Das Jahr 1943
1943 gewannen die Alliierten an allen Fronten die Oberhand und führten ihre 1942 begonnen Offensiven gegen die „Festung Europa“ zu einem erfolgreichen Abschluss: Anfang Februar kapitulierte die 6. deutsche Armee in Stalingrad, am 13. Mai ergab sich die deutsch-italienische Heeresgruppe Afrika. Und als die Wehrmacht Anfang Juni letztmals versuchte, die Initiative an der Ostfront zurückzugewinnen, musste sie ihre Offensive bereits am 13. Juli wieder abbrechen.
Nachdem drei Tage zuvor die Alliierten auf Sizilien gelandet waren, wurde Ministerpräsident Mussolini am 25. Juli entlassen, woraufhin sein Nachfolger Badoglio am 3. September einen Waffenstillstand mit den Westalliierten unterzeichnete, die noch am gleichen Tag auf dem Festland landeten. Die Wehrmacht besetzte umgehend den größten Teil Italiens, wodurch im Süden eine neue Front entstand. Auch der Seekrieg erlebte im Frühjahr eine radikale Wende, als Großadmiral Karl Dönitz am 24. Mai nach hohen Verlusten an U-Booten die Bekämpfung alliierter Geleitzüge im Nordatlantik abbrach.
Zur gleichen Zeit nahm die Intensität der alliierten Luftangriffe – nicht zuletzt wegen des völligen Fehlens einer wirkungsvollen deutschen Abwehr - ein bis dahin ungeahntes Ausmaß an. Im Jahresverlauf fielen mehr als 200.000 Tonnen Bomben auf das Reichsgebiet und damit rund viermal so viele wie im Jahr zuvor. Zu den besonders schwer betroffenen Regionen zählten das Rheinland und das Ruhrgebiet („Battle of the Ruhr“), aber auch Hamburg und andere Hafenstädte wie auch Berlin wurden zunehmend zum Ziel alliierter Bombardements. Zwischen dem 24. Juli und dem 3. August fielen allein in Hamburg mehr als 30.000 Menschen den Bombardements zum Opfer.
Für die deutsche Bevölkerung brachte der Krieg immer neue und größere Einschränkungen, da das NS-Regime noch nachdrücklicher als zuvor versuchte, sämtliche menschlichen, materiellen und moralischen Reserven für die Fronten verfügbar zu machen. Doch trotz aller Beschränkungen gelang es zumeist, die Lebensmittelversorgung – insbesondere im Vergleich zu den Zuständen im Ersten Weltkrieg – mit rund 2.000 Kalorien pro Tag auf halbwegs akzeptablen Niveau zu halten, wozu Lieferung aus den besetzten Gebieten erheblich beitrugen. Außerdem wurde versucht, die Bevölkerung, die sich zunehmend über die immer minderwertigere Qualität der Brotprodukte beklagte, zu verstärktem Kartoffelkonsum anzuhalten.
Den öffentlich wirkungsvollsten Ausdruck fand das Bestreben zur Mobilisierung der letzten Ressourcen in der Rede, die Propagandaminister Joseph Goebbels am 18. Februar im Berliner Sportpalast hielt, und in der er – unter dem tosenden Beifall des geladenen Publikums – den „totalen Krieg“ verkündet. Der forderte einen ebensolchen Einsatz, der bereits am 13. Januar per Erlass von Hitler selbst eingefordert worden war, als er den umfassenden Einsatz von Männern und Frauen für die Aufgaben der Reichsverteidigung anordnete. Um aber keine übermäßige Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu schüren, wurden nur etwa 20 Prozent der insgesamt 3,5 Millionen registrierten Männer und Frauen tatsächlich zu Arbeitseinsätzen an der „Heimatfront“ herangezogen. Dabei war Ersatz dringend notwendig, weil die Wehrmacht mittlerweile auch die Rüstungsbetriebe auf der Suche nach wehrfähigen Männern immer intensiver „durchkämmte“. 1943 wurden so rund 600.000 erwachsene Männer und weitere 55.000 Siebzehnjährige rekrutiert. Da die Verbleibenden Kräfte das ausgleichen mussten, stieg die durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 49,1 Stunden an.
Dabei gab es ständig zusätzliche Belastungen im Arbeitsalltag: Luftschutzaufgaben, Mitarbeit beim Sicherheits- und Hilfsdienst, Aufräum- und Reparaturarbeiten, längere Wege zur Arbeit durch den Ausfall von Verkehrsmitteln waren nur einige dieser Faktoren. Dabei hatten die meisten Menschen durch die zunehmenden Belastungen des Bombenkriegs die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Die immer geringeren verbliebenen Reserven mussten sie zudem in Sicherung des Überlebens investieren.
Der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in Rüstungsindustrie und Landwirtschaft nahm unter solchen Umständen stark zu. Innerhalb eines Jahres waren der deutschen Kriegswirtschaft bis zum 31. März nach offiziellen Angaben 3.638.056 neue Zwangsarbeiter „zugeführt“ worden, deren massenhafte Unterbringung in Lagern unter oftmals unmenschlichen Zuständen erfolgte.
Solche Belastungen und unmenschlichen Behandlungen verblassten jedoch angesichts der gleichzeitigen Gräueltaten des NS-Regimes gegen Juden und anderen Bevölkerungsgruppen. Die Liquidierung des jüdischen Ghettos von Warschau gegen den verzweifelten Widerstand der Betroffenen war mit mindestens 60. 000 Opfern nur eines von zahlreichen und in jedem Einzelfall unvorstellbaren Verbrechen, die 1943 von deutscher Hand verübt wurden.
Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Zu Beginn des Jahres 1943 lebten im Deutschen Reich noch 51.327 Jüdinnen und Juden, von denen allein rund 15.000 Zwangsarbeit in der Berliner Rüstungsindustrie leisteten. Zugleich bot die Anonymität der Reichshauptstadt aber auch relativ gute Möglichkeiten, illegal im Untergrund zu überleben. Erschwert wurde das Leben im Untergrund allerdings durch die Folgen des Luftkriegs, der die ohnehin schwierige Quartierssuche in den ausgebombten Häusern und Kellern zusätzlich behinderte. Viele Untergetauchte starben auch während der Angriffe, da sie die öffentlichen Luftschutzräume nicht aufsuchen konnten.
Neben die ständigen Sorge ums pure Überleben, die neben der Notwendigkeit einer Unterkunft insbesondere mit Versorgungsfragen eng verknüpft waren, beherrschte das Gefühl der Einsamkeit einschließlich des dominierenden Nichtstuns den Alltag der Untergetauchten immer massiver.
Auch in den vom Reich 1939 annektierten Teilen Nord- und Westpolens begann 1943 die letzte Phase des Massenmords. Wie im Generalgouvernement räumten die Deutschen die Gettos und Lager und töteten die dort noch lebenden Juden mit wenigen Ausnahmen. Das betraf auch die drei Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“, die aufgelöst wurden. Kurz zuvor versuchten die verzweifelten Häftlinge in Treblinka und Sobibor durch einen Aufstand ihr Leben zu retten. Danach entwickelte sich Auschwitz-Birkenau zum neuen und eindeutigen Zentrum des Massenmords.
Ebenfalls ermordet wurden die jüdischen Zwangsarbeiter im Reichskommissariat Ukraine. Hier wurden die im Straßenbau beschäftigten Häftlinge 1943 ermordet, sobald einzelne Projektabschnitte fertiggestellt waren. Bis zum Jahresende lebten auch hier fast keine Jüdinnen und Juden mehr. Von Sommer 1943 an wurden ebenfalls die letzten Gettos mit jüdischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern im das das Baltikum und Teile Weißrusslands umfassende „Reichskommissariat Ostland“ aufgelöst. Die noch als arbeitsfähig Beurteilten wurden in die zur Zwangsarbeit umfunktionierten Gettos in Riga und Kaunas gebracht, die übrigen ermordet. In Minsk tötete die SS bis Oktober 1943 die letzten Gettobewohner.
Als mit dem Beginn der Offensive der Roten Armee 1943 die Entdeckung der Massengräber und damit der Gräueltaten der Deutschen drohte, setzten Bemühungen ein, die Spuren der Verbrechen zu verwischen. Auf Anordnung Himmlers öffneten Sonderkommandos, die mehrheitlich aus jüdischen Häftlingen bestanden, im Rahmen der sogenannten „Aktion 1005“ zahlreiche Massengräber und verbrannten die exhumierten Opfer auf Scheiterhaufen und in Gruben. Der schnelle Vormarsch der Roten Armee verhinderte eine vollständige Beseitigung der Spuren.