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Chronik und Quellen
1935
November 1935

Die Gestapo Aachen berichtet

Die Gestapo Aachen berichtete über den Monat November 1935:

„NSV und NS-Frauenschaft haben mit der Winterarbeit begonnen und erzielen durch ihre Organisationen gute Erfolge. Es wird mir berichtet, dass andererseits auffallend viele Klagen von Leuten kommen, die sich als zu Unrecht von der Winterhilfe ausgeschlossen fühlen. Diese Leute kommen dann meistens zur Gemeindeverwaltung oder zur Fürsorgestelle. Das ist an sich zwar keine Seltenheit, denn auch bei der amtlichen Fürsorge gibt es vielfach Unzufriedenheiten unter den Betroffenen. Andererseits besteht aber in bezug auf das Winterhilfswerk doch der Eindruck, dass zunächst die Richtsätze für die Bedürftigkeitsprüfung zu niedrig sind. Da es sich um eine freie Hilfe handelt, müssten die Richtsätze doch immerhin wesentlich über den Richtsätzen der amtlichen Fürsorge liegen. Ferner führen viele Bedürftige Klage darüber, dass sie wegen anderer Gründe vom Winterhilfswerk ausgeschlossen seien, z.B. weil sie bei Juden gekauft hätten. Sie behaupten dann meist unter Anerbieten von Beweisen, dass dies durchaus nicht zutreffe und dass es sich hierbei lediglich um Verleumdungen von neidischen oder feindlich gesinnten Nachbarn handele.“

„Innerhalb der jüdischen Organisationen sind in letzter Zeit besondere Ereignisse nicht zu verzeichnen. Lediglich in Düren und Jülich fanden zwei Versammlungen der zionistischen Vereinigung statt, die zu Beanstandungen keinen Anlass gaben.

     Einzelne Juden machten sich im November allerdings wieder stärker bemerkbar. So musste der Jude Erich Zwiebel aus Alsdorf festgenommen und dem Richter vorgeführt werden, weil er Ehestandsdarlehensscheine in Zahlung genommen hatte. Als Geschäftsführer des Westfälischen Möbelhauses in Alsdorf war ihm eine derartige Erlaubnis nicht erteilt worden. Indess versuchte er das Verbot dadurch zu umgehen, dass er den Verkauf seiner Waren über ein Aachener Möbelgeschäft tätigte, das zur Entgegennahme von Ehestandsdarlehensscheinen berechtigt war, um auf diesem Wege doch einen Gewinnanteil zu erlangen. Fünf solcher Verkäufe hatte er bereits getätigt.

     Über den jüdischen Viehhändler Karl Salomon aus Dürwiss, Kr. Jülich, wurde Schutzhaft verhängt, weil er sich am 9.11.1935 während einer Kleinbahnfahrt von Dürwiss nach Eschweiler in einer sehr abfälligen Weise über die Beflaggung der Häuser geäussert hatte. Er stellte einem Kleinbahnwagenführer     jedenfalls aus Verärgerung über die Beflaggung   die von niedriger Gesinnung zeugende Frage: „Was ist los? Ist die Butter billiger geworden?“

     Ein anderer Jude wurde deshalb festgenommen, weil er versuchte, in Herzogenrath ohne Sichtvermerk die deutsch-holländische Grenze zu überschreiten.

     Wie gross immer noch der jüdische Einfluss im Handel ist, geht aus statistischem Material der Kreisbauernschaft Erkelenz hervor, nach dem in der Zeit vom 26. Oktober bis 21. November 1935 der Grossviehhandel zu 48% von Juden getätigt wurde, während am Kleinviehhandel nur 5% jüdische Händler beteiligt waren. Im jüdischen Einzelhandel soll allerdings der Geschäftsgang mehr und mehr zurückgehen. Dies trifft in erhöhtem Masse für die jüdischen Getreide- und Futterhändler zu, da diese vom Reichsnährstand nicht als Verteiler der Futtermittel eingeschaltet sind und der Getreidehandel allein bei der bestehenden geringen Händlerspanne sich nicht lohnt.

Bemerkenswert für den Einfluss der Juden im Handel ist auch die Heberolle der Synagogengemeinde in Aachen für das Jahr 1935, die das überraschende Ergebnis zeitigt, dass eine grosse Zahl der Juden sehr beträchtliche Summen als Einkommensteuer bezahlen. Einkommensteuern von mehr als 10.000,- RM sind unter den 305 aufgeführten steuerpflichtigen Juden nicht selten. Der Höchstbetrag an Einkommensteuern beziffert sich sogar auf 188.491,- RM! Da die Juden hauptsächlich Geschäftsleute sind, kann aus diesen hohen Einkommensteuern der Schluss gezogen werden, dass noch sehr viele Volksgenossen sich nicht ihrer Pflicht bewusst sind, in arischen Geschäften zu kaufen, vielmehr ihr Geld zum Juden tragen.

Verschiedentlich kam es auch im verflossenen Monat zu Einzelaktionen gegen Juden. So wurden einem Juden in Heinsberg drei Glasscheiben durch Steinwürfe zertrümmert und fast zur gleichen Zeit in demselben Ort einem anderen Juden ebenfalls die Scheibe an der Haustüre eingeworfen. Es konnte beobachtet werden, dass es sich bei den Tätern um SA-Männer handelte. Die Ermittlungen sind allerdings ergebnislos verlaufen.

In Langerwehe Bezirk Düren wurde nachts das Schaufenster eines jüdischen Geschäftshauses mit Teer beschmiert.

In Heinsberg Bezirk Geilenkirchen ist die gläserne Inschriftplatte eines Grabdenkmals auf einem jüdischen Friedhof beschädigt und 18 alte Grabdenkmäler umgeworfen worden.

In Langerwehe Bezirk Düren wurden an 6 verschiedenen jüdischen Geschäftshäusern Aufschriften mit roter Ölfarbe aufgemalt, die lauteten: Räuber, Schieber, Saujude, Itzig, die Juden sind unser Unglück, Juden raus, Viehschänder und sofort pp.

Derartige Vorkommnisse zeigen, dass immer noch nicht in allen Bevölkerungskreisen bezw. Parteigliederungen die nötige Disziplin in der Judenfrage herrscht, und es hier noch mancher Erziehung bedarf.

Im Gemeindeblatt für den Bezirk der Synagogengemeinde Aachen bringt der hiesige Rechtsanwalt Karl Löwenstein eine Übersicht über die Auswanderung Aachener Juden seit 1933. Mit Unterstützung des Gemeinde-Sekretariats und der Vereine hat er für Aachen eine namentliche Liste aller Personen zusammengestellt, die seit 1933 ausgewandert sind. Er hat darin nur diejenigen Auswanderer berücksichtigt, von denen angenommen werden kann, dass sie für die Dauer ihren Wohnsitz von Aachen verlegt haben. Dabei sind jedoch die Rückwanderer unberücksichtigt geblieben.

Seit dem 1.1.1933 bis zum 30.9.1935 sind der Aufstellung zufolge von den etwa 1 300 Gemeindemitgliedern insgesamt 293 aus Aachen fortgezogen, davon 158 ins Ausland, 107 in andere deutsche Orte, während von 28, also etwa 10% der Fortgezogenen, das Ziel der Reise nicht festzustellen war.

Das Nichtbekanntsein des Reiseziels der genannten 28 Personen wird darauf zurückgeführt, dass durch die überstürzte Auswanderung in der Zeit nach April 1933 die Abmeldung unterblieben ist. Es wird unterstellt, dass hiervon der grösste Teil ins Ausland verzogen ist. Die Gesamtzahl der ins Ausland Gewanderten beträgt also 172, das sind 13,2% aller am 1.1.1933 in Aachen ansässigen Gemeindemitglieder.

Von den Ausgewanderten, deren Reiseziel nicht bekannt ist, waren 62 Ostjuden, also 39%, während die Gesamtzahl der Ostjuden von den 1933 in Aachen lebenden Juden auf höchstens 12-15% zu schätzen ist.

Es sind ausgewandert nach:

Holland                                        58 (36,7%)

Palästina                                     37 (23,4%)

Belgien                                        17 (10,8%)

Frankreich                                  10 ( 6,3%)

England                                       9 ( 5,7%)

Polen                                           7 ( 4,4%)

Spanien                                       7 ( 4,4%)

Brasilien                                      4 ( 2,5%)

U.S.A.                                          3 ( 1,9%)

Italien                                          2 ( 1,3%

Ungarn                                        1

Tschechoslowakei                  1

Dänemark                                  1

China                                            1

 

In den einzelnen Jahren verteilte sich die Auswanderung auf die hauptsächlichen Länder wie folgt:

 

Land                         1933       1934       1935

Holland                                   32           12             14
Palästina                 10           12             15
Belgien                      3             2             12
Frankreich                 7                                 3
England                     3               4               2
Polen                         4                                 3
Spanien                    2               5
Brasilien                   2                                 2
Sonstige Länder       4               3               3
                                   67             38             54

 

Rechtsanwalt Löwenstein folgert, dass das Aachener Ergebnis nicht auf ganz Deutschland verallgemeinert werden könne. Es sei begreiflich, dass von Aachen als Grenzstadt das [Gros] der Auswanderung zunächst in die nahe gelegenen Länder Holland und Belgien und ferner Palästina ginge.

Nach Palästina wanderten 23,4% der Personen, deren Wanderungsziel bekannt ist, aus. Die Wanderung nach anderen Übersee-Ländern betrug 5,2%, während die Auswanderung in das europäische Ausland 71,4% betrug. Mit der Zahl der nach Palästina abgewanderten Juden dürfte Aachen dem Reichsdurchschnitt nahekommen. Nach den Feststellungen des Preussischen Staatspolizeiamtes sind bis zum Frühjahr 1935 80 000 Juden aus Deutschland ausgewandert, so dass sich diese Zahl bis Ende September auf etwa 100 000 erhöht haben dürfte.

Hinsichtlich des Altersaufbaus der Auswanderer bestätige die Aachener Statistik die Feststellungen der anderen Städte, dass der ganz überwiegende Teil der Auswanderer, nämlich 125 von 158, also 80%, im Alter von unter 40 Jahren wäre, während nur 33, also nur 20%, im Alter von über 40 Jahren waren. Da nach dem Altersaufbau der Gemeinde ein viel grösserer Teil der Gemeindemitglieder älter als 40 Jahre sei, ergebe sich, dass im wesentlichen gerade der jugendliche Teil ausgewandert sei, so dass durch die Auswanderung eine Vergreisung des deutschen Judentums eintrete.“

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