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Chronik und Quellen
1934
Januar 1934

Memorandum der Reichsvertretung der deutschen Juden

Memorandum der Reichsvertretung der deutschen Juden vom Januar 1934 an die Reichsregierung über die Situation der jüdischen Bevölkerung:

Der Reichsregierung überreicht von der Reichsvertretung der deutschen Juden Berlin, im Januar 1934

Als Manuskript gedruckt, Nr. 16. Verantwortlich: Reichsvertretung der deutschen Juden. Druck: Max Lichtwitz, Berlin.

Während das ganze deutsche Volk von der Reichsregierung zur Erneuerung des Vaterlandes angerufen wird, lastet auf den deutschen Juden - die in Deutschland und deutscher Kultur verwurzelt sind - seelische und sachliche Bedrängnis. Jüdische Abstammung und Gemeinschaft, zu denen sich Geschlecht um Geschlecht mit ererbtem Stolze bekannt hat, werden herabgewürdigt und geschmäht. Jüdische Menschen, deren Lebensführung von keiner Seite angezweifelt wird, werden aus Amt, Beruf und Stellung gewiesen und über die davon betroffenen Familien kommt nur zu off tiefes wirtschaftliches Elend. Soweit aus Gründen der Staatsraison den deutschen Juden ein Opfer auferlegt wird, könnten ihnen vaterländische Hingabe und jüdische Würde Schweigen gebieten. Reden wird aber zur Pflicht, wenn es sich um das Dasein des deutschen Judentums handelt, wenn eine Grundlage unserer Religionsgemeinden zusammenzubrechen droht, wenn Maßnahmen gegen die deutschen Juden gerichtet werden, die nicht nur ihnen selbst, sondern auch dem Wohle Deutschlands entgegen sind. Darum unterbreitet die Reichsvertretung der deutschen Juden, in der die jüdischen Gemeinden und ihre Landesverbände zusammengeschlossen sind und die von dem Vertrauen der großen Organisationen des deutschen Judentums[1] getragen wird, der Reichsregierung das Folgende:

Durch die Gesetzgebung dieses Jahres wurden die Juden, von den bekannten Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich aus der Rechtspflege und den Ämtern in Reich, Staat, Gemeinden und sonstigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften entfernt. Das ist damit begründet worden, daß Juden in dem auf einer rassischen Grundlage neu aufzubauenden Reiche nicht staatshoheitliche Befugnisse ausüben könnten. Darüber hinaus wurde der Anteil der Juden an allen akademischen Berufen wesentlich eingeschränkt oder sogar aufgehoben. Für das Erwerbsleben dagegen hat die Reichsregierung, die an der Aufrichtung der deutschen Wirtschaft und ihrer Beruhigung arbeitet, in ihrer Gesetzgebung vom Arierprinzip abgesehen. Seine Uebertragung auf das Wirtschaftsleben würde nicht nur den deutschen Juden die Existenzmöglichkeit nehmen; auch Güter der deutschen Volkswirtschaft, wertvolle, an den Personen haftende, Handelsbeziehungen des In- und Auslandes würden schweren Schaden leiden. Durch zahlreiche Anordnungen von Reichs- und Landesstellen, von Parteiständen und Gemeinden, von Berufsvertretungen aller Grade, wird gleichwohl den Juden immer wieder die wirtschaftliche Betätigung als Arbeitnehmer und Arbeitgeber erschwert, in manchen Landesteilen und manchen Geschäftszweigen nahezu unmöglich gemacht. Wir überreichen in der Anlage I einige Belege. Sie sind nur ein kleiner Ausschnitt aus den letzten Monaten, aber schon sie geben ein deutliches Bild. Sie zeigen, wie die deutschen Juden, denen bereits die Gesetzgebung weitgehend ihre Plätze genommen hat, dort, wo sie in den freien Berufen bleiben durften, boykottiert werden, und wie nun auch versucht wird, sie aus Handel und Industrie, Handwerk und Landwirtschaft zu verdrängen oder auszuschließen. Verelendung, nicht nur Verarmung muß die Folge dieser Eingriffe in die Wirtschaft sein. Unverkennbar hat diese Entwicklung schon begonnen. Die Steuerkraft der deutschen Juden ist im Schwinden, die unmittelbar betroffenen jüdischen Gemeinden können ihren Aufgaben religiöser, sozialer und kultureller Fürsorge, die heute verstärkt an sie herantreten, kaum noch gewachsen sein; wird kein Wandel geschaffen, so ist ihr Erliegen kaum abwendbar. Da dies nicht im Sinne und nicht im Interesse des neuen Reichs liegen kann, wenden wir uns an die Reichsregierung um Abhilfe. Ihr wird es gelingen, mit den Erfordernissen des neuen Staates die Lebensmöglichkeit der deutschen Juden in Einklang zu bringen. Für diese ist Voraussetzung: Die unterschiedliche Behandlung zwischen arischen und jüdischen Erwerbstätigen möge in Zukunft unterbleiben. Jeder Druck zur Verdrängung oder Behinderung jüdischer Erwerbstätiger werde unterbunden, von welcher Seite auch immer er kommen möge.

Eng mit der eben behandelten Frage hängt die weitere zusammen, welchen Beruf die Juden ergreifen sollen, die in der Gegenwart schon erwerbslos sind. Abgesehen von den durch die Wirtschaftskrise arbeitslos Gewordenen kommen hier vornehmlich zwei Gruppen in Betracht: zunächst die Berufstätigen, die durch die Gesetzgebung oder den privaten Boykott aus den freien Berufen oder aus ihren Arbeitsstellungen entfernt worden sind; sodann die jungen Menschen, die jetzt, je mehr ihnen der Besuch der höheren Schulen versagt wird, um so mehr nach baldiger Ausbildung in einem Berufe verlangen. Wir sind uns bewußt, daß die bisherige Berufsschichtung der deutschen Juden, ihr Überwiegen in den akademischen Berufen und in den Großstädten ungesund war. Aus dieser Erkenntnis heraus hat sich die jüdische Jugend schon seit Jahren darum bemüht, diesem Mißstand, der von einer geschichtlichen Entwicklung mitbedingt war, abzuhelfen. Wesentliche Vorarbeiten haben eine umfassende Berufsumschichtung der deutschen Juden in den Weg geleitet. Der Wille der jüdischen Jugend zur körperlichen Arbeit jeder Art ist vorhanden. Aber ebenso muß auch die Bereitwilligkeit vorausgesetzt werden, sie in Berufsgruppen aufzunehmen, in denen sie bisher unter ihrem Bevölkerungsanteil vertreten waren. Auch hierzu erbitten wir die Hilfe der Regierung. Wir überreichen eine Anlage II. Sie zeigt, wie die Berufsstände des Handwerks und der Landwirtschaft den Zugang zur Ausbildung und zur Eingliederung jüdischer Menschen zu verriegeln suchen. Die jüdische Jugend müßte trotz aller unserer Erziehungsarbeit der Verzweiflung anheimfallen, bliebe ihr nicht die Hoffnung auf zukünftige Arbeit. Wir erwarten deshalb, daß grundsätzlich kein Beruf den Juden verschlossen werde, daß in dem reichsständischen Aufbau von Handwerk und Arbeiterschaft, Land- und Forstwirtschaft auch Juden ihre Ausbildung und Eingliederung erfahren.

Auch wenn dies, wie wir erhoffen, geschieht, so werden doch unter dem Zwange der gegenwärtigen Lage viele jüdische Menschen auswandern müssen.

Zwar ist der jüdische Anteil an der Bevölkerungsziffer des deutschen Reichs seit einem Jahrhundert im Absinken. Das Beispiel der beiden größten Länder sei herausgegriffen: In Preußen waren im Jahr 1816 1,2 % der Bevölkerung Juden, 1925 nur 1,06 %; in Bayern gab es 1818 noch 1,45 % Juden, 1925 zählte man 0,66 %. Selbst in den Großstädten liegt es nicht anders: Berlin hatte 1895 5,14 % Juden, 1925 4,29 %; Hamburg 1866 4,4 %, 1925 nur 1,73 %. Seither hat sich die Zahl der Juden weiter verringert.

Gleichwohl ist damit zu rechnen, daß viele deutsche Juden in Deutschland keinen Lebensraum mehr finden werden und abwandern müssen. Das deutsche wie das jüdische Ansehen erfordert, daß die Auswanderung planmäßig vorbereitet und geregelt werde. Das setzt voraus, daß schon im alten Heimatlande eine geeignete Berufsausbildung statthabe und daß mit Unterstützung der inländischen Behörden und der jüdischen Organisationen die Auswanderung in die Länder geleitet werde, die zur Aufnahme bereit sind und entsprechend vorgebildete Arbeitskräfte benötigen. Geschieht das, so wird der Auswanderer an neuer Stätte Anhänglichkeit dem Lande wahren, in dem seine Eltern und Vorfahren gelebt haben und er selber Erziehung und Ausbildung erhielt. Familienbande und kulturelle Zusammenhänge knüpfen alsdann auch wertvolle wirtschaftliche Verbindungen zur alten Heimat. Versteht der Auswanderer sein Fach, so wächst draußen die Achtung vor deutschem Können. Fällt er dagegen der Emigrantenfürsorge zur Last, so paart sich einem Herabsehen auf den Almosenempfänger nur zu leicht eine geringschätzende Abneigung gegen das Land, aus dem er gekommen ist. Wir bitten deshalb die Reichsregierung, auf dem Gebiet des Auswanderungswesens die Arbeit zu unterstützen, die wir und die hierzu berufenen Organisationen für die Auswanderung nach Palästina und anderen Ländern leisten.

Schwerer noch als alle wirtschaftliche Not lastet auf uns seelische Bedrückung. Die rassische Voraussetzung, auf die sich der nationalsozialistische Staat aufbaut, geht von dem Gedanken der Andersartigkeit seines jüdischen Bestandteiles aus. Den Vorwurf der Minderwertigkeit aber kann keine Gemeinschaft hinnehmen, die auf Ehre und Würde hält. Wir deutschen Juden müssen es in Deutschland erfahren, daß man uns zu diffamieren versucht. In der Anlage III sind nur wenige Beispiele zusammengestellt, aber jeder kennt zahlreiche. Wir wissen, daß Regierungs- und obere Parteistellen die rohe und beschimpfende Form solcher Äußerungen mißbilligt haben und verurteilen. Was wir deutschen Juden, vor allem auch um unserer Kinder willen, dabei empfinden, das im Einzelnen auszusprechen, verbietet uns unser Stolz. Auf eines weisen wir aber hin, weil ihm auch eine politische Bedeutung zukommt: In den Ländern, mit denen sich Deutschland im Ringen um seine Weltgeltung auseinandersetzen muß, leben Juden. Keine Greuelhetze trifft sie so, wie die Tatsache, daß aus deutschen Zeitungen und Kundgebungen eine Diffamierung ihres von ihnen hochgehaltenen Stammes und Glaubens zu ihnen dringt. Die Verletzung ist umso tiefer, wenn es sich nicht um gelegentliche Entgleisungen in dem Eifer des Wahlkampfes handelt, sondern um vorbedachte und wiederholte Äußerungen aus Tagen, in denen das Gemeinwesen als gefestigt erscheint, und innerhalb eines Staates, der mit der Macht über Mittel verfügt, die öffentliche Meinung zu überwachen und zu leiten.

Von welchem Gesichtspunkte immer diese Frage betrachtet werde, wir glauben der Erwartung Ausdruck geben zu dürfen, daß in Zukunft jede Diffamierung der jüdischen Gemeinschaft und Abstammung unterbleibe.

Wenn wir diese Darlegungen überreichen, so sind wir uns dessen wohl bewußt, von welcher Fülle der Aufgaben die Reichsregierung jetzt beansprucht ist. Wir haben uns deshalb auf das beschränkt, dessen Ordnung uns, auch um des deutschen Staates willen, unaufschiebbar erscheint. Darauf hinzuweisen, ist unsere Pflicht nicht nur gegenüber unseren Gemeinden, sondern ebenso gegenüber der Reichsregierung. Wir sind des gewiß, dem deutschen Vaterlande hierdurch zu dienen.

Im Januar 1934.
Die Reichsvertretung der deutschen Juden ßerlin-Charlottenburg, Kantstr. 158.

Anlage I

Maßnahmen gegen die Juden im Wirtschaftsleben

Inhaltsverzeichnis

1. Gesetzgeberische Maßnahmen.
2. Berufseinengung der zugelassenen jüdischen Rechtsanwälte.
3. Maßnahmen gegen jüdische Ärzte.
4. Ausschließung jüdischer Künstler.
5. Ausschluß jüdischer Pressephotographen.
6. Gegen jüdische Bücherrevisoren.
7. Zurücksetzung jüdischer Firmen bei Behördenaufträgen.
8. Bedarfsdeckungsscheine dürfen von jüdischen Firmen nicht in Zahlung genommen werden.
9. Gutscheine für Unterstützungsempfänger dürfen von jüdischen Firmen nicht angenommen werden.
10. Jüdische Radiohändler dürfen den „Volksempfänger“ nicht vertreiben.
11. Festanzug für die Mitglieder der Arbeitsfront. Ausschaltung jüdischer Firmen.
12. Oeffentlich-rechtliche Kreditinstitute kündigen Kredite jüdischer Schuldner.
13. Inseratensperre.
14. Arische Bezugsquellenverzeichnisse.
15. Aufforderung zum Boykott jüdischer Firmen.
16. Verbot bei Juden zu kaufen: Für Beamte.
17. Verbot bei Juden zu kaufen: Für Parteimitglieder.
18. Allgemeines Verbot, bei Juden zu kaufen.
19. Wer im jüdischen Geschäft kauft, wird angeprangert.
20. Juden ist der Zutritt zur Ortschaft verboten.
21. Ausschaltung der Juden aus dem Landhandel.
22. Maßnahmen gegen Juden im Mehlhandel.
23. Ausschluß der Juden aus dem Gerstenhandel.
24. Ausschaltung der Juden aus dem Hopfenhandel.
25. Maßnahmen gegen Juden im Tabakhandel.
26. Molkereigenossenschaften gegen Geschäftsverbindungen mit Juden.
27. Ausschaltung der Juden aus dem Viehhandel.
28. Ausschluß jüdischer Viehhändler von Viehhöfen und -märkten.
29. Ausschluß jüdischer Marktfahrer. Benachteiligung bei Zulassung.

Fußnoten

[1] Fußnote im Original: „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, Zionistische Vereinigung für Deutschland.“

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