Juni 1943
Während es in diesem Monat an der Ostfront vergleichsweise ruhig blieb – am 1. Juni griff die Rote Armee erneut den von deutschen Truppen gehaltenen Kuban-Brückenkopf an – nahmen die Luftangriffe auf das Reichsgebiet nochmals schlimmere, zuvor ungeahnte Formen an. Am 10. Juni begannen die Alliierten mit ihrer auf der Konferenz von Casablanca im Januar beschlossenen kombinierten Bomberoffensive mit Tagesangriffen der US-Luftflotte und Nachtbombardements durch britische Flugzeuge. Ein Bombenangriff auf Düsseldorf in der Nacht zum 12. Juni machte 120.000 Menschen obdachlos. Einen Tag später richteten britische Flugzeuge in den Industrie- und Wohnvierteln Bochums schwere Schäden an. Am 13. Juni folgten Bombardements von Kiel und Bremen, wiederum nur einen Tag später ein Angriff auf Oberhausen. In der Nacht zum 17. Juni war Köln das Ziel, fünf Tage darauf Krefeld. Schlag auf Schlag folgten Hüls (22.), Mülheim an der Ruhr und Oberhausen (23.), Wuppertal-Elberfeld (25.) und Gelsenkirchen (26.). Besonders schwer traf es dann zum Monatsende Köln, wo beim sogenannten „Peter und Paul-Angriff“ am 29. Juni mehr als 4.000 Menschen ums Leben kamen und das Wahrzeichen der Stadt, der Dom, erhebliche Schäden erlitt.
In den „Meldungen aus dem Reich“ des Sicherheitsdienstes der SS hieß es, dass in betroffenen Städten nach Angriffen vielfach der „Deutsche Gruß“ durch ein einfaches „Gutes Morgen“ ersetzt und der bekannte Propaganda-Ausspruch „Das verdanken wir dem Führer“ in sarkastischer Weise mit einer ganz neuen Bedeutung belegt würde. Die deutsche Presse wurde angesichts solcher Erscheinungen angewiesen, die Stimmung der Bevölkerung aufzuhellen und deren Widerstandswillen zu stärken. Am 27. Juni hieß es daraufhin in einigen Zeitungen: „An dem durch einen unbändigen Hass gestählten Willen der westdeutschen Gebiete wird der britische Terror zerbrechen.“
Auf einer Großkundgebung der NSDAP im Berliner Sportpalast hielt Albert Speer als Reichsminister für Bewaffnung und Munition am 5. Juni eine Rede zum aktuellen Stand der Rüstungsproduktion, die offenbar Mut machen sollte. Demnach sollte die Waffenproduktion in den vergangenen zwei Jahren um 400 Prozent gesteigert worden sein. Zudem kündigte Speer weitere beträchtliche Produktionssteigerungen an. Da die kaum ohne große Kraftanstrengung der Beschäftigten zu erzielen waren, appellierte er an die Opferbereitschaft der „Heimatfront“. Und als Joseph Goebbels am 26. Juni die siebte Große Deutsche Kunstausstellung im Haus der Deutschen Kunst in München eröffnete, in der 1.141 Werke von 660 Künstlern zu sehen waren, führte er in seiner Ansprache unter anderem aus, dass „der Zug zu einer geistigen und seelischen Verinnerlichung des Lebens im deutschen Volk“ niemals zuvor „so stark“ gewesen sei wie heute.
Der Durchhaltewille und die allgemeine Stimmung überhaupt wurden aber auf immer härtere Proben gestellt. So wurden zur Entlastung der Eisenbahnen am 3. Juni Ferienreisen über die Pfingstfeiertage vom 11. bis zum 16. Juni im Reichsgebiet verboten, um so Züge und Strecken für kriegswichtige Transporte freizuhalten.
Etwaigen Unmut gedachte man regimeseitig weiterhin schon im Keim zu ersticken. Am 21. Juni ordnete Hitler die Bildung eines zentralen Standgerichts der deutschen Wehrmacht an. Diese neue Einrichtung sollte dazu dienen, „im Schnellverfahren politische Straftaten abzuurteilen“, die sich – wie es so vage wie bedrohlich hieß – „gegen das Vertrauen in die politische oder militärische Führung richten und bei Anlegung des gebotenen scharfen Maßstabes eine Todes- oder Zuchthausstrafe erwarten lassen“ würden. Und in Kassel wurden am 3. Juni zwei Wahrsagerinnen wegen Zersetzung der Wehrkraft an der „Heimatfront“ durch das Legen von Karten zu jeweils mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Bei den Kunden hatte es sich in aller Regel um Frauen gehandelt, die etwas über das Schicksal ihrer an den Fronten stehenden Männer oder Söhne in Erfahrung bringen wollten.
Nachdem sie zuvor noch die Anweisung bekommen hatten, ihre Friedhöfe an die Kommunalverwaltungen zu verkaufen, und am Tag zuvor ihr Vermögen von den Oberfinanzpräsidenten übernommen worden war, wurde die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland mit all ihren Bezirksstellen am 10. Juni aufgelöst. Die Mitarbeiter der Reichsvereinigung und der Jüdischen Gemeinde Berlins wurden verhaftet und am 16. Juni deportiert. Ähnliches geschah in den folgenden Tagen mit den im Reichsgebiet noch existierenden Gemeinden.
Nachdem damit jede formale jüdische Selbstverwaltung und Interessenvertretung aufgelöst war, erklärte der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels die Reichshauptstadt für „judenfrei“. Allerdings existierte in Berlin weiterhin die sogenannte „Rest-Reichsvereinigung“ unter Leitung von Walter Lustig mit Sitz im Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße 2. Sie war für jene Jüdinnen und Juden zuständig, die in „Mischehen“ lebten und deshalb nicht deportiert worden waren. In anderen größeren Städten wurden für sie „Vertrauensmänner“ eingesetzt. Diese „Rest-Reichsvereinigung“ bestand bis zum Kriegsende.
Auch Juden, die aus allen Teilen des Reichs zur Zwangsarbeit nach Berlin geholt worden waren, wurden im Jüdischen Krankenhaus untergebracht. Des Weiteren betreute die „Rest-Reichsvereinigung“ das letzte verbliebene Berliner Sammellager in der Großen Hamburger Straße, in dem vermehrt auch Juden aus anderen deutschen Städten interniert wurden, bevor sie in „Gemeinschaftstransporten“ nach Theresienstadt oder Auschwitz deportiert wurden.
Im Juni 1943 erschien auch die letzte Nummer des „Jüdischen Nachrichtenblatt“. In ihr wurde all jenen mit scharfen Maßnahmen gedroht, die „nicht ordnungsgemäß gemeldete Juden“ aufnehmen würden. Die Behörden reagierten damit auf die große Fluchtbewegung, die sie mit der „Fabrik-Aktion“ im Februar 1943 unter der noch verbliebenen jüdischen Bevölkerung ausgelöst hatten. Nach vorsichtigen Schätzungen tauchten während der Kriegsjahre allein in Berlin, wo sich Jüdinnen und Juden seit 1942/43 besonders konzentrierten, insgesamt etwa 5.000 bis 7.000 von ihnen unter - die Mehrzahl erst ab Februar 1943 an. Etwa 1.700 von ihnen dürften die NS-Zeit überlebt haben.
Noch im Juni entschied Hitler, dass die Deportationen von Jüdinnen und Juden ungeachtet aller dadurch in den folgenden drei bis vier 3 bis 4 Monaten zu erwartenden Unruhen weiterhin „radikal durchzuführen“ sei und „durchgestanden“ werden müsste.
Dennoch galt das Reichsgebiet bereits nach den Aktionen gegen die Reichsvereinigung ab Juni bis auf wenige Ausnahmen als „judenfrei“. Nunmehr richtete sich das Augenmerk der NS-Führung auf Repressionen gegen „Mischehen“ und „Mischlinge“, also auf die bislang durch ihre Ehepartner und deren Familien geschützten Jüdinnen und Juden. Sie gehörten zum überwiegenden Teil einer der christlichen Kirchen an und empfanden sich keineswegs als jüdisch, wodurch sie sich sozusagen „zwischen den Stühlen“ wiederfanden: Vom Staat diskriminiert und von der eigenen Kirche häufig im Stich gelassen, lebten sie ohne Zugehörigkeit zu einer Interessenvertretung zumeist isoliert. Außerdem sahen auch sie sich permanenter Gefahr ausgesetzt. Während aber die NSDAP auch ihre Deportation verlangte, zögerten Innen- und Justizministerium bei diesem Schritt, so dass die Frage in weiten Teilen des Deutschen Reiches bis Kriegsende ungelöst blieb.