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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Erinnerungen an das Pogrom in Köln

Der 1908 geborene Herbert Liffmann verfasste 1987 einen Bericht mit seinen Erinnerungen an das Pogrom:

„Wir wohnten in der Richard-Wagner-Straße, einige Minuten von der Synagoge in der Roonstraße entfernt, ich sah den Rauch von der brennenden Synagoge, hörte das Geschrei von der Menge auf der Straße und das Klirren von Fensterscheiben. Ein jüdischer Nachbar hatte mir schon erzählt, dass der SA-Pöbel dabei war, jüdische Wohnungen zu zerstören und dass viele jüdische Männer verhauen und verhaftet worden seien. Wir erwarteten mit großer Angst den Moment, wenn die Reihe an uns käme. Unsere Putzfrau kam und sagte mit ausgewähltem Takt, es sei wohl nicht mehr nötig, bei uns in Zukunft sauber zu machen.

Es klopfte an der Tür, natürlich musste ich sie öffnen. Zwei SA-Männer standen vor der Tür. Meine Furcht brauche ich nicht zu erklären. Es ist meine Art, mehr Angst zu haben vor dem, was ich erwarte, als ich Angst habe, wenn das Erwartete wirklich geschieht. Die beiden SA-Männer waren erstaunlich höflich und begrüßten mich mit meinem Namen. Erst dann sah ich, dass sie beide Angestellte von Runge waren, die im Lager arbeiteten, über das ich die Aufsicht hatte. Ich hatte ein gutes Verhältnis mit ihnen, das sich jetzt bezahlt machte. Sie sagten mir, dass ihr Sturmtrupp auf unserer Straße sei, ich brauche jedoch nichts zu befürchten. Sie beide seien in der Lage, die SA von meiner Wohnung fern zu halten. Man kann sich meine Dankbarkeit vorstellen, die ich ihnen auch mit Erleichterung ausdrückte. Beim Herausgehen sahen sie mein Radio, das alt und keinesfalls wertvoll war. Sie fragten mich, ob sie den Apparat haben könnten, ich würde ihn doch nicht mehr brauchen. Ich gab ihn ihnen mit Freude. An diesem Tag hatte ich an andere Sachen zu denken, als darüber zu grübeln, aus welchem Grund sie unsere Wohnung beschützt haben und damit wahrscheinlich auch mich. War es ein Gefühl der Freundschaft für mich? Wieso wussten sie, dass wir dort wohnten? Weshalb wollten sie mein altes Radio? An diesem Tag der Wohnungsplünderungen konnten sie so viele Radios haben, wie sie wollten. Ich habe noch bis zum letzten Tag vor meiner Auswanderung in der gleichen Weise wie vorher mit ihnen gearbeitet, sie zeigten mir immer den gleichen freundschaftlichen Respekt. Ich sehe ihre Handlung als einen Ausdruck freundschaftlichen Mitgefühls und bin froh sagen zu können, dass ich an diesem Tag zwei SA-Männer gekannt habe, die sich einem Juden gegenüber gut benommen haben. Ich hoffe, sie haben an meinem Radio lange Freude gehabt.

Ich habe schon erwähnt, dass mein Vater mit vielen seiner Kunden auf freundschaftlichem Fuß stand. Das soeben erzählte Erlebnis zeigte mir zu meinem Erstaunen, dass es auch unter SA-Männern einige gab, die bereit waren, einem ihnen bekannten Juden in seiner Notlage zu helfen. Was eine Stunde später geschah hat mich erschüttert und mein Vertrauen in nicht-jüdische „Freunde" wieder ins Wanken gebracht. Als es vor vielen Jahren meinem Vater noch gut ging, hatte er einem seiner nicht-jüdischen Kunden geholfen, sich zu etablieren. Herr B. wohnte in einem kleinen Ort in der Nähe von Elberfeld und war einer der wenigen seiner Kunden, den wir, die ganze Familie, persönlich gut kannten. Mein Vater erzählte oft, wenn er von einer Reise zurückkam, von Herrn B. und seiner reizenden Frau. Als es nach einer Stunde, nachdem die SA-Männer uns verlassen hatten, wieder klingelte, stand die „reizende Frau B." mit einem Mann vor unserer Tür - ihr Mann war inzwischen gestorben - ich war erstaunt, sie zu sehen und bat sie, hereinzukommen. Frau B. machte keinen Versuch der Höflichkeit, stellte auch den sie begleitenden Mann nicht vor. Sie behauptete, mein Vater schulde ihr Geld und sie wäre heute gekommen, weil sie nicht wisse, wo ich nach diesem Tag noch erreichbar wäre. Ich wusste nicht, dass Herr B. inzwischen gestorben war, stellte auch keine neugierigen Fragen, da Frau B. sofort mit drohender Stimme von mir das ihr angeblich geschuldete Geld verlangte. Die Summe war für mich unter diesen Verhältnissen unerschwingbar. Ich sagte ihr, dass ich so viel Geld nicht habe und auch nicht wisse, wie ich es auf treiben könne. Ein Versuch, zu erfahren, wieso mein Vater ihr drei Jahre nach seinem Tod Geld schuldete, konnte ich nicht machen, da der sie begleitende Mann eine sehr drohende Stellung einnahm. Sie gab mir gnädigerweise Frist bis 6 Uhr, wenn ich ihr dann das Geld nicht geben würde, würde sie die Beziehung dieses Herrn zur SS, wobei sie auf den sie begleitenden Mann zeigte, benützen, ich könne mir wohl vorstellen, was dann mit mir geschehen würde. Sie verließen uns grußlos.

Wir waren völlig verzweifelt und sahen keinen Ausweg. Wir riefen Hilde im Büro an (alle jüdischen Angestellten sind an diesem Tag nicht zur Arbeit gegangen), die, wie so oft, uns zur Hilfe kam. Sie rief das Hauptbüro in Berlin an und bekam sofort die Erlaubnis, mir das Geld von der Firma zu geben. Diese Handlungsweise war typisch für Runge & Co., ich bin nie gefragt worden, das Geld zurückzuzahlen. Als dann die „reizende Frau" um Punkt 6 erschien, war Hilde mit dem Geld bei uns. Sie stellte sich als Baronin v. Zedlitz vor, dem Namen ihres Mannes, von dem sie normalerweise keinen Gebrauch machte und sagte ihnen Bescheid in der hochmütigen Art, die sie, wenn sie wollte, perfekt beherrschte. Das höflichste Wort, mit dem sie sie bezeichnete war Leichenfledderer. Als Frau B. eine Andeutung machte, dass eine Beziehung zwischen ihr, einer Arierin, und mir doch verdächtig sei, tat sie es ab mit der Bemerkung, dass sie ihren Mann von dieser Äußerung informieren würde, ein Verdacht, der unangenehme Folgen für Frau B. haben könnte. Außer, dass ich eine Quittung verlangte, wurde kein weiteres Wort gewechselt, sie verließen die Wohnung mit einem „Heil Hitler".

Für die Schäden, die das Deutsche Reich durch die Zerstörung jüdischer Geschäfte und Wohnungen erlitten zu haben vorgab, wurde der deutschen Judenheit eine ungeheure Geldbuße auferlegt. Ich glaube, es war eine Million* Mark. Schlimmer noch war, dass Tausende von Männern aufs Geradewohl verhaftet wurden und in die KZs geschickt wurden. Die Verhaftungen durch die Gestapo erfolgten meistens in der Nacht, so dass wir, erleichtert, dass uns am Tag nichts geschehen war, nie eine ruhige Nacht verbringen konnten, jeder Schritt auf der Straße machte uns Angst. Ich verbrachte die ersten Nächte bei dem neuernannten Konsul von Franco-Spanien. Ich kannte ihn flüchtig, ich weiß nicht mehr, woher. Er rief mich am gleichen Tag an, zu meiner Sicherheit bei ihm die Nächte zu verbringen. Er war noch nicht als Konsul etabliert und wohnte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, und ich musste das Schlafzimmer mit ihm teilen. Er war natürlich Deutscher und als wir einige Tage später alle Messer, die groß genug waren, als ‚Waffen‘ dienen zu können, abgeben mussten, vertrauten wir ihm unseren wertvollen Satz silberner Tranchier-Messer an. Als wir sie von ihm vor unserer Auswanderung zurückverlangten, behauptete er, sie nie erhalten zu haben. Das waren die drei Erfahrungen, die ich mit Nicht-Juden am Tage der Reichskristallnacht hatte. Das vierte Ereignis an diesem Unglückstag verwandelte diesen Tag für uns, und nur für uns, in einen Glückstag. Spät am Nachmittag klingelte es wieder, ich öffnete die Tür voll unangenehmer Vorahnungen. Wieder stand ein uniformierter Mann vor der Tür, bei näherem Zusehen sah ich jedoch, dass ich diese Uniform nicht zu fürchten brauchte. Er trug die Uniform der Reichspost und händigte mir ein Kabel aus. Es kam von Melbourne. Ich öffnete es mit zitternden Händen: ‚Einwanderungserlaubnis genehmigt, Kopien folgen Luftpost. Ilserich‘. Ich las es nochmals, bevor ich es meiner Mutter und Lore zeigte. Ich glaube, wir weinten Tränen der Freude. Aber getreu meinem Pessimismus, kam mir sofort der dumme Gedanke, dass mein Bruder das Kabel geschickt haben könnte, um uns zu beruhigen, nachdem er in der Zeitung gelesen hatte, was in Deutschland geschah. Diese Unruhe blieb noch im Hintergrund meiner Gedanken bis die Kopie ankam. In diesem Brief erfuhren wir, dass ein ehemaliger jüdischer Chef meines Bruders in Melbourne, nachdem er von der Situation in Deutschland erfahren hatte, am selben Tag nach Canberra flog, um unsere Einwanderung zu beschleunigen. Er war Oberst in der australischen Armee im Ersten Weltkrieg und muss großen Einfluss gehabt haben, denn er erhielt die Papiere sofort. Dieses Permit hätte mich wahrscheinlich vor dem KZ gerettet, da alle Permit besitzenden Juden aus dem KZ entlassen wurden, unter der Bedingung, dass sie bis zu einem bestimmten Tag Deutschland verlassen würden.

Bevor ich die Kopie des Permits in meinen Händen hatte, bestand immer noch die Gefahr, von der Gestapo verhaftet zu werden. Ich verbrachte einige Nächte bei einer Kollegin, bei der man, da sie unverheiratet war, keine Razzia machte. Als ich mich dann wieder nach Hause wagte, war jede Nacht eine Nacht der Angst, jeden Tag hörte man von neuen Verhaftungen. Die Gestapo kam jedoch nie, noch kam sie in die Firma. Keiner unserer jüdischen Angestellten wurde verhaftet. Vielleicht hatte der 5-Jahresplan der deutschen Wirtschaft, dem die Firma angeschlossen war, schützend seine Hand über uns gehalten. Ich weiß es nicht, und werde es auch nie wissen. Langsam beruhigte sich die Lage etwas. Wir hatten inzwischen aufgrund unserer Einwanderungserlaubnis unsere Pässe beantragt. Die Regierung begnügte sich nicht mit Großaktionen gegen Juden, sie fügte auch Nadelstiche hinzu. Vom 1. Januar 1939 an musste jeder Jude und jede Jüdin ihrem Namen einen jüdischen Vornamen hinzufügen. Es gab eine kleine Auswahl von Namen, die von je her als jüdische Namen verpönt waren, wie Itzig, Israel, Rebecka, Sara und einige wenige mehr. Wir hatten die Ehre als erste Juden in Köln am 2. Januar 1939 unsere Pässe zu erhalten und wurden aufgerufen, Herbert Israel Liffmann, Selma Sara Liffmann und Lore Sara Liffmann. Ich sah nicht die geringste Unehre in meinem neuen Namen. Um aber ganz sicher zu sein, dass wir als Juden gekennzeichnet waren, war die erste Seite überstempelt mit einem großen ‚J‘ für Jude.“

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