Das Jahr 1940
Das Jahr stand im Zeichen der militärischen Eroberungen der Wehrmacht in Europa, wo das Deutsche Reich im Zuge zweier aufeinanderfolgender „Blitzkriege“ von April bis zum Juni mit Dänemark, Norwegen, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und schließlich Frankreich sechs Staaten besetzte und unter seine direkte Herrschaft brachte. Höhepunkt hierbei war aus deutscher Sicht sicherlich der Abschluss des Waffenstillstandsvertrages mit Frankreich am 22. Juni in Compiègne.
Nahezu ganz Europa war nunmehr in den Kriegszustand versetzt, wobei alte Machtverhältnisse und politische Strukturen kurzerhand pulverisiert wurden. Das Weltmachtstreben Adolf Hitlers, der nun vielen als „größter Feldherr aller Zeiten“ galt, steuerte auf seinen Höhepunkt zu. Allerdings brachte das Jahr 1940 mit der gescheiterten „Luftschlacht um England“ und der dadurch unmöglich gewordenen Landung auf der britischen Insel auch einen ersten militärischen Rückschlag.
Innenpolitische Ereignisse und Veränderungen traten angesichts der auf große Resonanz stoßenden militärischen Erfolge weitgehend in den Hintergrund. Vorrangig ging es weiterhin darum, die „Heimatfront“ ruhig zu halten, Widerstands- und Sabotageakte zu unterbinden sowie die Lage in den neu besetzten Gebieten zu stabilisieren. Dabei bestimmte auch die wachsende Furcht vor Missstimmungen unter der Bevölkerung den arbeits- und sozialpolitischen Kurs des NS-Regimes, galt es doch auf eine immer stärker angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt zu reagieren. Nach 1,5 Millionen warten 1940 weitere 5,7 Millionen Wehrpflichtigen einberufen worden, was in Industrie, Handwerk, Handel und Landwirtschaft große Lücken riss und weitere massive Einschränkungen der arbeitsrechtlichen Bestimmungen sowie Dienstverpflichtungen nach sich zog. Einen stärkeren Arbeitseinsatz von Frauen lehnen die NS-Verantwortlichen aber aus ideologischen Gründen (noch) ab. Der Arbeitskräftemangel bestimmte auch die NS-Lohnpolitik. Um Missfallen entgegenzuwirken wurden die im Rahmen der Kriegswirtschaftsverordnung im September 1939 verfügten Restriktionen vielfach zurückgenommen.
In der Landwirtschaft versuchte man die Produktion insbesondere durch den Einsatz von zumeist polnischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen zu sichern. Nach dem Westfeldzug griff die deutsche Industrie dann auch verstärkt auf französische, belgische und niederländische Kriegsgefangene für den Einsatz in der Rüstungsproduktion zurück.
Lebensstandard und Versorgung der deutschen Bevölkerung konnten zwar – anders als im Ersten Weltkrieg - auf akzeptablen Stand gehalten werden, hatten aber naturgemäß dennoch unter den Ereignissen zu leiden. „Haushalten mit dem Vorhandenen“ lautete weiterhin die vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft ausgegebene Parole an der „Heimatfront“, an der die durchschnittlich zugeteilte Lebensmittelrationen pro Person und Tag nur noch zwischen 2.000 bis 2.300 Kalorien schwankten und damit lediglich den Grundbedarf eines Menschen sicherten. Allerdings flossen durch die „Blitzkrieg“-Erfolge erhebliche Zusatzmengen an Nahrung und Gebrauchsgegenständen ins Reichsgebiet.
Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Die jüdische Bevölkerung wurde unter dem Deckmantel der Kriegsereignisse durch immer aggressivere Restriktionen weiter entrechtet und zunehmend isoliert. In Lodz und Warschau entstanden Gettos, in Auschwitz wurde mit dem Bau eines Konzentrationslagers begonnen. Die deutsche Bevölkerung wurde parallel dazu mit antisemitischen Filmen wie „Jud Süß“ oder „Der ewige Jude“ auf noch weitergehende Maßnahmen eingestimmt.
Das tägliche Überleben wurde für die jüdische Bevölkerung in Deutschland seit der Jahreswende 1939/40 durch regelmäßige Kürzungen und Streichungen ihrer Lebensmittelrationen und anderer Zuteilungen zur stetig weiterwachsenden Mühsal. Eine zunehmende Zahl von Vorschriften reglementierte ihren Alltag bis ins kleinste Detail. Lebensmittelrationen wurden gekürzt, die sie ohnehin nur noch zu festgelegten Zeiten und in bestimmten Geschäften einkaufen durften. Auch der Bezug von Schuhe und Kleidung wurde für Juden stark eingeschränkt oder ganz untersagt. Dabei wussten die Betroffenen oftmals überhaupt nicht, was ihnen überhaupt noch erlaubt war und was nicht. Wenn solche Anordnungen und Verbote überhaupt noch veröffentlicht wurden, dann nun noch im Jüdischen Nachrichtenblatt, da alle übrigen jüdischen Zeitungen und Zeitschriften verboten worden waren.
1940/41 lebte rund 25 bis 30 Prozent der deutschen Juden von den ihnen verbliebenden, schnell abnehmenden Resten des eigenen Vermögens. Regelrechte Einkommen bezogen nur noch die wenigen Angestellten der jüdischen Organisationen und die zu Arbeitseinsätzen Verpflichteten. Alle übrigen waren in erster Linie auf die immer schwerer zu organisierende und zu finanzierende Unterstützung der jüdischen Gemeinden angewiesen.
Im September beeinträchtigte die „Verordnung zur Änderung und Ergänzung über Mietverhältnisse mit Juden“ die Wohnsituation vieler einschneidend. Insbesondere in Großstädten folgte dem eine Kündigungswelle, die die Privatsphäre der Betroffenen massiv und nachhaltig verletzte. So erzwungene Umzüge bedeuteten gerade für ältere Menschen ihre nur schwer erträgliche Entwurzelung. Manche sahen in dieser Situation nur noch den Ausweg, sich das Leben zu nehmen.
Noch schlimmer getroffen wurden aber jene, die im Jahr 1940 von ersten Versuchen einer Massendeportation erfasst wurden. Im Februar traf es die jüdische Bevölkerung in Stettin und Schneidemühl, im Oktober dann mehr als 6.000 in Baden und der Saarpfalz, die ohne Vorbereitungszeit über Nacht ihre Heimat verlassen mussten und ins Generalgouvernement bzw. nach Südfrankreich deportiert wurden.
Nachdem solche Massenabschiebungen dann zunächst aufgegeben worden waren, wurde der Arbeitseinsatz von Jüdinnen und Juden auf längere Sicht geplant. Bisher eher zu Gelegenheitsarbeiten eingesetzt, mussten sie ab Mai 1940 auch in der Industrie arbeiten. Zugleich wurde der Kreis der zur Zwangsarbeit Herangezogenen ausgeweitet. Alle jüdischen Männer zwischen 18 und 55 sowie die Frauen zwischen 18 und 50 Jahren waren nun meldepflichtig, unabhängig davon, ob sie Wohlfahrtsunterstützung bezogen oder nicht.
Neben solchen konkreten und direkten Eingriffen in ihre Lebensgestaltung dürfte den weitaus meisten Angehörigen der jüdischen Bevölkerung nur zu bewusst geworden sein, welche Gefahren vom erfolgreichen Westfeldzug der Wehrmacht für sie ausging. Für jene, die noch in Deutschland weilten, verringerten sich die Emigrations- und Fluchtmöglichkeiten in erschreckendem Umfang und Tempo, während jene, die sich in den westlichen Nachbarländern längst in Sicherheit gewähnt hatten, sahen sich nun plötzlich wieder in deutschem Einzugsgebiet und damit sämtlichen Gefahren ausgesetzt, der durch die aggressive Rassenpolitik des NS-Regimes drohte.