Artikel in der C.V.-Zeitung
Am 23. Februar 1933 veröffentlicht die C.V.-Zeitung einen Artikel gegen antijüdische Propaganda auf den Straßen Berlins und in der NS-Presse:
Wem nützt das?
Neue judenfeindliche Hetze - Ritualmordlüge - Die „Protokolle“. Die „jüdische Hamsterparole“ und andere Verdächtigungen. Was sagen unsere Freunde?
L. H. [= Ludwig Holländer (1877-1936)] Am Kurfürstendamm und in der Tauentzienstraße in Berlin wird seit einigen Tagen eine Broschüre zum Verkauf ausgerufen: „Die Forderung der Stunde: Juden raus!“ Die Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar bedroht periodische Druckschriften mit dem Verbot (Abschnitt 2, § 9, Nr. 6), „wenn in ihnen eine Religionsgemeinschaft des öffentlichen Rechts, ihre Einrichtungen, Gebräuche und Gegenstände ihrer religiösen Verehrung beschimpft oder böswillig verächtlich gemacht werden“. Der Sinn dieses Paragraphen geht eindeutig dahin, Religionsgesellschaften und ihre Einrichtungen, die an sich schon durch das Strafgesetzbuch (§ 166) geschützt sind, aus dem politischen Tageskampf herauszuheben. Die Achtung vor der Religion soll auch von den Andersdenkenden heilig gehalten werden. Es kann nicht das Ziel des Gesetzgebers sein, diesen auch von uns bejahten Sinn der Notverordnung lediglich auf periodische Druckschriften zu beschränken. Es muß darum auf das äußerste befremden, daß ein bekanntes Mitglied der Nationalsozialistischen Partei, deren verantwortlicher Regierungsübernahme unmittelbar jene Notverordnung folgte, Dr. von Leers, eine Flugschrift verfaßt hat, die schwere Beschimpfungen nicht nur gegen das Judentum als angebliche politische Macht, sondern auch gegen die jüdische Religion enthält. Wir sind die letzten, die nach einer Zensur für Druckschriften schreien. Aber wir halten es für unsere Pflicht, darauf hinzuweisen, daß Schriften wie diese, „Forderung der Stunde“, Bürgerkriegs- und Pogromstimmung zu erregen geeignet sind, und daß ihre Verbreitung in diesen Tagen nicht nur für die Juden, sondern für die Gesamtheit des deutschen Volkes eine direkte Gefahr bedeutet. Auch wenn Herr Dr. von Leers in seinem Nachwort schreibt:
„Nicht, um den armen Juden Gewalt anzutun, sondern um einem herrschsüchtigen fremden Volk die Beeinflussungsmöglichkeit zu nehmen, nicht um Pogrome zu veranstalten, sondern um die landesschädlichen Ostjuden hinauszutun, die übrigen Juden als Fremde politisch und wirtschaftlich ungefährlich zu machen, kämpft der Nationalsozialismus gegen Juda“, schwächt er die Wirkung damit nicht ab.
Dr. von Leers wird den Vorwurf, daß er das Judentum als Religionsgemeinschaft verletzt, wahrscheinlich als üble Nachrede zurückweisen. Wir können es ihm aber aus seiner eigenen Schrift nachweisen. Er widmet ein großes Kapitel seiner Schrift angeblichen Talmudzitaten und dem angeblichen Ritualmordgebot. „Stundenlang“, so schließt er sein Kapitel, „könnte man noch Fälle jüdischer Ritualmorde aufführen, wo arme, unschuldige kleine Kinder von Judenteufeln geschlachtet und gemein zu Tode gequält worden sind.“ In Fettdruck fügt er hinzu: „Mütter, sorgt dafür, daß die jüdische Gefahr für eure armen Kinder aus dem Lande kommt.“
Das Reichsgericht hat wiederholt in Talmud-Prozessen dahin erkannt, daß die Behauptung, es gebe einen jüdischen Ritualmord, unsinnig sei. Aber selbst, wenn Dr. Leers mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts nicht vertraut ist, so hätte er, da er sich ja mit der Frage des Ritualmordes eingehend beschäftigt hat, auch die Gegenliteratur und die vielen Äußerungen führender christlicher Wissenschaftler lesen müssen, die ausdrücklich erklärt haben, daß es einen jüdischen Ritualmord nicht gibt. Er hätte wissen müssen, daß selbst ausgesprochene Judengegner von diesem Vorwurf abgerückt sind, und daß dieselben Blutbeschuldigungen von den Römern gegenüber den Christen, von den Chinesen gegen die europäischen Missionare, von den französischen Katholiken gegen die französischen Protestanten, kurz überall da erhoben worden sind, wo religiöse Minderheiten sich inmitten herrschender Anschauungen behaupten wollen. Er hätte des berühmten evangelischen Theologen Strack Werk „Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschen“ und die Sammlungen päpstlicher Bullen lesen sollen, die sich gegen solche Mordbeschuldigungen zur Wehr setzten. Dr. von Leers, der in Jahrhunderte zurückliegenden Fällen herumwühlt, hätte besser die Bulle des Papstes Paul III. vom 14. Mai 1450 zitiert, in der es heißt:
„Wir haben mißfällig vernommen, daß seit einigen Jahren gewisse Herren als heißspornige und, wie man sagt, tödliche Feinde derselben Juden, von Haß und Neid, oder, was mehr wahrscheinlich scheint, von Habsucht verblendet, damit sie das Hab und Gut selbiger Hebräer mit einem gewissen Anstand sich anzueignen imstande seien, ihnen fälschlich andichten, daß sie kleine Kinder umbringen, deren Blut trinken und andere verschiedene und mannigfache ungeheuerliche Verbrechen begehen, welche sich namentlich gegen unseren besagten Glauben richten - und in solcher Weise bemüht sind, die Gemüter der einfältigen Christen gegen sie aufzuhetzen, wodurch es geschieht, daß letztere häufig nicht bloß ihres Habes und Gutes, sondern sogar des Lebens in ungerechter Weise beraubt werden ... “ - oder jene Bulle des Papstes Innozenz IV. vom 25. September 1253, der die Verbreitung der Ritualmordbeschuldigung mit Exkommunikation bedroht. Er hätte die Urkunde vom Juli 1236 lesen sollen, in der der Hohenstaufe Kaiser Friedrich II. „ein für allemal“ verbietet, daß die Juden des Ritualmordes bezichtigt werden. Schließlich hätte er bei seinen Studien auch die Resolution des Orientalistenkongresses zu Rom vom Oktober 1899 finden müssen, die, auf Antrag des Kirchenrats Professor Kautzsch, einstimmig aussprach:
„Die Beschuldigung, daß jemals durch irgendwelche, für Anhänger der jüdischen Religion geltende Vorschriften die Benutzung von Christenblut für rituelle Zwecke gefordert oder auch nur angedeutet worden wäre, ist schlechthin unsinnig und des zu Ende gehenden Jahrhunderts unwürdig.“
Ein zweites wichtiges Moment zu seiner Titelforderung „Juden raus!“ entnimmt Dr. von Leers den „Protokollen der Weisen von Zion“. Er behauptet, diese „Protokolle“ seien völlig zu Unrecht angezweifelt und tatsächlich eine Zusammenstellung von Beschlüssen einer jüdischen Geheimkonferenz des Jahres 1897.
Es ist unnötig, auf das längst als Fälschung gebrandmarkte und selbst von judenfeindlicher Seite als solches anerkannte Buch näher einzugehen. Genug davon, wir müssen auf diese Dinge, die beschämend für das ganze deutsche Volk sind, hinweisen, weil wir es für unsere Pflicht halten. Wir sehen aber auch leider, wie wenig sich die fanatischen Judenhasser um tatsächliche Richtigstellungen kümmern, die wir treffen.
Am 18. Februar d. J. schrieb der „Angriff“: In Lübeck wurde der Jude und SPD-Führer Leber aus der Haft entlassen. Der Jude Leber hätte zur Ermordung des Marinesturmmannes P.-G. Brüggemann aufgefordert. Bereits in der letzten Nummer der „C.V.-Zeitung“ haben wir daraufhingewiesen, daß Leber nicht das geringste mit dem Judentum zu tun hat. Wozu wiederholt der „Angriff“ diese Behauptung? Nur, um das Volk gegen die Juden aufzuwiegeln? Nach der gleichen Methode bezeichnet er die berüchtigten Skandalaffären der letzten Jahre, die mit Judenheit und Judentum auch nicht das Geringste zu tun haben, fortgesetzt als jüdisch. Karl Marx, der als Mardochai bezeichnet wird, soll sein Werk „Das Kapital“ im Aufträge der internationalen jüdischen Freimaurerlogen angefertigt haben. Ein Unsinn, der dadurch, daß er immerfort wiederholt wird, nicht wahrer wird. So geht es mit allem.
Kopfschüttelnd betrachten deutsche Juden jene Ausgeburten einer tollkühnen Phantasie, die sich bis in die letzten Tage hinein in nationalsozialistischen Blättern finden! Das Wirtschaffsgeschehen der letzten 14 Jahre soll vorwiegend jüdischem Einfluß entsprungen sein, jüdische Menschen sollen als Vampire des deutschen Volkes Kriegs-, Inflations- und Deflationserscheinungen gefördert und ausgenutzt haben und schließlich auch an der Deutschland zerstörenden Wirtschaftskrise reich geworden sein. Der „Angriff' gar führt die Erhöhung der Schmalzpreise, statt auf Zollerhöhungen, auf eine jüdische Hamsterparole zurück. Der „Völkische Beobachter“ nennt uns „Wanzen“ und fordert unsere Vernichtung. Es lohne sich nicht, meinen viele Freunde, in diese Niederungen hinabzusteigen, jedes Wort der Auseinandersetzung sei überflüssig; denn wer so etwas schreibe, wisse, daß er nicht ernst genommen werde, wolle auch gar nicht ernst genommen werden. Man solle nicht Kraft und Geist an diese Elaborate verschwenden. So der selbstsichere Typ des kritischen, welterfahrenen deutschen Juden. Drüben, bis weit in die Reihen nationalsozialistischer Wählerschaft, das gleiche Urteil. Bedauern und Beschwerden der deutschen Juden seien zwar verständlich, aber als politisch erfahrene Menschen dürften deutsche Volksgenossen jüdischen Glaubens sich nicht erregen. Nichts werde so heiß gegessen, wie es gekocht würde, und man müsse zwischen überspitzten Phrasen der Volksversammlung und den wirklichen Zielen deutscher nationalsozialistischer Politik unterscheiden. Auch die Wanzenagitation werde abflauen, und deshalb sei kluge Zurückhaltung angebracht, nicht Protest.
Wir können diesem Rat nicht ohne weiteres folgen. Immer noch glauben wir, daß nicht Überschwang und Unüberlegtheit Redakteuren und Agitatoren das Wort eingeben, sondern wir müssen hinter Ton und Richtung jeder Agitation Absicht und Systematik suchen. Daß vor Erreichung des politischen Zieles judengegnerische Propaganda getrieben wurde, um die Massen zusammenzuhalten und ihnen den angeblichen Gegner zu symbolisieren, war uns bekannt. Daß auch nach Gewinnung der Macht in den Auslassungen offizieller Organe, wie des „Angriffs“ und des „Völkischen Beobachters“ der judenfeindliche Ton forte und fortissimo angeschlagen wird, muß uns stutzig machen. Was soll jetzt noch die Wanzenpropaganda, wo man doch wissen müßte, welche Probleme wirklich zur Debatte stehen. Das deutsche Volk will Arbeit und Brot, und es wünscht Lösung der echten Probleme, zu denen die sogenannte Judenfrage wirklich nicht gehört. Wir können uns mit der Zurückweisung jener ungeheuerlichen und niedrigen Angriffe nicht begnügen. Wir können nicht mit lässiger Handbewegung, wie es der frühere Reichsorganisationsleiter der NSDAP., Gregor Strasser, in einer Erklärung im „Fränkischen Kurier“ kürzlich getan hat, Auslassungen nationalsozialistischer Organe beiseiteschieben, weil Niveau des „Stürmers“ und die Person seines Herausgebers den Charakter der Angriffe von selber richten. Wir müssen bei Auslassungen politischer, wesentlicher, ja offiziell gewordener Organe wie des „Völkischen Beobachters“ und des „Angriffs“, die Frage „Wem zum Nutzen?“ stellen und die Gefahren aufzeigen, die aus dem widerspruchslosen Gewährenlassen solcher ungehemmten Kampfmethoden entspringen. Heut ist es nicht mehr möglich, eine derartige Kampagne als gleichgültige Äußerung irgendwelcher Journalisten oder Agitatoren abzuschütteln. Zündet der Funke und es entsteht Unglück, dann werden jene Kreise von der Verantwortung nicht freizusprechen sein, die das gehässige und unwahrhaftige Treiben kennen und es trotzdem gewähren lassen. Diese eindeutige Feststellung der Verantwortung ist wichtig.