Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Das NS-Regime begann nun auch offiziell, das gesprochene Wort im Rahmen von jüdischen Veranstaltungen zu kontrollieren und zu bestimmen. Am 3. Oktober erging eine Anordnung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, mit der alle jüdischen Organisationen und Erziehungsinstitutionen verpflichtet wurden, die Vortragsmanuskripte für geplante Veranstaltungen dem Ministerium zur Genehmigung vorzulegen. Damit übernahm das Propagandaministerium die von der Gestapo bereits einige Jahre zuvor eingeführte Überwachungspraxis, die zugleich aber quasi offiziell und zudem deutlich ausgeweitet wurde.
Am 5. Oktober wurde der Bewegungsspielraum der jüdischen Bevölkerung weiter eingegrenzt. Durch die „Verordnung über Reisepässe von Juden“ wurden sämtliche Reisepässe deutscher Juden für ungültig erklärt und deren Inhaber verpflichtet, die Dokumente binnen zweier Wochen bei der Passbehörde einreichen. Eine Zuwiderhandlung wurde mit Haft- und Geldstrafe bedroht. Jene Pässe, deren Gültigkeit auf das Inland beschränkt war, wurden ersatzlos eingezogen, weil sie als Legitimationspapier von der Ende Juli 1938 für Juden verbindlich eingeführten Kennkarte abgelöst worden waren. Als intendierte Nebenwirkung wurden Juden durch den Verlust des Reisepasses auch Zahlungen ins Ausland unmöglich gemacht, die nur von Passinhabern innerhalb bestimmter Freigrenzen geleistet werden durften. Das musste naturgemäß jedes Auswanderungsvorhaben erheblich erschweren. Gültigkeit erlangten die Pässe von Juden für Auslandsreisen erst dann wieder, wenn sie mit einem 3 cm großen „J“ in roter Farbe, dem sogenannten „Judenstempel“ versehen und die jeweiligen Inhaber stigmatisiert wurden. Mit Hilfe dieser Kennzeichnung konnten jüdische Reisende beim Grenzübertritt schnell identifiziert werden, eine Forderung, die den Interessen der das Deutsche Reich umgebenden Staaten – u.a. der Schweiz - entgegenkam.
Am 6. Oktober wurden mit den Musikern die letzte Gruppe jüdischer Kulturschaffender aus dem nunmehr vollständig „arisierten“ deutschen Kulturbetrieb ausgeschlossen. Sie durften fortan keine Mitglieder mehr in der Reichsmusikkammer sein. Außerdem wurde auch die Erteilung von Musikunterricht an jüdische Schüler untersagt.
Durch einen geheimen Erlass des Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitsversicherung wurde am 19. Oktober der „geschlossene Arbeitseinsatz“ von Juden eingeführt, die – etwa in Form von Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld - aus öffentlichen Mitteln unterstützt wurden. Die Arbeitsämter wurden aufgefordert, sich einen Überblick über Zahl und Qualifikation der arbeitslosen Juden zu verschaffen und anschließend deren Arbeitseinsatz in geschlossenen Gruppen in die Wege zu leiten. Bei der Durchführung solcher Arbeiten, das wurde ausdrücklich festgelegt, kamen nur Aufträge in Betracht, bei deren Ausführung Juden nicht „mit anderen Volksgenossen nicht in Berührung“ kamen. Weil sich eine solche Trennung in vielen Betrieben jedoch als Hindernis erwies, wurden jüdische Arbeitskolonnen insbesondere im öffentlichen Sektor, in Parks und Gärten, beim Straßen- und Kanalbau, bei der Reichsbahn oder auf Müllplätzen beschäftigt. Das hatte häufig zur Folge, dass diese jüdischen Zwangsarbeiter in Lagern untergebracht wurden. Schon bald beschränkten sich solche Arbeitseinsätze keineswegs mehr nur auf arbeitslose Juden, sondern betraf mehr und mehr auch – eine allerdings unbekannte Zahl - berufstätiger Juden, die zur diesen Arbeiten gezwungen wurden. - Die allgemeine Zwangsarbeit für alle Juden wurde offiziell aber erst Ende 1940 offiziell eingeführt.
Jene Juden, die auswandern wollten und auch die Möglichkeit dazu hatten, wurden von Regimeseite unter massiven Druck gesetzt. Am 19. Oktober wurde dem Reichskriminalpolizeiamt der Auftrag Himmlers übermittelt, dass jüdischen KZ-Häftlingen, die aufgrund ihrer bevorstehenden Emigration entlassen werden sollten, unmissverständlich – allerdings nur mündlich - mitzuteilen sei, dass, sollten sie versuchen nach Deutschland zurückzukehren, „sie selbst und ihre ganze Familie lebenslänglich in einem Konzentrationslager untergebracht“ würden.
In Deutschland lebten zwischen 50.000 und 72.000 polnisch-stämmige Jüdinnen und Juden. Am 28. Oktober fand im gesamten Reichsgebiet eine spektakuläre Abschiebeaktion statt. In den Nachtstunden begann die Polizei damit, etwa 17.000 Menschen aus ihren Wohnungen zu holen, festzusetzen, zu Sammeltransporten zusammenzustellen und mit der Bahn in Sonderzügen an die deutsch-polnische Grenze abzutransportieren. Für die Betroffenen kam die Aktion, die teils ganze Familien, teils nur die Männer betraf, völlig überraschend.
Da den Ankommenden an der polnischen Grenze die Einreise nach Polen verweigert wurde, mussten sie monatelang unter menschenunwürdigen Bedingungen im deutsch polnischen Grenzgebiet regelrecht „hausen“. In dem kleinen polnisch-deutschen Grenzort Bentschen (Zbqszyn ) lebten 1938 knapp 5.000 Menschen, zu denen binnen weniger Stunden mehr als 8.000 aus Deutschland Vertriebene hinzukamen, die in der Herbstkälte dringend versorgt werden mussten. Die meisten wurden in einer alten Kaserne und in Ställen untergebracht. Einem Teil von ihnen wurde später unter strenger Beobachtung eine vorübergehende kurze Rückkehr nach Deutschland erlaubt, um ihre Besitzverhältnisse zu ordnen. Im Juni 1939 erfolgte jedoch entweder die endgültige Ausweisung.
Die Vertreibung der polnischen Juden aus Nazi-Deutschland im Oktober 1938 wird gemeinhin als eine Art „Generalprobe“ für den während des Krieges verübten organisierten Mord an den europäischen Juden betrachtet. Dieses Urteil bezieht sich insbesondere auf deren brutale Durchführung vor den Augen der Öffentlichkeit. Wie viel Brutalität von Polizei, Gestapo und SS konnte man Mitbürgern zumuten, ehe sich Widerspruch regte?