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Chronik und Quellen
1938

Das Jahr 1938

Für Demokraten stellte 1938 ein Jahr der Niederlagen dar, denn die Aggressivität der autoritären Regime nahm zu und nur mit Mühe konnten die demokratischen Staaten den Frieden in Europa mit Beschwichtigungen und weitreichenden Zugeständnissen erhalten. Das galt insbesondere hinsichtlich zweier Ereignisse: Im März wurde Österreich in das Deutschen Reich eingegliedert und im Münchener Abkommen akzeptieren Frankreich und Großbritannien Ende September den Einmarsch deutscher Truppen in die sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei.

Zugleich liefen die Vorbereitungen für einen Krieg weiterhin auf Hochtouren, was dadurch erheblich erleichtert wurde, dass Hitler im Februar 1938 seine Kritiker innerhalb der Militärs ausschaltete und den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht übernahm. Nach außen hin wurden die expansiven militärischen Planungen dadurch sichtbar, dass im Laufe des Jahres aus dem gesamten Reichsgebiet Arbeitskräfte zum Bau des Westwalls herangezogen wurden. Auch das Volkswagenwerk, für das in Fallersleben im Mai der Grundstein gelegt wurde, hatte ebenso einen militärischen Hintergrund wie der Ausbau des Netzes der Reichsautobahnen auf über 3.000 km bis zum Jahresende.

Die Arbeitskräftefrage wurde zu einem immer größeren Problem, wobei auch der „Anschluss“ Österreichs und die Annexion des Sudetenlands keine wesentliche Entlastung brachten. Am nachteiligsten machte sich ein Mangel an Facharbeitern - vor allem im Baugewerbe, im Bergbau und in der Metallindustrie - bemerkbar. Durch zahlreiche Maßnahmen wurde daher versucht, sogenannte „Arbeitsscheue“ zum Arbeitseinsatz zu verpflichten und ältere Angestellte und Arbeitsinvaliden durch Außerkraftsetzung von Ruhevorschriften zu reaktivieren. Insbesondere die Großprojekte wie der Bau des Westwalls, des Volkswagenwerks oder der Ausbau der Hermann-Göring-Werke in Salzgitter erforderten hohe Zahlen an Arbeitskräften, deren Rechte immer stärker eingeschränkt wurden. Etwaigen Widerständen wurde mit Druck, aber auch mittels erhöhter Entlohnung und Urlaubsvergünstigungen begegnet. Die rüstungsbedingten Produktionserhöhungen forderten ihren Preis in Form von verlängerten Arbeitszeiten und einer starken Zunahme von Arbeitsunfällen und Berufserkrankungen.

Während die Belastungen am Arbeitsplatz zunahmen, sollte sich die Bevölkerung zur Unterstützung der Autarkiebemühungen des NS-Regimes im privaten Konsum einschränken. Kartoffeln und Mehlspeisen sollten statt Fleischwaren und Butter den Speiseplan künftig dominieren. Während Fleisch als Folge der zurückgehenden Viehhaltung knapp und teuer war, konnte Brotgetreide rechtgünstig erworben werden. In Zeitungen, Zeitschriften und Kochbüchern fanden sich zudem immer mehr Hinweise zur als volkswirtschaftliche Pflicht erklärten Verwertung von Speiseresten.

Gänzlich unbeachtet von der Öffentlichkeit bleibt die wohl folgenschwerste wissenschaftliche Tat des Jahres: Dem deutschen Physiker Otto Hahn gelingt die erste Kernspaltung.

1938 begann Hitler, seine lange geplante Expansionspolitik in die Tat umzusetzen. Am 12. März erfolgte der „Anschluss" Österreichs und am 1. Oktober die durch das Münchner Abkommen besiegelte Besetzung der sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei.

Die nationalsozialistische Jugendarbeit richtete sich nun immer stärker darauf aus, ihren Monopolanspruch durchzusetzen. In der Folge wurde auch die letzte ernsthafte Konkurrenz der HJ ausgeschaltet: Ende 1938 erfolgte das Verbot der Katholischen Jungmännerverbandes, des größten katholischen Jugendverbandes, an dessen Stelle die Arbeit als „Pfarrjugend" trat, die durch ihren Mangel an jugendbewegtem Leben für viele Jugendliche allerdings weniger attraktiv war.

Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung

Für die jüdische Bevölkerung im Reichsgebiet brachte das Jahr 1938 einen tiefen Einschnitt, der ihr Leben extrem und dauerhaft verändern und sich entscheidende Zäsur in ihrem kollektiven Bewusstsein eingraben sollte. Dabei ragte das im Volksmund als „Reichskristallnacht“ verharmloste Pogrom vom 9./10. November 1938 heraus und stellte einschließlich der unmittelbar darauf verfügten staatlichen Maßnahmen alles, was sich seit 1933 hinsichtlich Ausgrenzung und Benachteiligung von Jüdinnen und Juden ereignet hatte, weit in den Schatten. Als reichsweit systematisch durchgeführte Aktion mit zahlreichen Tote, Verletzten und Verschleppten, brennenden Synagogen und zerstörten Geschäften unterschied sich dieses Ereignis deutlich von den zwar brutalen, aber lokal eingegrenzten und daher berechenbaren früheren Akten der Diskriminierung und Ausgrenzung.

War im November 1938 somit der erste extreme Höhepunkt der Judenverfolgung in Deutschland erreicht, wurde mit den unmittelbar darauf verordneten staatlichen Maßnahmen zur endgültigen Ausbeutung ausgeholt und so die entscheidende Phase der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland eingeleitet. Sie wurde schrittweise aus dem deutschen Wirtschaftsleben ausgeschlossen und ihrer Existenzgrundlage beraubt. Innerhalb von sechs Wochen waren alle hierfür wichtigen Gesetze und Verordnungen verabschiedet und die deutschen Jüdinnen und Juden endgültig zu Menschen „2. Klasse“ geworden.

Aber bereits die Monate vor dem Pogrom waren durch einen kontinuierlichen Ausgrenzungs- und Ausplünderungsprozess gekennzeichnet gewesen, den viele Angehörige der „Mehrheitsgesellschaft“ zur persönlichen Bereicherung genutzt hatten. Schon vor dem Pogrom waren - je nach Stadt oder Region - 50 bis 70 Prozent der jüdischen Betriebe im Zuge der „Arisierung“ von ihnen übernommen worden, ein Prozess, der nach dem November 1938 dann mit der endgültigen Ausschaltung der Juden aus der deutschen Wirtschaft seinen zügigen Abschluss finden sollte – von der stetig voranschreitenden Ausschaltung aus dem öffentlichen Leben und den damit verbundenen massiven Diskriminierungen ganz zu schweigen.

Folge war der schrittweise Verlust jeder eigenständigen Erwerbsmöglichkeit, was eine schnell zunehmende Arbeitslosigkeit und eine extreme Verarmung unter den Verfolgten nach sich zog. Schon im Sommer 1938 waren mehr als 60.000 von ihnen arbeitslos gewesen, ein Prozess der sich nach dem Pogrom mit stark erhöhtem Tempo fortsetzte.

1938 wurde auch die junge jüdische Generation hat getroffen: Nahezu alle jüdischen Jugendbünde - oft die letzten Zuflugsorte der immer stärker isolierten jüdischen Kinder und Jugendlichen - wurden nun endgültig aufgelöst. Jüdische Kinder wurden auch aus dem öffentlichen Schulsystem ausgeschlossen, was viele jüdische Familien dazu bewog, ihre Kinder über Auswanderungsgüter oder per Kindertransport im Ausland in Sicherheit zu bringen.

Das NS-Regime verfolgte gegenüber der jüdischen Bevölkerung eine Doppelstrategie. Einerseits, so betonte beispielsweise Hermann Göring immer wieder voller Zynismus, müssten die Juden, um „gefügig“ zu bleiben, „immer noch etwas zu verlieren“ haben, andererseits ging es ihm darum, ihre Vertreibung zu forcieren, wozu ihnen die materiellen Lebensgrundlagen Stück für Stück entzogen wurden. Dabei wurde im Jahresverlauf jedoch immer deutlicher, wie sehr das eine Ziel - die Ausplünderung und die damit einhergehende rasche Verarmung – das andere - die Vertreibung - erschwerte. Das immer unüberschaubare Geflecht von Zwangsabgaben und Devisenbestimmungen, von Ausfuhrverboten und Gebühren verhinderte, dass auswanderungswillige Juden wenigstens einen Teil ihres Besitzes mitnehmen konnten, um im Exil neue Existenzen zu gründen. Die Zielländer weigerten sich ihrerseits, mittellose Flüchtlinge aufzunehmen, weil diese der öffentlichen Fürsorge zur Last zu fallen drohten. Daher verschärften bereits kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs fast alle diese Staaten ihre Einwanderungsbestimmungen und Grenzkontrollen oder erließen Einwanderungsverbote, die sich offen oder verdeckt gegen Juden richteten. Diesen für die Juden in Deutschland fatalen Prozess konnte auch die letztlich ergebnislose Konferenz von Évian nicht aufhalten.

Trotz aller Erschwernisse verfünffachte sich die Zahl der Flüchtlinge im Jahr 1938 auf rund 100.000. Von ihnen stammte jedoch allein etwa 60.000 aus Österreich, während die seit 1937 in die Wege geleiteten Ausschaltungs- und Diskriminierungsmaßnahmen im „Altreich“ zunächst nicht die gewünschten Erfolge zeitigten. Von Januar bis Ende Juni 1938 hatten erst rund 14.000 jüdische Auswanderer das Land verlassen. Erst das Novemberpogrom mit der unmittelbar darauf folgenden Internierung von 25.000 bis 30.000 jüdischen Männern in Konzentrationslagern löste auch im Reichsgebiet eine Massenflucht aus. Bis Ende des Jahres stieg sie Zahl der Emigranten nun auch hier auf etwa 40.000.

Es blieben jedoch Zigtausende zurück, die aus verschiedenen Gründen keinerlei Aussicht auf eine erfolgreiche Auswanderung hatten. Unter ihnen breitete sich vor allem nach den November-Ereignissen zunehmend eine tiefe Hoffnungslosigkeit und depressive Stimmungslagen aus. Allein im November 1938 stieg die Zahl jüdischer Selbstmörder*innen im Deutschen Reich deutlich an. Sie lag Schätzungen zufolge bei 300 bis 500 und damit so hoch wie seit der Entlassung der jüdischen Beamten und dem Boykott in den Frühjahrsmonaten 1933 nicht mehr. Solche Werte sollten dann erst wieder mit dem Beginn der Deportationen im Herbst 1941 erreicht werden.

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