Zeitzeugenbericht über Deportationen aus Köln
Der Kölner Helmut Lohn, der im September 1942 selbst nach Theresienstadt deportiert wurde, erlebte zuvor die Deportationen, die von Köln-Deutz aus nach Osten führten. Unmittelbar nach Kriegsende verfasste er über seine Erfahrungen folgenden Bericht:
„Der Bahnsteig 5 des Bahnhofes Köln-Deutz hat seine Geschichte, eine tieftraurige Geschichte, und ich glaube, dass ich dieses Kapitel, welches der Anfang des Endes fast aller Kölner Juden wurde, als eine, wenn auch furchtbare und erschütternde Tragödie der Nachwelt zu erhalten habe.
Oktober 1941, wir arbeiten zu 30 Kölner Juden in einem Rüstungswerk als Eisenarbeiter. Es ist Mittagspause. Wie üblich geht eine zwanglose Unterhaltung in unserem kleinen Aufenthaltsraum während des Mittagessens zwischen uns Kameraden. Nur einer beteiligt sich nicht, er schaut uns tieftraurig an. Plötzlich fragt er uns nur: ‚Habt ihr denn noch nichts gehört?‘ ‚Nein, wir haben alle noch nichts gehört.‘ ‚Ja, man spricht davon, dass in den nächsten Tagen sogenannte Transporte von Juden nach dem Osten gehen sollen.‘ Wie ein Blitz saust die Nachricht auf uns runter. Wir wollen es nicht glauben. ‚Das ist doch Quatsch. Erstens wüssten wir es alle selbst, zweitens brauchen sie uns als Arbeiter viel zu nötig, und drittens soll man nicht solche unsinnigen Gerüchte verbreiten, die nur eine furchtbare Deprimierung hervorrufen.‘ ‚Ich wünschte, ihr hättet Recht!‘ ist seine Antwort. ‚Aber, ihr werdet es selber noch sehen.‘ Von da an ging das Gerücht wie ein Lauffeuer durch die Gemeinde, und es gab wohl keinen Juden, der in dieser Woche noch einen ruhigen Schlaf hatte. Der Gemeindevorstand hielt eine Rede, dass an allem nichts wahr wäre und kein Grund zur Beunruhigung gegeben sei. Aber nur zwei Tage später erhielten über 1.300 Juden die schriftliche Aufforderung, sich zwei Tage später zwecks Deportierung in ein Ghetto (Lodz) morgens um sechs Uhr in der Messehalle Köln-Deutz einzufinden. Bei Nichterscheinen: Todesstrafe oder Abtransport in ein Konzentrationslager. Das furchtbare Gerücht hatte sich bewahrheitet.
In erster Linie kamen in diesen Transport alle die Menschen, die unter 68 Jahren waren und nicht in einem kriegswichtigen Rüstungswerk arbeiteten. Tiefbauarbeiter und ähnliches, wozu die meisten Juden eingezogen waren, galten nicht als reklamationsfähig. So wurden in erster Linie alle kinderreichen Familien verschleppt. Viele Familien wurden auseinandergerissen, Kinder, Brüder und andere einzelne Familienmitglieder waren teilweise nicht aufgefordert worden, und keiner wollte die anderen alleine in ein schweres, unbekanntes Schicksal ziehen lassen. So versuchten Unzählige, sich freiwillig zu melden. Und so gingen manche, denen es gelungen war mitzukommen, mit ihrer Familie diesen Weg in die Ungewissheit, ins Elend und den Tod. Manch einem war es nicht gelungen, mit den Angehörigen zusammenzubleiben, und er musste sie schweren Herzens diesen Weg alleine ziehen lassen und denselben später woandershin auch gehen und alleine sterben.
Der erste Transport beginnt. In aller Frühe kommen die dazu Gezwungenen mit ca. 30 Kilo Gepäck beladen vor der Messehalle Köln-Deutz an. Polizei steht draußen und lässt keinen Fremden mit herein. Alle Zurückgebliebenen verabschieden sich tränenden Auges von ihren Angehörigen und Freunden, welche in ohnmächtigem Schmerz draußen bleiben müssen. Nur etwa 20 Mann sind von der Gestapo genehmigt worden, in Notfällen diesen Menschen helfen zu dürfen. Dazu gehöre auch ich. Bei sechs Transporten konnte und durfte ich diesen Menschen helfen, bis dass auch ich selber fuhr.
Wir kommen nun in die Messe. Jeder Deportierte bekommt ein Nummernschild um den Hals. Von SS-Leuten wird das gesamte Gepäck durchsucht, ob keine Wertsachen und Geld mitgeführt werden. Zu Hause ist ihre ganze Wohnung beschlagnahmt worden. Schon vor Tagen wurde der Inhalt der Wohnungen festgelegt, und keiner durfte mehr etwas verkaufen oder gar verschenken. So stehen sie nun mit dem Allernotwendigsten in der Messehalle. Gegen Abend sind alle kontrolliert. Die Messehalle ist nun voll mit Menschen, welche sich auf ihr Gepäck setzen oder auf dem kalten Steinboden zu schlafen versuchen. Die Abfahrt soll erst in 24 Stunden sein. Wir bekommen die Erlaubnis, ihnen um vier Uhr morgens etwas Kaffee bringen zu dürfen. Wir sind glücklich, ihnen noch ein warmes Getränk verabreichen zu können. Der erste Tote ist auch bereits zu beklagen: Ein kleines Baby von wenigen Monaten, was trotz seiner Krankheit mitmusste, ist bei seinem Fieber durch den Temperaturwechsel sanft entschlafen. Es braucht die Reise nicht erst mitzumachen, und wir können es noch hier beerdigen. Kurz vor Morgengrauen hören wir dann Marschschritte, und eine Hundertschaft der SS zieht unter den Klängen des Liedes ‚Kameraden, Soldaten, stellt die Juden, diese Lumpen, an die Wand‘ in die Messehalle ein. Die Gewehre werden scharf geladen, und die SS bleibt diesen Menschen als Begleitmannschaft zugeteilt.
Morgens früh, gegen sechs Uhr, nach 24stündigem Aufenthalt in der Messe, kommt der Befehl zum Aufbruch. Es dämmert noch, und der Bezirk zum rückwärtigen Teil des Deutzer Bahnhofes ist im großen Ausmaß für die Bevölkerung durch Polizei abgesperrt. Da sind nun unzählige Familien mit kleinen, nicht gehfähigen Kindern, die alle auf ihre Kinder achten müssen und dadurch praktisch nicht in der Lage sind, ihr und der Kinder Gepäck gleichzeitig zu tragen. Bis zur Messe hatten gute Freunde geholfen. Jetzt sollen wir ganze 20 Mann den Plünderten von Bittenden helfen, die alle gleichzeitig abzumarschieren haben, mit oder auch ohne Gepäck. Wie oft laufen wir vom Bahnhof bis zur Messe hin und her, um den Abfahrenden doch noch einen Teil ihres Gepäcks zu retten. Wenn der Zug einläuft, muss alles in wenigen Minuten verladen sein. Was nicht drin ist, bleibt zurück. Infolge Platz- oder Wagenmangels wissen wir wirklich nicht, das Gepäck in jedem Fall in den Zug zu bekommen, und leider muss ein Teil desselben hierbleiben. Es soll angeblich bei einem weiteren Transport mitgeschickt werden. Das war aber nie der Fall. Manches Mütterchen quält sich mit seinem Gepäck bis zum Zuge ab und bekommt es dann doch nicht hinein. Wir stehen alledem machtlos gegenüber. Wir sind viel zu wenige, um allen helfen zu können. Fünf Minuten nach dem Einlauf fährt der Zug aus der Halle, dem wir noch wehen Herzens die letzte Ehre erweisen. Grüßend und winkend stehen wir fassungslos auf dem Bahnhof. Das war der erste Transport nach Litzmannstadt/Lodz vom Deutzer Bahnhof, Bahnsteig 5. Die SS lässt uns noch den Bahnsteig kehren, dann dürfen wir uns nach Abgabe unseres Ausweises, man hatte uns eigene Armbinden ausgehändigt, aus ihrer unangenehmen Atmosphäre verziehen. Die Gestapokommissare Rosen, Eiseier, Löffler, Brodesser und wie sie alle heißen, sollte ich noch recht oft zu sehen bekommen.
Das war der Anfang gewesen, und kurze Zeit später ging ein weiterer Transport mit der gleichen Anzahl Menschen gleichfalls nach Lodz. Die Transporte waren ziemlich gleich. Immer wurden etwa 500 Personen mehr einberufen als abfuhren. Sie waren die Reserve für die Menschen, welche aus irgendeinem Grunde ausfielen, wie Selbstmord oder absolute Transport Unfähigkeit. Dies war leider immer an der Tagesordnung. Auch dieser zweite Transport erfuhr die gleiche Behandlung wie der erste. Auch hier halfen wir unseren Freunden, Verwandten und Fremden, den letzten Liebesdienst zu erweisen. Der Bahnsteig 5 hatte seine Geschichte begonnen.
Einige Wochen der Ruhe, welcher wir nie trauten, folgten. Dann kam Dezember 1941 ein weiterer Transport von ca. 1.000 Personen (Familien) nach Riga. Auch dieses ging vorüber.
Schweren Herzens sahen wir, wie unsere alte Kölner Jüdische Gemeinde immer kleiner wurde. Die Landbevölkerung, die in den kleinen Orten nicht mehr wohnen konnte, zog nach Köln, und trotzdem wurde unsere Gemeinde immer kleiner. Lange Zeit kamen dann keine Transporte mehr zum Abgang. Aber immer ging das Gerücht weiter um, und wir lebten weiter in großer Unruhe. Unsere Koffer und Rucksäcke blieben monatelang gepackt, um bei einem plötzlichen Aufbruch das Nötigste zur Hand zu haben. Zwischenzeitlich mussten auch alle Juden in eine geschlossene Siedlung in Baracken ziehen.
Die große Transportpause währte bis Mai 1942, kurz nach dem ersten schweren englischen Fliegerangriff. Dann tauchte das erste Mal das Wort Theresienstadt auf, ein Altersghetto. Es sollte dort wirklich gut und für die alten Leute gesorgt sein. Man konnte es als eine große Bevorzugung ansehen, dorthin zu kommen. Man nahm sogar Gelder entgegen, damit sich die Menschen wie für ein Altersheim dort einkaufen konnten. Es wurden auf diese Art wieder einige Zigtausend ergattert. Was und wie Theresienstadt wirklich war, kann ich hier nicht beschreiben. Jedenfalls Ende Mai, Anfang Juni ging der erste Transport alter Juden nach Theresienstadt. Es war dies auch wohl das Herzzerbrechendste, was man sich vorstellen konnte. Lauter alte Menschen oder Schwerkriegsbeschädigte. Kaum einer unter 70 Jahren, ein Teil über 80 und mehr. Alle diese Menschen auf ihre alten Tage noch zu verschleppen, das war wohl das Unmenschlichste. So war denn auch die Wirkung, nicht nur dass diese Leute körperlich selbstverständlich nicht in der Lage waren, ihr Gepäck zu tragen, sondern sie waren auch seelisch völlig gebrochen. Auch diesen Menschen mussten wir, nur ein kleiner Trupp, nach besten Kräften helfen. Aber das ging nun weit über unsere Kräfte, denn alle brauchten Hilfe, und es tat uns furchtbar leid, nur einem Teil beistehen zu können. Der Bahnsteig 5 nahm etwa 1.000 alte, verzweifelte Menschen auf, die fast alle wussten, dass sie in ihrer Heimatstadt nicht mehr ihre letzte Ruhestätte finden sollten. So fuhren sie ihrem Schicksal entgegen.
Nur acht Tage darauf wurden alle Juden unter 65 Jahren, auch die unabkömmlichsten Rüstungsarbeiter, bis auf einen kleinen Rest zu einem sogenannten Arbeitertransport, wieder etwa 1.000 Personen, mit unbekannter Bestimmung, man sprach von Minsk, zusammengestellt. Mit diesem Transport ging die jüdische Jugend Kölns, bis auf wenige, restliche, mit. Es war dies ein Transport, den ich nie vergessen werde. Alles junge, kräftige Menschen, die sich zu helfen wussten. Es war dies der einzige Transport, wo keine Trauer herrschte, wo das hundertprozentige Gefühl herrschte: wir werden wiederkommen! Gefasst und reibungslos ging dieser Transport vonstatten. Ein flottes Liedchen wurde allem zum Trotz noch gesungen. - Der Bahnsteig 5 sah diesmal keine verzweifelten, sondern mutige Menschen, die bewusst ihr Schicksal auf sich nahmen. Und gerade von diesem Transport ist nicht einer am Leben geblieben, der Aufschluss über ihr Schicksal gehen könnte. Hat man sie bereits auf der Fahrt erschossen, oder sind sie später vergast worden? Gerade diesen Menschen müssen wir heute und auch später ein ehrendes Andenken in der Geschichte der Kölner Juden bewahren.
Wieder acht Tage später ging der zweite Transport alter Menschen, die noch in Köln waren, nach Theresienstadt. Es war wieder der gleiche Eindruck wie vor 14 Tagen, ein Bild des Jammers und der Verzweiflung, der Bahnsteig 5 hatte wieder seinen gewohnten Anblick.
Dann kam wieder eine lange Pause bis Anfang September 1942. Da nur noch etwa 300 ,Volljuden’ in Köln waren, schickte man wöchentlich, in einzelnen Waggons mit 50 Personen, die Menschen nach Theresienstadt. Einem dieser Transporte wurde ich dann im September beigefügt. Diese Transporte waren natürlich einfacher abzufertigen als die Tausend-Mann-Transporte. Nach meiner Abwesenheit gingen noch einige kleine Transporte nach Theresienstadt und im Januar 1943 ein Transport nach Berlin, von dort mit unbekanntem Ziel in den Osten. Auch von diesen kann bis heute keiner über ihr Schicksal berichten.
Bahnsteig 5 in Köln-Deutz, ich kann dich heute nicht mehr sehen!“