Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
Das alles überschattende innenpolitische Ereignis des Jahres 1938 war das im Volksmund als „Reichskristallnacht“ verharmloste Pogrom vom 9./10. November, das einen ersten Höhepunkt der Judenverfolgung in Deutschland darstellte. Der aus Niedersachsen stammende 17-jährige Herschel Grünspan war nach Ablauf seines Visums illegal als Jude polnischer Nationalität in Paris untergetaucht, wo er am 3. November 1938 vom Elend seiner im Zuge der „Polen-Aktion“ ins polnisch-deutsche Grenzgebiet abgeschobenen Familie erfuhr. Am 7. November begab er sich zur deutschen Botschaft und erschoss den jungen Legationssekretär Ernst vom Rath.
Diese zum „Anschlag des internationalen Judentums“ hochstilisierte Tat nutzte das NS-Regime als Vorwand, um in der Nacht vom 9. zum 10. November einen Pogrom zu organisieren. Erstmals gab es eine reichsweite systematische Aktion gegen die jüdische Bevölkerung, in deren Rahmen es zahlreiche Tote, Verletzte und Verschleppte gab, Synagogen niedergebrannt und Geschäfte sowie Wohnhäuser verwüstet wurden. In dieser Nacht und in den folgenden Tagen fanden zudem Massenverhaftungen statt, von neben tausenden jüdischer Männer auch die meisten führenden Personen der Reichsvertretung der Juden in Deutschland betroffen waren.
Die Bilanz war furchtbar: Nach offiziellen Angaben wurden in dieser Nacht 91 Juden getötet, 36 Personen schwer verletzt, mehrere jüdische Frauen vergewaltigt. Die tatsächliche, aber nicht genau bekannte Zahl der Opfer lag aber sicherlich noch deutlich höher. Rund 30.000 jüdische Männer wurden in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt, unter ihnen etliche Repräsentanten der Reichsvertretung. Die Festnahmen dauerten bis zum 16. November an. In Dachau starben innerhalb weniger Wochen mindestens 185 der nach dem Pogrom eingelieferten Juden, in Buchenwald waren es 233. Für das Lager Sachsenhausen wurde in einem Bericht von Ende 1938 die Zahl der Toten nach dem 9. November auf 80 bis 90 von insgesamt 6.000 Häftlingen geschätzt.
Außerdem wurden 1.406 Synagogen, Versammlungsräume oder Betstuben demoliert oder vollständig zerstört, 7.000 bis 7.500 Geschäfte jüdischer Inhaber sowie mindestens 177 Wohnhäuser zerstört und geplündert. Die Täter blieben weitgehend straffrei. Bereits am 10. November 1938 war angeordnet worden, zuvor eventuell inhaftierte Angehörige der NS-Schlägertrupps „sofort wieder auf freien Fuß zu setzen. Zehn Tage später wurde dann eine Rundverfügung des Reichsjustizministers verbreitet, die bestimmte, dass Vergehen im Rahmen der „Protestaktion gegen Juden“ nur in bestimmten Fällen zu verfolgen seien. Ausgenommen von der Verfolgung waren demnach die Beschädigung von jüdischen Geschäften und die Zerstörung von jüdischen Wohnungen, während Tötungen und schwere Körperverletzungen nur dann untersucht werden sollten, soweit „eigennützige Motive“ vorhanden waren.
Auf das Pogrom folgte eine regelrechte Welle an Gesetzen und Verordnungen, die nichts anderes darstellten, als eine formell auf „legale“ Basis gestellte rücksichtslose Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung. Da sie zugleich von weiteren schwerwiegenden Verboten und Ausgrenzungen betroffen wurde, blieb ihr kaum mehr die sprichwörtliche Luft zum Atmen. Zunächst wurde sie durch die „Verordnung über den Waffenbesitz“ am 11. November völlig entwaffnet, indem ihnen Erwerb, Besitz und das Führen von Schusswaffen und Munition, sowie von Hieb- und Stoßwaffen generell verboten wurden. Waffen und Munition, die entschädigungslos an das Reich fielen, waren unverzüglich bei der Ortspolizei abzuliefern.
Einen Tag später folgte am 12. November die zynische „Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes“, durch die die jüdische Geschäftsleute verpflichtet wurden, „alle Schäden, welche durch die Empörung des Volkes am 9. und 10. November 1938“ entstanden seien, umgehend und auf eigene Kosten zu beseitigen. Etwaige Versicherungsansprüche von Juden wurden zugleich „zugunsten des Reiches beschlagnahmt“.
Wegweisende Bedeutung sollte eine Sitzung haben, die am gleichen Tag unter dem Vorsitz von Hermann Göring im Luftfahrtministerium stattfand und sich - unter Beteiligung von Heydrich, Frick und vielen weiteren hohen NS-Repräsentanten - der weiteren Gestaltung der antijüdischen Politik widmete. Im Rahmen dieser Konferenz wurde auch ein Vorschlag zur Kennzeichnung und Gettoisierung der deutschen Juden unterbreitet, der jedoch auf ausdrücklichen Befehl Hitlers - zunächst noch – fallengelassen wurde. In die Tat umgesetzt wurde hingegen die Verhängung einer „Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit“, denen wegen der Vorkommnisse während des Pogroms per Verordnung in ihrer Gesamtheit die Zahlung von 1.000.000.000 Reichsmark an das Deutsche Reich auferlegt wurde. Eine Durchführungsverordnung zu dieser „Judenvermögensabgabe“ hierzu legte am 21. November fest, dass alle Juden mit einem Vermögen von mehr als 5.000 RM 20 Prozent hiervon in vier Raten bis zum 15. August 1939 an ihr Finanzamt abzuführen hatten. Diese Zahlungen hatten grundsätzlich in bar zu erfolgen, wobei die „Abgabepflichtigen“ auch dazu verpflichtet werden konnten, zur Begleichung ihrer „Schuld“ Wertpapiere, Schmuck und Kunstgegenstände zu verkaufen. Außerdem behielt die Verordnung ausdrücklich weitere Zahlungen vor, wenn die geforderte Gesamtsumme von einer Milliarde Reichsmark nicht erreicht würde. Tatsächlich wurde schließlich noch eine fünfte Rate eingefordert, die zum 15. November 1939 fällig wurde. Die Gesamtsumme der „Sühneleistung“ belief sich schließlich auf 1.126.612.495 RM.
Ebenfalls am 12. November erging die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“, die laut ihrer am 23. November erlassenen ersten Durchführungsverordnung einen ersten Abschluss der seit Jahren betriebenen „Arisierung“ bedeutete. Zum 1. Januar 1939 mussten alle jüdischen Betriebe geschlossen werden, wobei deren Lagerbestände der Bewertung durch „arische“ Sachverständige unterlag. Zugleich wurde Juden untersagt, Versandgeschäfte zu führen, als Handwerker tätig zu sein oder auf Märkten zu verkaufen. Damit blieb ihnen nach all den bereits vorhergegangenen Ausschlüssen aus einzelnen Tätigkeitsbereichen praktisch kaum noch eine Möglichkeit zum legalen Broterwerb.
Es traf auch die Jugendlichen. Ein Erlass des Reichsministers für Erziehung und Unterricht über den Schulbesuch jüdischer Kinder legte am 15. November fest, dass jüdischen Schüler*innen der Besuch deutscher Schulen nicht mehr gestattet war und sie nur noch jüdische Schulen besuchen durften. Für eine Übergangszeit ordnete das Gestapa am 21. Dezember 1938 an, jüdische Kinder nur noch abgesondert zu unterrichten. Zugleich wurde die in Entstehung begriffene Reichsvereinigung der Juden in Deutschland umgehend rein jüdische Schulen“ errichten.
Das Pogrom und die – im Rückblick fast skurril erscheinenden – exorbitanten „Strafen“, die der jüdischen Bevölkerung unmittelbaren danach auferlegt wurden, lösten in Kombination mit rapide sinkenden Erwerbseinkünften eine weitere massive Verarmungswelle aus. In jeder Familie taten sich immer neue und größere Engpässe auf, die viele beispielsweise durch Untervermietungen zu mildern versuchten – sofern denn überhaupt genügend Wohnraum vorhanden war. Folge war sich ausbreitende Hoffnungslosigkeit und Depression unter jenen, die keine Aussicht auf Emigration mehr hatten. Im November 1938 stieg die Zahl der Jüdinnen und Juden im Reich, die sich das Leben nahmen, deutlich an. Schätzungen zufolge lag sie bei 300 bis 500 - so hoch wie seit der Entlassung der jüdischen Beamten und dem Boykott in den Frühjahrsmonaten 1933 nicht mehr - und wie bis zum Beginn der Deportationen im Herbst 1941 nicht wieder. Die Gesamtzahl der Opfer des Pogroms wird auf etwa 1.500 geschätzt.
Um zu verhindern, dass die schnell verarmende jüdische Bevölkerung Wohlfahrtsleistungen in Anspruch nehmen könnte, wurde am 19. November in einer „Verordnung über die öffentliche Fürsorge der Juden“ festgelegt, dass die öffentliche Fürsorge jüdische Hilfsbedürftige nur noch in Ausnahmefällen durfte. Die Intention der Verordnung war deutlich: „Juden sind im Falle der Hilfsbedürftigkeit auf die jüdische freie Wohlfahrtspflege zu verweisen.“ Bereits Anfang 1939 wurde dieses Ziel dann nach Errichtung der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland auch „rechtlich“ fixiert.
Mit dem Pogrom wurden der jüdischen Bevölkerung auch nahezu Sämtliche Möglichkeiten zur Information und öffentlicher Kommunikation genommen. Alle jüdischen Zeitungen und Zeitschriften mussten ihr Erscheinen ebenso schlagartig von einem auf den anderen Tag einstellen wie die Mitteilungsblätter der einzelnen Gemeinden und Verbände. War blieb, war das am 23. November erstmals in Berlin erscheinende „Jüdischen Nachrichtenblatt“, das nunmehr die einzige jüdischen Zeitung in Deutschland war. Das Blatt diente inoffiziell als Presseorgan der Reichsvertretung, dann der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und veröffentlichte bis zur Einstellung im Juni 1943 hauptsächlich die zur Veröffentlichung bestimmten Anordnungen der Behörden. Die Zeitung wurde von den NS-Behörden aufmerksam überwacht, und jede einzelne Nummer musste vom Propagandaministerium genehmigt werden.
Neben den Informationsquellen beschnitt das NS-Regime der jüdischen Bevölkerung in zunehmendem Maße auch jede Bewegungsfreiheit. Mittels einer „Polizeiverordnung über das Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit“ wurden die regionalen Behörden im ganzen Reichsgebiet am 28. November bevollmächtigt, die Bewegungsfreiheit der Juden nahezu beliebig einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen und sie aus bestimmten öffentlichen Bereichen gänzlich auszuschließen.
All diesen Sanktionen und Einschränkungen stand die jüdische Gemeinschaft nicht nur hilf-, sondern für einige Zeit auch führungslos gegenüber. Es dauerte bis zum 29. November, bis die Reichsvertretung der Juden in Deutschland ihre Arbeit in Berlin wieder aufnehmen konnte, und weitere Tage, bis das auch in anderen deutschen Städten möglich war. In Köln etwa konnte die Synagogengemeinde ihre Verwaltungstätigkeit erst im Dezember wieder aufnehmen.