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Chronik und Quellen
1939

Das Jahr 1939

Mit der „Zerschlagung der Resttschechei" und der Bildung des „Reichsprotektorates Böhmen und Mähren" als Vorbedingung für seinen geplanten Angriffskrieg gegen Polen trieb Hitler im März 1939 seine auf die Gewinnung neuen „Lebensraums" gerichtete Politik weiter voran.

Am 23. August sicherte sich Hitler durch die Unterzeichnung eines später „Hitler-Stalin-Pakt“ genannten Nichtangriffsvertrages das Stillhalten der Sowjetunion im Falle eines Angriffs auf Polen. In einem geheimen Zusatzprotokoll vereinbarten beide Staaten zudem die territoriale Neuordnung weiter Teile Osteuropas und die Aufteilung Polens. Der deutsche Angriff auf dessen Staatsgebiet erfolgte dann in den frühen Morgenstunden des 1. September, woraufhin Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich zwei Tage später den Krieg erklärten.

In knapp vier Wochen schloss die Wehrmacht den Feldzug erfolgreich ab. Zugleich begann die gewaltsame Umsiedlung der polnischen Bevölkerung aus den annektierten Gebieten in das „Generalgouvernement“ genannte Restpolen mit der Hauptstadt Krakau.

Im Reichsgebiet selbst brachte der Krieg zahlreiche Änderungen und Einschränkungen: Lebensmittel und Textilien wurden rationiert, oppositionelle Regungen mit nochmals verschärften Strafen geahndet, Steuern angehoben und die berufliche Freizügigkeit noch stärker eingeschränkt.

Im Mittelpunkt stand dabei das Bestreben, die deutsche Wirtschaft auf die Kriegsbedürfnisse umzustellen, wobei sich insbesondere der Mangel an Arbeitskräften in der Rüstungsindustrie und in der Landwirtschaft als ein zentrales Problem der herauskristallisierten. Daher wurde schon lange vor Kriegsbeginn die Lebensarbeitszeit von Beamten verschiedener Ministerien über das 65. Lebensjahr hinaus verlängert, unrentable Handwerks- und Einzelhandelsbetriebe zwangsweise geschlossen und die Eingliederung der dort Beschäftigten in den industriellen Arbeitsprozess verfügt. Da diese Maßnahmen bei Weitem nicht ausreichten, verfügte Hermann Göring als Beauftragte für den Vierjahresplan am 16. November den verstärkten Einsatz polnischer Arbeitskräfte. Hinsichtlich deutscher Arbeitskräfte erlaubten zahlreiche Ausnahmeregelungen eine Verlängerung der Arbeitszeit. Insgesamt brachte das Jahr 1939 eine weiter erhöhte Anspannung der Arbeitskraft bei zugleich fortschreitender Entrechtung am Arbeitsplatz. Hierbei spielte die Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September eine wichtige Rolle.

Bereits im ersten Halbjahr 1939 war die Ernährungslage im Reichsgebiet erheblich beeinträchtigt gewesen, wobei das NS-Regime durch Maßnahmen zur Verbrauchslenkung weiterhin versuchten, den Absatz von Nahrungsmitteln zu fördern, die im Deutschen Reich selbst hergestellt wurden. Am 27. August wurden dann für bestimmte Lebensmittel Bezugscheine eingeführt, denen am 25. September Karten für Milch, Brot, Fleisch, Fett, Marmelade und Zucker sowie für Nährmittel und Kunsthonig folgten. Nunmehr bestimmten die wöchentlichen Bezugsmengen und Sonderzuteilungen den Speiseplan, wobei erschwerend hinzukam, dass die nun angebotenen Lebensmittel in ihrer Qualität oft nicht mehr mit der „Friedensware“ mithalten konnten – „Magermilch“, „Einheitsmargarine“, „Kunstspeisefett“ und „Kunsthonig“ wurden zu Schlagworten der ungeliebten Ersatzstoffe, das „Volkskochbuch für die einfache Küche“ zwangsläufig zur weitverbreiteten Lektüre. Weitere Einschränkungen betrafen nahezu alle Lebensbereiche: So wurde die private Nutzung eines Autos genehmigungspflichtig und jegliche nichtmilitärische Bautätigkeit kam mit Kriegsbeginn weitgehend zum Erliegen.

Allerdings war zu beobachten, dass die Rationierung und die übrigen Einschränkungen und Beeinträchtigungen im Allgemeinen recht klaglos aufgenommen wurde, nicht zuletzt deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur an einen gewissen Grad von Mangelwirtschaft gewöhnt war, sondern auch, weil die die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln besser funktionierte als während des Ersten Weltkrieges.

Verdrängung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung

Zum Jahresbeginn setzte sich der im November des Vorjahres begonnene Prozess der völligen Verdrängung, Diskriminierung und Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung ungebremst fort. Am 1. Januar trat die Namensänderungsverordnung, nach der Jüdinnen und Juden künftig zu Zusatznamen „Sara“ und „Israel“ tragen mussten, ebenso in Kraft wie die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“. Juden durften nun keine Gewerbe-, Handwerks- oder Handelsbetriebe mehr führen. Und am 31. Januar erloschen zudem die Bestallungen jüdischer Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker.

Hinzu kam noch eine weitaus massivere, im Wortsinn lebensgefährliche Bedrohung: In seiner Rede zum sechsten Jahrestag der NS-Machtübernahme ließ Hitler am 30. Januar keinerlei Zweifel daran, was im Fall eines Krieges auf die Juden im deutschen Einzugsbereich zukommen würde: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis (…) die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa sein.“ Diese unmissverständliche Aussage steigerte die Panik innerhalb der jüdischen Bevölkerung, zumal Begriffe wie jener der „endgültigen Lösung der Judenfrage“ nun immer häufiger in den Zeitungen auftauchten.

Die Reaktionen waren unterschiedlich. Auf der einen Seiten häuften sich die Selbstmorde, die keinen Ausweg mehr sahen, auf der anderen Seiten versuchten immer mehr Menschen - oft panisch und wohin auch immer - das Land zu verlassen. Das konnte jedoch nur jenen gelingen, die noch über die notwendigen Mittel dazu verfügten bzw. die von der Jüdischen Gemeinde oder Hilfsorganisationen ausreichend unterstützt wurden, um sich die notwendigen Einreisepapiere beschaffen zu können. 1939 verfügten nur noch 16 Prozent der jüdischen Bevölkerung im „Altreich“ über ein Vermögen von mehr als 5.000 RM. Dennoch gelang allein in den ersten beiden Monaten des Jahres 1939 mehr als 6.400 Jüdinnen und Juden allein aus Berlin die Flucht ins Ausland. Damit hatte sich die Zahl der dort gezählten Emigranten aufgrund der Pogrompolitik gegenüber Januar 1938 um das Vierzehnfache erhöht.

Der Prozess massiver Verarmung wurde unerbittlich fortgesetzt. Die umfassende „Arisierung“ und die Berufsverbote führten dazu, dass im Mai 1939 von den über 14-jährigen Juden in Deutschland rund 71 Prozent als „berufslose Selbstständige“ galten, die – so denn überhaupt vorhanden - von eigenem Vermögen, Renten oder anderen caritativen Zuwendungen leben mussten. Trotz dieses steilen sozialen Abstiegs verschärfte das NS-Regime die Vermögenskontrolle im August 1939 noch weiter, indem alle Juden verpflichtet wurden, ihr Bargeld auf Sperrkonten zu deponieren. Abgesehen von einem gering bemessenen Freibetrag für die Lebenshaltungskosten war nunmehr jede Verfügung über den eigenen Besitz genehmigungspflichtig und wurde nur sehr eingeschränkt gewährt. Damit waren die deutschen Juden kurz vor Kriegsbeginn zu reinen „Bezugsempfängern“ degradiert worden. Neben der Verarmung kennzeichnete die zunehmende Überalterung die Situation der jüdischen Bevölkerung. Im alten Reichsgebiet war der Prozentsatz der Juden über vierzig Jahre von 47,7 Prozent im Jahre 1933 auf 73,7 Prozent im Jahr 1939 gestiegen.

Auch auf anderem Gebiet kam es zu einer weitreichenden Degradierung. Im Februar 1939 wurde die „Reichsvertretung“ zur „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ umgebildet und am 4. Juli 1939 gesetzlich verankert. Mit Leo Baeck an ihrer Spitze musste die Reichsvereinigung regelmäßig der Gestapo Bericht erstatten und von ihrer Seite Anweisungen entgegennehmen. Die jüdische Selbstverwaltung war zum reinen „Befehlsempfänger“ geworden, der in all seinem Tun von Sichtweise und Willkür der Gestapo abhängig und in der öffentlichen Wahrnehmung zu deren „Handlanger“ mutiert war.

Der 1. September 1939 bedeutete für die jüdische Bevölkerung im Reichsgebiet eine tiefe Zäsur. Nun war sie nicht nur gesellschaftlich isoliert, sondern in einem ihr feindlich gesonnenen Land eingesperrt, das Krieg führte. Mit Kriegsbeginn verschärfte das Regime seine antijüdische Politik umgehend, wozu als fadenscheinige Begründung das angeblich „provozierende Verhalten“ der Juden genannt wurde, das aufgrund des Kriegszustandes in der Bevölkerung „Anstoß“ errege und keinesfalls geduldet werden könne. Victor Klemperer war sich bereits Anfang September 1939 sicher, angesichts des Krieges sei für die deutschen Juden „eine Morphiumspritze oder Entsprechendes das Beste“, denn „unser Leben“ sei nunmehr ohnehin „zu Ende“.

Das mussten sehr bald auch die erkennen, die nunmehr noch verzweifelter alles daran setzen, noch rechtzeitig aus dem Deutschen Reich zu emigrieren. Obwohl das NS-Regime den Druck zur Auswanderung unvermindert hoch hielt, baute es zugleich immer höhere Hürden auf, die diesen Schritt verhinderten. Zuvor bereits systematisch enteignet und mit rigiden Einwanderungsbestimmungen möglicher Zielländer konfrontiert, waren die meisten Versuche in diese Richtung zum Scheitern verurteilt. Auch die jüdischen Institutionen, zu deren Hauptaufgabe die Organisation die Auswanderung möglichst vieler Juden längst geworden war, waren nach Kriegsbeginn auch in dieser Hinsicht weitgehend machtlos. Hatten zwischen 1933 und 1939 rund 247.000 Juden aus Deutschland emigrieren können - aus dem „Altreich“ allein in den acht Monaten zwischen Januar 1939 und Kriegsbeginn etwa 80.000 -, gelang es danach bis zum Auswanderungsverbot im Oktober 1941 nur noch etwa 30.000 bis 35.000 Juden, aus dem „Großdeutschen Reich“ einschließlich dem „Protektorat“ zu emigrieren.

Unter den Eingesperrten machte sich zunehmen Verzweiflung und Aussichtslosigkeit breit. Dass wurde nicht zuletzt durch eine neue Form der wirtschaftlichen Ausplünderung forciert, mit der sich Auswanderungswillige seit dem 25. Februar 1939 konfrontiert sahen. Alle von ihnen, die ein Vermögen von mehr als 1.000 RM besaßen, mussten im Falle ihrer Emigration eine „Auswandererabgabe“ in Höhe von 0,5 bis 10 Prozent des jeweiligen Vermögens zahlen, die an die „Reichsvereinigung“ zu entrichten war – angeblich, um so auch bedürftigen Juden die Auswanderung ermöglichen. Im Dezember 1939 wurde diese Abgabe nochmals erhöht. Sie konnte bei Vermögen von über 10.000 RM nunmehr zwischen 10% und 60% betragen. All die Regelungen, die darauf abzielten, dass Juden keinerlei Werte ins Ausland mitnehmen konnten, griffen schließlich fast lückenlos.

Mit der schnellen Kapitulation Polens wurden auch die dort lebenden Juden zu hilflosen Opfern des NS-Regimes und seiner gnadenlosen Vollstrecker vor Ort. Die Zuständigkeit für die praktische Umsetzung des schnell in Gang gesetzten gigantischen Mordprogramms in den eroberten Gebieten lag in den Händen von Reinhard Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes. Er initiierte bald nach Kriegsbeginn die berüchtigten „Einsatzgruppen“ und verfügte die Gettoisierung der jüdischen Bevölkerung in Polen. Es war Heydrich, der die von Hitler am 30. Januar 1939 für den Kriegsfall angekündigte „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ von Beginn an organisierte, dabei die Ministerialbürokratie in diese Planungen einband und zugleich SS-Führern seines Vertrauens weitgehende Handlungsfreiheit gewährte. So schuf er früh die wesentlichen Voraussetzungen für eine systematische Durchführung des Judenmords in ganz Europa.

Das erkannte durchaus auch die Weltöffentlichkeit. so berichtete die britische Tageszeitung „The Times“ bereits im Dezember 1939 über das Vorhaben, in der Gegend bei Lublin eine Art Reservat zu errichten. Dabei, darüber ließ der Artikel keinerlei Zweifel, handele sich um einen „Ort, der eindeutig der schrittweisen Vernichtung dienen soll und nicht etwa als Lebensraum, wie es die Deutschen nennen würden“.

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