Deportation von Köln nach Riga
Walter Schmitz aus Niederkassel bei Siegburg war einer jener 1.000 Menschen, die am 7. Dezember 1941 von Köln aus ins lettische Riga deportiert wurden. Mit viel Glück überlebte er die NS-Zeit und brachte später folgende Erinnerungen zu Papier:
„Beim dritten Transport wurde die Familie getrennt, und ich wurde wieder freigestellt, habe mich dann aber freiwillig gemeldet, um bei meinen Eltern zu bleiben. Es wurde uns gesagt, dass wir nur umgesiedelt werden, irgendwo im Ostgebiet, um dort in der Kriegsindustrie zu arbeiten. In Wirklichkeit wurden wir nach Riga transportiert [...] und kamen am 13.12.1941 [...] in Riga an, in der größten Kälte und wurden mit Peitschen aus den Zügen getrieben. [...] Bereits auf dem Umschlagplatz Riga, damals genannt Schirotawa, wurden schon Leute, die sich nicht schnell genug bewegen konnten, [...] erschossen. Wir wurden zu Fuß abgeführt in das damalige Kenturiga. Das Kenturiga war ein Stadtteil von Riga, den man zur heutigen Zeit ein Slum-Revier nennen würde. Wir kamen in Häuser rein, wo noch warmes Essen auf dem Tisch stand, was uns unerklärlich war. Aber auf den Straßen fand man Blutlachen, die sich in Eis verwandelt hatten. Später erfuhren wir, diese Blutlachen, so unglaublich es klingt, kamen dadurch, dass die deutsche SS zusammen mit der lettischen SS, die teilweise noch viel schlimmer waren als die deutsche SS, sich eine Freude daraus gemacht hatte, Kinder in die Luft zu schmeißen und darauf zu schießen wie auf Vögel.
Am dritten Tage wurden alle Jugendlichen, männliche Jugendliche in meinem Alter und etwas darüber, zusammengetrieben und nach dem heute bekannten Todeslager Salaspils gebracht. [...] Tagelang ohne Essen hat man die Menschen dazu bekommen, daß sie effektiv zu Tieren wurden. Täglich wurden Erschießungen, Erhängungen vorgenommen. Die schlimmste Gräueltat, die wir erlebten, war am Weihnachtstage 1941. Ein Transport von 13 Personen, damals noch Kinder, wurden aus dem Ghetto nach Salaspils gebracht, und sie wurden dort mit Dumdumgeschossen umgebracht.
Ein Galgen war immer bereit, täglich Erhängungen vorzunehmen. Es bestand überhaupt keine Möglichkeit mehr, aus diesem Lager lebend herauszukommen. Für jeden jüdischen Häftling bestand Todesstrafe, wenn er dabei erwischt wurde, einen Strumpf, einen Pullover oder irgendetwas mit lettischen Arbeitern, die damals dort in der Nähe gearbeitet hatten, gegen Brot einzutauschen. Man wurde sofort erschossen. Ich wurde eines Tages im Morgengrauen, ungefähr zwischen 4 oder 3 Uhr, plötzlich von lettischer SS überrascht, als ich einen Pullover gegen ein Stück Brot eintauschen wollte. Ich wurde nackt ausgezogen und gegen einen Holzstapel zur Erschießung gestellt. Wieso man mich nicht erschossen hat, dürfte man nur auf ein Gotteswunder zurückführen. Man hat mich zwar halbtot geschlagen und zurück in die Baracke geschleppt. [...]
Mein Glück war es, dass eines Tages durch Mangel an Arbeitskräften für die deutsche Kriegsindustrie Leute gesucht wurden. Ich habe mich als Mechaniker gemeldet und wurde durchgeschleust in verschiedene Kriegsbetriebe. Salaspils selbst hat fast kein Mensch überlebt. Von dort aus kam ich zurück ins Ghetto und habe auch dort gesehen, wie man täglich Menschen umbrachte. Dort wurde ich dann in eine Arbeitsgruppe eingeteilt, die täglich aus dem Ghetto in die Kriegsbetriebe herausmarschierte und abends wieder zurück ins Ghetto kam. Bei dieser Gelegenheit sah ich auch meine Eltern wieder und lebte auch noch eine Zeitlang mit meinen Eltern zusammen.
Nachdem das Riga-Ghetto vollständig geräumt war, kam ich in das berüchtigte Lager Kaiserwald. Von dort aus wurden wir immer wieder in einzelne Lager verschickt. Während ich in Kaiserwald war, fand ich wiederum dort meine Eltern, die von dort aus verschickt wurden. Mein ganzes Leben habe ich mir darüber Vorwürfe gemacht, dass ich vielleicht meine Mutter hätte retten können, aber wie das Schicksal es will, eines Tages habe ich, bedingt durch Erschöpfung, die Zeit überschlafen, und da gerade hatte man die älteren Leute zusammengepfercht und verschickt. Es wurde mir dann bekannt, dass mein Vater in Riga dem Hungertode nahe war und dann an Typhus gestorben ist. Meine Mutter wurde ins leere Ghetto zurückgebracht. Dort bestand eine Kleiderkammer, in der man Soldatenuniformen usw. durch Gasbehandlung entlaust hat. Dort wurden diese Leute, wie meine Mutter, vergast. Wie bereits erwähnt habe ich mir immer wieder Vorwürfe gemacht, ob ich sie nicht vielleicht doch hätte retten können.
Eines Tages wurde ich von der SS für ein Kommando ausgesucht für ein Lager nahebei, das ein SS-Gut war mit dem Namen Jungfernhof. Dort habe ich viele Monate als Traktorfahrer verbracht, um die Felder zu bestellen. Hierzu kann ich sagen, dass diese Felder, die wir bearbeiteten, wahrhaftig mit Blut durchtränkt waren, denn man hatte dort über Massengräbern Kartoffeln, Getreide usw. angebaut, womit die SS an der Ostfront versorgt wurde.
Alles in allem bin ich in elf verschiedenen KZ gewesen. Nachdem die Russen nun immer weiter auf Riga zukamen, wurden wir eines Tages auf ein Schiff getrieben und nach Deutschland verschickt. Hier kam nun für mich als deutscher Jude die erste Chance.
Ich sagte mir, dass ich, wollte ich irgendeinen Fluchtversuch machen, auf deutschem Boden so etwas eher fertigbringen könnte als in einem fremden Land. Ich möchte dazu bemerken, dass es fast keinem gelungen ist, jemals eine Flucht zu Ende zu bringen. Immer wurden sie wieder eingefangen und dann öffentlich erschossen oder erhängt. Später hat man auch Geiseln für jeden Fluchtversuch genommen. Zehn Leute wurden aus der näheren Umgebung zur Erschießung herausgesucht.
Wir wurden also mitten im Winter auf das Schiff getrieben und kamen nach vielen Strapazen und mit wenigen Überlebenden in das berüchtigte Lager Stutthof. Stutthof ist eines der Lager, die als Vernichtungslager bekannt sind. In Stutthof wurden die Menschen teilweise totgeprügelt, allerdings weniger von der SS, aber von ihren Henkern, die aus politischen oder kriminellen Häftlingen bestanden.
Es gelang mir, aus Stutthof herauszukommen, und wurde dann in ein weiteres Lager verschickt. [...] Wir sind dann bis nach Danzig gekommen und haben dort in einem U-Boot-Werk gearbeitet. [...] Dort kamen die Russen dann auch wieder näher, als wir uns in dem Lager Gotentoff befanden. Auch dort hieß es wieder, als wir die russischen Geschütze schon hörten, dass wir wieder weiter zurückgingen, nach Deutschland. Unser Glück war, dass das Lager von Bergen umgeben war. Wir hörten nahe Kanonenschüsse. Doch die SS irrte sich, denn wir hatten lediglich das Echo gehört. So marschierten wir in der Nacht in die falsche Richtung, praktisch den Russen entgegen. Jetzt kam meine Chance, und mit einem Freund, Kurt Mendel aus Krefeld, haben wir uns gesagt: „Jetzt ist die Zeit, wo wir verschwinden müssen. “ Wir wussten, dass wir diese Nacht ohnehin nicht lebend durchstehen würden. Wir wollten dann noch einen kranken Kameraden mitnehmen und deswegen ist es in dieser Nacht nicht zur Flucht gekommen. Wir wurden nachts in eine Scheune einquartiert, die nur ein Einfahrts- und ein Ausfahrtstor hatte. Nachdem wir vor Erschöpfung auf dem schmutzigen Boden eingeschlafen waren, hörten wir plötzlich ein großes Geschrei und Durcheinander. Nachdem ich endlich etwas eingeschlafen war, wachte ich auf und war verärgert über das Geschehen. [...] Aber als ich sah, was los war, war es ein unglaubliches Bild. Die Russen hatten uns überrascht, und das, was wir hörten und sahen, war die Erschießung der SS. Jetzt gingen wir auf den Rückmarsch und von den Russen wurde uns gesagt, welche Richtung wir zu gehen hatten, weil immer wieder Rückschläge kamen. Auf diesem Rückmarsch erkrankte ich wieder an Typhus und wurde in ein russisches Lazarett in Lauenburg (Pommern) eingeliefert. Es bestehen da 6 bis 8 Wochen, die mir nicht im Gedächtnis sind, weil ich so schwer an Typhus erkrankt und vollständig verwirrt war. Mit einem Gewicht von 72 Pfund kam ich aus dem Hospital heraus. Nun waren wir vollständig auf uns selbst angewiesen, und ich versuchte, mich wieder nach Deutschland durchzuschlagen.“