Erlangung der Einreisegenehmigung für Juden zurückzuführen. Nur vereinzelt haben auch arische deutsche Reichsangehörige von dieser Erleichterung Nutzen ziehen können.
Von der Frankfurter Beratungsstelle wurde besonders darauf hingewiesen, daß auffallend zahlreich Studenten oder junge Akademiker mit bestandenem Staatsexamen über die Vereinigten Staaten Erkundigungen eingezogen hatten. Der Prüfungsausschuß für Ärzte an der Universität in New York schrieb in einem Briefe, die einzig nennenswerte Schwierigkeit für deutsche Ärzte, die Genehmigung zur Eröffnung einer Praxis im Staat New York zu erlangen, läge bei den Einwanderungsbehörden. Falls jemand ordnungsgemäß eingewandert sei, der das Diplom einer anerkannten deutschen Universität hätte und der wenigstens 5 Jahre praktisch tätig gewesen sei, so könnte er die Anerkennung seines deutschen Diploms im Staat New York ohne weiteres Examen bekommen. Ein Student im Reed College in Portland/Oregon wies seinen Freund auf die Möglichkeit eines billigen Studiums bei großer Sparsamkeit hin. Der Student könne an den meisten amerikanischen Universitäten nebenher etwas verdienen.
Die verwandtschaftlichen, freundschaftlichen und guten geschäftlichen Beziehungen der alten wohlhabenden Juden deutschen Volkstums zu den Bewohnern der Vereinigten Staaten, die judenfreundliche Einstellung der amerikanischen Regierung und das große Land boten trotz der allgemeinen Depression Einwanderern mit etwas Kapital viele Erwerbsmöglichkeiten. Hierzu kamen die hervorragend geleiteten jüdischen Hilfsorganisationen. So ist es leicht zu erklären, daß die Vereinigten Staaten nach Palästina das Hauptzielland der jüdischen Auswanderung geworden sind.
Der Rückgang der Nachfragen über Brasilien, das immer noch das meist gefragte Auswandererland ist, ist vermutlich auf die Mitteilungen in der Presse über die Kontingentierung der Einwanderer zurückzuführen. Auch jüdische Auswanderungswillige, insbesondere Emigranten, die in den europäischen Zielländern, Frankreich, Belgien und Holland, Enttäuschungen erlebt hatten, hatten sich im Berichtsvierteljahr häufiger wie vorher über Brasilien erkundigt. Nach wie vor war jedoch Brasilien, Paraguay und Nordargentinien das fast ausschließlich von Ariern begehrte Zielland.
Von den europäischen Zielländern, über die 7.388 Auskünfte erteilt wurden, hielten die Niederlande wie in I/34 die erste Stelle mit 1.276 = 4,83 v. H. aller Anfragen. Den Hauptanteil der Auswanderer nach den Niederlanden bildeten die Hausangestellten, ihre Anstellungsaussichten hatten sich hier bedeutend gebessert, weil das früher so starke Angebot aus Deutschland nachgelassen hat.
Die Nachfragen über Frankreich mit 973 hielten sich auf fast gleicher Höhe wie im Vorvierteljahre. Die jüdischen Emigranten gaben ihren großen Enttäuschungen in Frankreich, wo die Lage der mittellosen Emigranten infolge der ausbleibenden, ursprünglich reichlichen Unterstützungen immer schlimmer wurde, dadurch sichtbaren Ausdruck, daß sie nach Palästina, Nordamerika und Südafrika und auch in geringer Zahl nach Brasilien weiterwanderten. Sie forderten zum Teil die Bewilligung von Devisen nach.
Die Nachfragen über England mit 950 (gegen 955 in I/34) hielten sich auf der seit mehreren Berichtsvierteljahren beobachteten Höhe. Die Anfragen über Belgien (257), Norwegen (74) und Finnland (48) waren ganz wenig gestiegen, die über Schweden (176), Dänemark (125) und Luxemburg (71) unbedeutend zurückgegangen.
Die Zahl der Anfragen über Mittel- und Südeuropa mit 3.050 gegenüber 3.064 in I/34 war nur unbedeutend verändert. Italien, Schweiz, Tschechoslowakei und Deutsch-Österreich waren ein wenig stärker als im Vorvierteljahr gefragt.
Die Anfragen über Osteuropa mit 388 sind gegenüber 378 in I/34 fast gleich geblieben. Rußland (66), Estland (5) waren weniger, Polen (158), Litauen (80) und Memelgau (79) waren etwas stärker gefragt.
Die Zahl der Anfragen über Asien ist von 2.594 = 9,74 v. H. in I/34 auf 3.089 = 11,69 v. H. gestiegen.
Die starke Mehrung geht ausschließlich auf die Mehrung der Nachfragen über Palästina von 1.795 = 6,74 v. H. auf 2.425 = 9,17 v. H. aller Anfragen zurück. Die übrigen asiatischen Länder sind gegenüber I/34 wenig verändert gefragt.
Von den 1.856 Anfragen über Afrika entfielen 989 auf Südafrika (und zwar 562 auf Britisch-Südafrika und 427 auf das ehem. Deutsch-Südwestafrika). In Südafrika zeigten die Juden gleichen Eifer, ihren Rassegenossen zu helfen wie in Amerika, obwohl die verwandtschaftlichen Beziehungen nach dort geringer waren. Die jüdischen Hilfsorganisationen traten hier in den Vordergrund und boten weitgehende Hilfe für die Erlangung von Arbeitsgelegenheiten an. Für das ehem. Deutsch-Ostafrika zeigte sich fast gleiches Interesse wie im Vorvierteljahr. Die Zahl der Anfragen betrug 443 statt 474.
Die Auskünfte über das ehem. Deutsch-Kamerun stiegen von 44 in I/34 auf 77.
Die Zahl der Anfragen über Australien mit Neu-Seeland und Ozeanien betrug 187 gegenüber 180 in I/34.
Die Anfragen über nicht bestimmte Länder betrugen 3.056 = 11,56 v. H. aller Anfragen gegenüber 2.885 = 10,84 v. H. in I/34.
Die Reihenfolge der Ratsuchenden nach ihrer Berufszugehörigkeit hat sich gegenüber dem Vorvierteljahr nur ganz wenig geändert. Die Angehörigen der Berufsgruppe Land- und Forstwirtschaft sind von ihrer bisherigen dritten an die vierte Stelle gerückt.
Die tatsächliche überseeische Auswanderung Deutscher über deutsche Häfen betrug im 2. Kalendervierteljahr 1934 2.953 Personen gegenüber 2.441 Personen in I/34 und 1.990 Personen in II/34.
Davon reisten
über Bremen über Hamburg zusammen
April 357 590 947
Mai 526 587 1.113
Juni 444 449 893
II/34 zusammen 1.327 1.626 2.953