Erinnerungen an das Pogrom in Köln
Der 1901 geborene Hans Schmitt-Rost[1], zwischen 1945 und 1957 Leiter des Nachrichtenamtes der Stadt Köln, erlebte das Pogrom in der Stadt mit. Darüber verfasste er 1958 einen Artikel der am 8. November im Kölner Stadt-Anzeiger veröffentlicht wurde. Darin heißt es:
„Im Polizeipräsidium hatte man Listen, nach denen ‚gearbeitet‘ wurde. Die Aktion lief noch in den Tag hinein, und die sichtbaren Folgen, zerschlagene Schaufenster, beschmierte Fassaden, demolierte Wohnungen jüdischer Familien und ganze Haufen zerstörter Waren ließen sich nicht ohne weiteres beseitigen. So wurde denn alles, so heimlich begonnen, am Tage offenbar und Köln von einem lähmenden Entsetzen erfüllt. (...)
Es kann nicht die Rede davon sein, dass die Menge in Köln in irgendeiner Weise applaudiert hätte. Das war gerade das Gespenstische, dass die Leute an den zertrümmerten Läden auf der Hohe Straße, in der Breite Straße und Schildergasse vorbeigingen und stumm und erschreckt taten, als ob sie nichts sähen. Es blieb auch keiner stehen. Noch immer kamen Trupps von Uniformierten, Eisenknüppel in den Händen, in den Augen den falschen Glanz der Fanatiker. Leute mit Parteiabzeichen, bürgerliche Naturen, die empört solche Gesellen zur Rede stellten, wurden verprügelt und niedergeschlagen. Ein anderer auch hätte die bewaffneten Berserker nicht anzusprechen gewagt.
Die Lawine war nicht aufzuhalten. Offiziell wurde so getan, als ob es sich um Idealismus handele. Von Plündern durfte keine Rede sein. Nur von ‚Vergeltung‘. Aber schon während man an den offen daliegenden Auslagen, Uhren, Kleidern, Ledersachen, vorbeiging, in einer Situation, die unwirklich zu sein schien, kamen Trupps grinsender Weiber, angestiftete Kinder dabei, die mit scheelem Blick hetzerischgemeine Reden führten, gierig darauf, hineinzugreifen in die Schätze, die jetzt ungeschützt einfach dalagen. Ein Beteiligter wurde später vorsichtig gefragt: ‚Wie habt ihr das bloß gemacht in der Nacht?‘ Er renommierte: ‚Zoetz de Kaß objemaht!‘ (...) Wenn es der Sinn von Terror ist, den Gegner, in diesem Falle das grundsolide und von der Macht der Gesittung tief überzeugte Köln, vor Entsetzen zu lähmen, so war das völlig gelungen. Köln war keine Nazistadt. Und so gab es sofort eine einzige Meinung unter den Menschen der Stadt. Wer so handelt, der muss die Partie verlieren, egal, was da noch kommen mag. Das Entsetzen löste eine lastende Schwermut ab, die uns bis 1945 nicht mehr verließ. Damals, am 10. November 1938, ahnten wir schon, dass die Vergeltung auf unsere Häupter herabprasseln würde.
Ein zweites Empfinden war Scham und ein allgemeines Mitleid mit den Juden. Man flüsterte sich zu: ‚Die ärm Jüdde!‘ Viele der Verfolgten und Misshandelten fanden Zuflucht bei ihren sogenannten ‚arischen‘ Mitbürgern. Kölner Hausfrauen, nachdem sie die Bescherung in den Straßen gesehen hatten, flüchteten weinend in die Cafés der Innenstadt. (...)
Die alte Frau Marcan aus dem bekannten Porzellangeschäft in der Schildergasse, selber unverletzt, stand verzweifelt vor einem Scherbenberg, jammernd: ‚Ach wär' ich doch gefahren, meine Kinder im Ausland waren immer hinter mir her, ich sollte doch kommen. Aber ich konnte mich von Köln nicht trennen.‘
Es muss um diese Zeit gewesen sein, dass ich auf dem Wallrafplatz den Schauspieler Rutkowski traf. Er brach in Tränen aus. Die Ausreisepapiere der Deutschen hatte er in der Tasche, aber die Amerikaner oder Engländer wollten ihm nicht die Einreise bewilligen. Er kam später im KZ um.
Für den 9. November war vormittags eine Pressebesichtigung am Aachener Weiher angesetzt, wo ein ‚Aufmarschgelände‘ hergerichtet worden war. Ich vertrat den alten Stadt-Anzeiger. Der Einladende, ein Kreisleiter oder so was, kam nicht. Er hatte nachts die Aktion geleitet. Morgens noch brannte die Synagoge in der Glockengasse. Sie brannte schlecht, denn auch Brandlegen will gelernt sein. Ich sah, wie Halbwüchsige Kultgeräte herausschleppten und zum Spott auf Autokühlern montierten. Sie müssen, wenn sie noch leben, heute 30 bis 40 Jahre alt sein. Schutzleute standen in der Nähe, untätig. (...)
Vom Dach eines Hauses am Kolpingplatz sah ich noch mittags, wie das Pack versuchte, die Synagoge, dieses Werk von Ernst Friedrich Zwirner, einem der Dombaumeister von Köln, abzumontieren. In maßloser, geradezu idiotischer Selbstüberschätzung kletterten ein paar Gestalten auf der Kuppel herum, sich des Sternes Davids an der Spitze zu bemächtigen. Einer soll dabei abgestürzt sein. Es misslang natürlich. Später wurde die Synagoge einfach abgebrochen. Das war Kölns erstes Trümmergrundstück.
Vor einem zerschlagenen Geschäft am Neumarkt stand ein SA-Mann mit Vollbart auf einer Leiter und schmierte groß mit Farbe das Wort ‚Jüdd‘ auf die Wand, während seine braunen Kumpane beifällig grinsten. Ein eitler Schwachkopf, der schon früher bei Aufmärschen als lächerliche Renommierfigur aufgefallen war. In einem eleganten Pelzgeschäft an der Brückenstraße hatten die Rollkommandos die Pelzmäntel mit Messern und Bajonetten zerfetzt. Das war ein ‚Irrtum‘. Das Geschäft gehörte gar keinem Juden. Später musste der Schaden ersetzt werden. Fanatiker pflegen blöde zu sein. Und die Kölner sind nicht dumm. So machte ein Hutgeschäft auf der Breite Straße seinen Laden idiotensicher mit dem Schild: ‚Ich bin ein rein arisches Unternehmen. Dora Meyer‘.
Was kein Mensch begreifen konnte, war die irrsinnige Zerstörung, die Maßlosigkeit. Es herrschte schon auf allen Gebieten Mangel. Und hier wurden Riesenwerte mutwillig vernichtet. Dem Volk hatte man die Formel eingetrichtert: Kanonen statt Butter. Sollte das nicht mehr gelten? So unernst waren die ‚Thesen‘ dieses Staates?
Am Nachmittag sah ich noch die Synagoge in der Roonstraße. Zwei, drei leere Schläuche führten über die Freitreppe ins Innere, von wo sich schmierige, schwarze Rinnsale über das Pflaster ergossen. Beizender Rauchgeruch in der Luft, genau der gleiche, den wir vier Jahre später so ausgiebig in unseren eigenen Häusern einatmen sollten. Die Mozartstraße und das umgebende Viertel, in dem viele Juden wohnten, glichen einem Schlachtfeld. Hier hatte man die Möbel der Juden kurz und klein gehauen und die Trümmer auf die Straße geworfen, sogar Klaviere und Flügel.
Der Atem aber stockte einem angesichts einiger zerfetzter Puppenköpfchen im Schrott. Man erfuhr von schrecklichen Judenmisshandlungen. In den nächsten Tagen wurden den Juden die Pässe abgenommen. Sie saßen vollends in der Falle.
Dann sah ich noch den Einzelgänger. Das war am Nachmittag des 9. November in der Neustadt. Es war das vielleicht schrecklichste Bild dieses schrecklichen Tages. Ein uniformierter Vater mit seinem Sohn. In den schon verletzten und von blutigen Lappen umwickelten Händen hielten sie Eisenstangen. Sie kamen von Exekutionen und stiegen gerade in ein Lampenlager in einen Souterrain. Hastig, bedrohlich, fürchterlich in ihrer Primitivität. Dann klirrte es. Eine Frau schrie. Das individuelle Verbrechen trug sich zu, von der Politik gedeckt. Fußgänger hasteten vorüber. Sie sahen nicht hin, aus Scham, aus Wut, aus Ohnmacht.
Aber was da geschehen war, am 9. und 10. November 1938, das haben auch die gewusst oder erfahren, die sich nicht schämten. Seit der Kristallnacht konnte in Deutschland kein Mensch mehr guten Glaubens sein oder sich naiv stellen.“