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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Erinnerungen an das Pogrom in Köln

Der 1890 geborene Bruno Kisch, Arzt und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Herz- und Kreislaufforschung, bereitete 1938 die Emigration seiner Familie vor und wartete sehnlichst auf sein Einreise-Visum in die USA. Im Dezember 1938 konnte Familie Kisch ausreisen. In seiner 1966 erschienen Autobiografie beschrieb er die damaligen Ereignisse:

„Nun waren alle Vorbedingungen erfüllt. Mein Gesuch um das mir zustehende Non-Quota-Visum ging sofort an das amerikanische Konsulat nach Stuttgart ab. (…) Trotz allen Drängens kam aus Stuttgart keine Antwort. Ich mochte Köln nicht verlassen, da man fühlte, dass nach der Ermordung von Herrn vom Rath etwas in der Luft schwebe, und es war das Verdienst meiner Frau, die in jener Zeit mir unendlich viele Wege zu Behörden, wo man überall stundenlang warten musste, abnahm, dass sie mir damals erklärte: ‚Es ist wichtiger, dass du persönlich nach Stuttgart fährst, um uns die Ausreise-Visa zu beschaffen, als dass du hierbleibst, um uns zu beschützen.‘

Ich ließ mich schließlich von der Richtigkeit des Arguments überzeugen, und am Abend des 9. November fuhr ich nach Stuttgart. Es war ein denkwürdiges Datum für mich, genau 24 Jahre nach der berüchtigten Schlacht bei Semendria, aus der ich wie durch ein Wunder gerettet wurde. Als ich früh in Stuttgart ankam, merkte ich die Folgen des Pogroms. Die Leute erzählten sich von verbrannten Synagogen, man sah Geschäfte mit zertrümmerten Fensterscheiben, ich rief sofort zu Hause an, was los sei, und erfuhr von meiner Frau, dass früh am Morgen, ohne dass sie eine Ahnung hatte, was vorgehe, unsere Freunde Wiemers gekommen seien, um unsere Kinder zu sich zu nehmen. In rührendster Weise haben sie nicht nur die Kinder für die nächsten Tage bei sich behalten, sie haben dafür gesorgt, dass die Kinder nur solche Nahrung bekamen, die sie nach den jüdischen Speisegesetzen essen durften, und als ich später nach Köln zurückkehrte, fand ich den Hausschlüssel von Wiemers vor, mit dem Bescheid, wann immer ich es für geraten halte, solle ich zu ihnen kommen, das Gastzimmer stünde mir zur Verfügung. Auch solche Freundschaftsdienste vergisst man ein Leben lang nicht. Meine Frau sagte mir aber auch, dass inzwischen die Gestapo dagewesen sei, um mich fürs Konzentrationslager abzuholen. Die Angabe meiner Frau, ich sei verreist, glaubten sie nicht, mussten sich aber nach gründlicher Hausdurchsuchung von meiner Abwesenheit überzeugen. Da ich wusste, dass meine misslungene Einsperrung zu Rache-Akten der Nazi an meiner Frau oder der übrigen Familie führen konnte, veranlasste ich sie, sofort beim Chef der Gestapo anzurufen und zu fragen, ob meine sofortige Rückkehr verlangt werde. Der Chef der Gestapo, dessen Name mir leider entfallen ist, war ein irgendwie nicht bösartiges Individuum und kannte mich von meinen verschiedenen Tätigkeiten in der Universität, im jüdischen Lehrhaus und als Direktor des Kuratoriums der Jawne persönlich. Er sagte, wenn auch in unwirschem Ton, meiner Frau, wenn man mich brauche, würde er es mich wissen lassen. Damit war mir, als ich eine Stunde später diese Nachricht erhielt, klar, dass man es nicht auf mich persönlich abgesehen hatte, und nun ging ich, entschlossen, unsere Visa zu erhalten, aufs amerikanische Konsulat. Es war ein Kampf, bevor ich mich zum Konsul durcharbeiten konnte. Denn, wie er mir zu meinem Erstaunen sagte, sein Personal war trotz des Ansturms von Gesuchen nicht um einen Mann verstärkt worden, und so häuften sich Briefe und Gesuche und Telegramme, die, wie ich mit eigenen Augen sah, uneröffnet in riesige Waschkörbe geworfen wurden, wo sie einfach liegen blieben und wo auch meine verschiedenen Briefe - wie ich später sah - seit Monaten uneröffnet lagen. Ich ließ mich auch vom Konsul nicht mit solchen Reden abweisen; ich hatte noch den Elan eines deutschen ordentlichen Universitätsprofessors und das Bewusstsein, dass unser aller Leben von dieser meiner Mission abhing. Ich schlug also mit der Faust auf den Tisch, erklärte ihm, das, was ich da sehe, wäre eine empörende Schlamperei, ich hätte nach amerikanischem Gesetz das Recht auf ein Non-Quota-Visum, da ich von einem College und einer berühmten Universität angefordert werde, und verlange, dass man solange nach meinem Brief suche, bis er gefunden sei. Ich war nachher oft selber erstaunt, woher ich trotz der Jahre der Naziverfolgungen noch die Energie zu einem solchen Auftreten aufbrachte, aber zu meinem Erstaunen hatte es Erfolg. Etwa zwei Stunden saß ich wartend da, dann kam der Vize-Konsul und erklärte mir strahlend, sie hätten meine Akte gefunden, ich hätte in der Tat ein Recht auf ein Non-Quota-Visum, und bei der Gelegenheit war es, dass er sich quasi als Entschuldigung über Mangel an Personal bei mir beklagte. Er sagte mir: ‚Sie können jetzt ruhig nach Köln fahren, die Sache ist erledigt, und sie bekommen in ein paar Tagen schriftlich die Zusage des Non-Quota-Visums.‘

Ich aber war inzwischen gewitzigt worden und sagte ihm: ‚Nein, mein Herr, ich werde diese Bestätigung jetzt sofort bekommen, und ich rühre mich von hier nicht weg, bevor ich sie habe. Denn andernfalls werden Sie meine Briefe wieder verlieren, und nochmals wochenlang zu warten, habe ich keine Zeit mehr.‘ Der Amerikaner versuchte, mich damit abzuweisen, dass Essenszeit sei, dass er und alle Beamten jetzt zum Essen gehen und erst in zwei Stunden wiederkommen würden. Ich verstand, dass diese Herren keinen Grund sahen, ihre Lunch-Zeit oder die Zeit des Tees abzukürzen, aber ich erklärte ihm: ‚Wenn Sie in zwei Stunden zurückkommen, werden Sie mich hier wartend finden.‘ Und so geschah es auch. Er ging ruhig zum Essen, kam nach zwei Stunden, die ich auf der Bank im Vorraum saß, wieder, und da er sah, dass ich nicht abzuwimmeln sei, schrieb er die Bewilligung des Non-Quota-Visums im Laufe von fünf Minuten aus, und ich hatte das lebenswichtige Dokument in Händen. Um die Pass-Visa zu holen, kam ich dann nach wenigen Tagen mit Frau und Kindern nochmals nach Stuttgart, und diesmal war die Angelegenheit, die uns rettete, in kurzer Zeit erledigt.

Als ich am 10. November glücklich die Bescheinigung meines Rechts auf ein Non-Quota-Visum in der Hand hatte, entstand die Frage, ob ich direkt nach Köln zurückfahren solle oder nicht. Ein neuerlicher Anruf in Köln ergab, dass in der Gegend der Kaesenstraße, in der unser Haus lag, alles friedlich und ruhig sei, und dass niemand von der Gestapo angerufen habe. Ich hielt es daher für richtig, noch einen Tag fern von Köln abzuwarten, wusste aber nicht recht, wie das zu tun sei. Der einzige Mensch in Stuttgart, den ich näher kannte, war der Internist Professor Hans Simmel. Ich besuchte ihn und erfuhr nun erst in Details, was sich alles zugetragen hatte. Simmel und seine Frau boten mir in der liebenswürdigsten Weise an, über Nacht bei ihnen zu bleiben. Doch schien mir das unter den gegebenen Umständen nicht sicher, weder für die Familie, in diesen Zeiten einen Fremden bei sich zu beherbergen, noch für mich. Auch ein Hotel schien mir keine sichere Herberge. Ich fragte Simmel also, ob es nicht irgendein kleines geeignetes Hotel außerhalb Stuttgarts gäbe, und er erinnerte sich einer Patientin, die in der weiteren Umgebung Stuttgarts eine Bäckerei und Konditorei betrieb und im Sommer auch Logiergäste aufnahm. Ich habe den Namen des Vorortes und der guten Leute längst vergessen. Es war ein reizendes Häuschen, im Walde eingeschneit. Die Frau war erstaunt, aber tat ihrem Arzt Professor Simmel gern den Gefallen, mich aufzunehmen. Ich verbrachte dort eine ruhige Nacht, und als ich am nächsten Mittag zu Simmel ging, um mich zu bedanken und zu verabschieden, erfuhr ich mit Entsetzen, dass in der Nacht die Gestapo eine Haussuchung gemacht und Simmel ins Konzentrationslager gebracht hatte, und dass in der gleichen Nacht sämtliche Stuttgarter Hotels und Bahnhöfe nach Juden abgesucht und die Gefundenen verhaftet worden und ins Konzentrationslager gekommen waren. Professor Simmel selbst, den ich nur noch einmal nachher sah, hat so schweren Schaden in der Zeit im Konzentrationslager erlitten, dass er jung gestorben ist. So hat mich die Vorsehung zum zweiten Mal an einem verhängnisvollen Novembertag geschützt. Ich fuhr nach Köln zurück.

In den nächsten Tagen war alles noch sehr gefährlich, und christliche Nachbarn riefen wiederholt an, dass man nach mir Ausschau halte, so dass ich noch einmal für zwei Tage verschwand. Diesmal nahm ich die Gastfreundschaft des außerhalb des Zentrums von Köln liegenden Hauses von Kollegen Professor Schmalenbach und seiner Frau an, die trotz der Gefahr, die für sie darin bestand, mich herzlichst willkommen hießen.

Was nun folgte, war nur der schmerzvolle Abschied von allem, was wir zurücklassen mussten."

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