Erinnerungen an das Pogrom in Köln
Der 1904 geborene Wilhelm Unger erinnerte sich 1978 an das sich damals zum 40. Mal jährende Pogrom. Er war mit seinen Eltern, dem Arzt Samuel und seiner Frau Flora, 1907 nach Köln gekommen, wo er nach Schule, Buchhändlerausbildung und Studium für die Kölnische Zeitung und den Westdeutschen Rundfunk tätig war. Während es Wilhelm Unger – wie zwei Jahre zuvor bereits seinem älteren Bruder Alfred – 1939 gelang, nach Großbritannien zu emigrieren, wurden seine beiden Schwestern Ella und Grete Opfer des Holocaust. Seine Eltern überlebten Theresienstadt. 1956 kehrte Unger nach Köln zurück, wo er 1958 zu den Gründern der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit zählte und bis zu seinem Tod im Jahr 1985 journalistisch tätig war. 1978 erzählte er:
„Wir ahnten, dass nach der Ermordung des Herrn vom Rath in Paris etwas Furchtbares geschehen würde in Deutschland. Am nächsten Morgen - am 10. November also - wurde ich schon sehr früh aus dem Bett geholt. Verschiedene Freunde und Freundinnen haben unabhängig voneinander - ohne dass sie sich dazu verabredet hatten - mich aufgesucht mit Koffern, Taschen und so weiter und sagten, es sei etwas Furchtbares in der Stadt los. Überall seien junge SA-Gruppen von auswärts herangezogen worden und würden sämtliche Schaufenster einschlagen bei Juden und Verhaftungen vornehmen. Ich sollte sofort verschwinden, und sie wollten alle Literatur aus meiner Bibliothek entfernen, die von jüdischen Schriftstellern war, die verboten war. Sie wollten sie einpacken. Auch Manuskripte meiner Bücher packten sie ein, ohne mich zu fragen und baten mich nur zu verschwinden. Das tat ich dann auch. Ich wusste noch nicht, wohin; wollte Freunde aufsuchen, ging aber langsam zur Synagogengemeinde in Köln, um mich zu erkundigen, was vorgefallen sein könnte. Dort, wo die berühmte Synagoge in der Roonstraße stand. Da hatten sich schon hunderte Menschen versammelt, und ich sah zu, wie Kultgegenstände aus der Synagoge herausgeholt wurden, auf die Straße geworfen wurden, Gebetbücher, Thorarollen und so weiter, und wie das alles angezündet wurde und lichterloh brannte. Wie auch die Synagoge bald in Flammen stand. Ich weiß nicht, ob Leute mich erkannt haben. Ich sagte mir: ‚Sieh diesem Schauspiel zu. Wenn man dich schnappt, kann ich auch nichts dagegen tun ...‘
Ich gebe zu, dass es sehr viele Kölner Bürger dort gab, die schweigend dem zusahen, andere flüsterten und versuchten wahrscheinlich, ihren Unmut über das, was sie da sahen, zum Ausdruck zu bringen. Ich blieb da sehr lange und hatte dann auch noch den Mut, zur zweiten großen Kölner Synagoge in der Glockengasse zu gehen, von der man dann nur noch die Mauern sehen konnte. Später ging ich zu Freunden, hielt mich ein paar Stunden auf und erfuhr telefonisch, dass man in der Zwischenzeit alle jüdischen Männer der Stadt, die man zu Hause angetroffen hatte, verhaftet und irgendwo in ein Konzentrationslager gesteckt hatte. Trotzdem ging ich dann im Laufe des Tages durch die Hohe Straße, dann durch die Schildergasse.
Ich konnte einfach nicht glauben, dass dies im 20. Jahrhundert geschehen konnte, dass alle die durch ‚Kauf nicht bei Juden!‘ kenntlich gemachten jüdischen Geschäfte, dass nicht nur die Scheiben eingeschlagen wurden, dass nicht nur das teure Kristall auf die Erde geworfen wurde und dass Plünderungen stattfanden ganz offen vor den Augen der Menschen, - das war alles so unglaublich, und ich sagte mir: ‚Was immer mit dir passiert, sieh dir das an, du kannst einmal später darüber berichten, du warst Zeuge, und du hast es mit angesehen, damit man dir nicht sagen kann, es habe das nicht gegeben.‘
Was soll ich noch sagen? Schildern die schrecklichen Dinge, die heute - jetzt, wo 40 Jahre vergangen sind - noch so lebendig mir vor Augen stehen? Was soll ich da sagen? Von schreienden, weinenden Menschen, auch weinenden deutschen Menschen, die nicht geglaubt haben, dass ihre Mitbürger zu solchen Schandtaten fähig sein würden. - Ja, aber diese Bilder waren so grausam, dass ich von da an sofort meine Emigration betrieb. Ich bin dann 20 Jahre fort gewesen, konnte mich eigentlich nicht so schnell wieder entschließen, hier in Deutschland zu wirken, obwohl ich nach dem Kriege auch meine Eltern besuchte, die Theresienstadt überstanden hatten. Meine Eltern kamen früh nach Theresienstadt, zwei Schwestern wurden nach Polen deportiert, und ich hab sie nie wiedergesehen. Ich muss annehmen, dass sie in einem polnischen Lager vergast worden sind.
Ich denke heute noch darüber nach, wie es möglich ist, wie man zum Mitläufer wird oder wie man mitschuldig wird, auch wenn man schuldlos ist.“