Danzig, 1. Bericht: Die Judenverfolgungen beherrschen eigentlich auch heute noch das gesamte öffentliche Leben in Danzig. Sie gehen nicht mehr so tumultös vor sich, sind deshalb aber nicht weniger geeignet, die Juden vollkommen zu ruinieren und ihnen das Leben unmöglich zu machen. Bekanntlich hat man in Danzig davon Abstand genommen, den Juden, wie im Reich, eine Bußezahlung aufzuerlegen. In Danzig gibt es auch keinen Zwang zur Vermögensanmeldung. Man macht deshalb alles, was zur Ausfledderung geeignet ist, über die Steuerkontrolle. Man hat eine Verordnung erlassen, die Vermögensbeschlagnahme zuläßt in Fällen, in denen die Gefahr besteht, daß die Steuern für das laufende oder kommende Jahr nicht eingehen. Diese Gefahr besteht selbstverständlich bei allen Juden, gleich welcher Staatsangehörigkeit, und deshalb sind praktisch alle jüdischen Vermögen beschlagnahmt, alle jüdischen Bankkonten blockiert worden.
Die polnische Regierung hat für ihre Staatsbürger jüdischen Glaubens gegen diese Maßnahme eine Intervention unternommen, die auch nach längerer Zeit Erfolg gehabt hat. Seit dem 8. Dezember sind auf Grund dieser Intervention sämtliche Bankkonten polnischer Staatsbürger wieder freigegeben worden. Es handelt sich dabei um die Mehrzahl der Danziger Juden, freilich auch um die weniger vermögenden.
Gegen die Juden Danziger Staatszugehörigkeit hat man in zahlreichen Fällen neue Repressalien vorgenommen. So mußten, in den ersten Tagen des Dezember sämtliche Besitzer einer Telephonanlage, soweit sie Danziger oder reichsdeutsche Juden sind, einen Betrag von 250 Gulden Kaution an das Telegraphenamt zahlen. Diese Kaution wird nicht begründet, es ist auch keinerlei Veröffentlichung darüber erfolgt. Ich kenne einen Fall, in dem einem Juden mündlich erklärt worden ist, die Kaution werde deshalb eingefordert, weil der Staat sein Eigentum sicherstellen müsse, und weil Juden bekanntlich immer unzuverlässig seien.
Kurze Zeit darauf erfolgte eine ähnliche Repressalie. Jetzt mußten alle Juden, die über elektrische und Gas-Anschlüsse verfügen - und das dürften wohl fast alle sein ebenfalls eine Kaution zahlen. Bisher kenne ich nur zwei Fälle, in denen man die Anschlüsse einfach plombiert hat, weil die Wohnungsinhaber nicht in der Lage waren, die Kaution zu j hinterlegen. Sie sollte in beiden Fällen 250 Gulden betragen.
Die wenigen jüdischen Geschäfte, die in Danzig noch existieren, - es handelt sich bei den Inhabern fast ausschließlich um polnische Juden - durften in diesem Jahre an den beiden Sonntagen vor Weihnachten j nicht ihre Läden öffnen. Es ist ihnen sogar befohlen worden, an den Sonntagen die Schaufenster nicht zu erleuchten.
Ein sehr bekannter Danziger Jude, der Großkaufmann und Holzindustrielle Julius Jewelowski, der eine Reihe von Jahren nebenamtlicher Senator war, und der Liberalen Partei angehörte, hatte bereits vor dem Pogrom Danzig verlassen. Er hatte einen Teil seines Vermögens retten können, ein anderer Teil lag in Polen in Grundbesitz fest. Jewelowski hatte noch einige geschäftliche Angelegenheiten in Danzig zu regeln. Er kam deshalb von London noch einmal nach Danzig zurück. Bereits am ersten Tage seines Aufenthaltes wurde er verhaftet. Ein Grund lag nicht vor, deshalb suchte man einen solchen während seiner Haft. Man fand ihn auch. Auf den Aufhängern seines Mantels und seines Anzugs fand sich nämlich der Stempel einer reichsdeutschen Firma. Es wurde nun unterstellt, daß Jewelowski die beiden Gegenstände nach Danzig zollfrei hereingebracht habe. Die Angabe, daß J. sich die Bekleidungsstücke im Reich aus seinem dortigen Vermögen gekauft, und daß er aus geschäftlichen Gründen wiederholt monatelang im Reich gelebt habe, eine nachweisbare Tatsache, wurde verworfen. Jewelowski wurde im Unterwerfungsverfahren zu 100 000 Gulden Geldstrafe bzw. Gefängnis verurteilt. Er mußte, um die Freiheit zu erlangen, tatsächlich diese Summe im Ausland flüssig machen und sie der Zollverwaltung zur Verfügung stellen. Wieviel ihm dann noch von seinem Vermögen geblieben ist, weiß ich nicht. Jewelowski wurde, nachdem er die Geldstrafe gezahlt hatte, von der Polizei bis zur polnischen Grenze gebracht, ohne daß er in Danzig irgend etwas hätte erledigen können. Er mußte vorher auf der Polizei noch einen Revers unterschreiben, in dem er sich verpflichtete, nie mehr nach Danzig zurückzukommen.
2. Bericht: Die Danziger Gesetzgebung ist in der letzten Zeit weiter der des Reiches angeglichen worden. Am 13. Dezember ist eine Verordnung des Senats erschienen, durch die Juden der Besitz und die Führung von Waffen untersagt wird. Mit dem 1. Januar 1939 kommt ferner die Kinderermäßigung bei jüdischen Steuerzahlern in Fortfall. Zwischen Weihnachten und Neujahr ist auch noch die letzte Angleichung der Danziger Gesetzgebung an die Nürnberger Gesetze erfolgt. Ferner ist eine Anordnung des Polizeipräsidenten erlassen worden, nach der ab 1. Januar 1939 nur noch zwei jüdische Ärzte im gesamten Freistaatgebiet zur Ausübung ihrer Praxis zugelassen sind. Es handelt sich in Danzig um einen Spezialarzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, in Zoppot um einen Internisten.
Über das Schicksal der verhafteten Juden erhalten wir die folgenden Berichte:
Berlin: Im allgemeinen kann man schätzen, daß in Berlin 40% der männlichen Juden verhaftet worden sind. Im Osten Deutschlands dagegen sind 90 bis 100% verhaftet worden, so z. B. in Liegnitz, Görlitz und in den kleineren Nestern längs der polnischen Grenze.
Die Verhafteten kamen zum kleineren Teil nach Sachsenhausen, zum größeren Teil nach Buchenwald. Mehrere Angehörige von Verhafteten haben in den Tagen darauf die Nachricht erhalten, daß der Verhaftete verstorben sei.
Die Juden, die während der Monate Juni und Juli verhaftet und ins Konzentrationslager eingeliefert worden sind, sind dort sehr schlimm behandelt worden. Man hing ihnen Schilder mit Aufschriften: „Ich bin ein dreckiger Jude“ - „Ich bin ein Judenschwein“ usw. um den Hals und ließ sie so durch das Lager marschieren. Sie wurden gezwungen, diese Beschimpfungen in allen möglichen Variationen den SS-Leuten gegenüber selbst zu wiederholen. Nachts wurden sie plötzlich aus dem Schlaf gejagt, mußten im Hemd, trotz der Kälte, eine Stunde lang auf dem Hof exerzieren, wurden dann wieder in die Schlaf säle zurückgejagt und nach zwei Stunden erneut herausgeholt. Alle hatten keine genügende Wäsche und Kleidung und froren, je kälter es wurde, immer jämmerlicher. Es gab dann unter ihnen auch sehr viele Kranke. Die Leute mußten 10 Stunden im Steinbruch schwer schuften und erhielten dabei noch schlechteres Essen als die übrigen Gefangenen. In Sachsenhausen wurden zwei Leute auf der Flucht erschossen. Die Ausfallstraße nach Oranienburg wurde in diesen Wochen ständig von motorisierter SS bewacht. Auch die Bahn nach Oranienburg stand eine Zeit lang unter SS-Bewachung.
Für die Entlassung aus dem Konzentrationslager verlangt die Gestapo die Vorlegung folgender Papiere: Es muß nachgewiesen werden, daß der betreffende Jude auswandern will und kann, und daß dagegen keine Einwendungen zu erheben sind. Deshalb ist eine Unbedenklichkeitsbescheinigung des Finanzamtes und der kommunalen Steuerbehörde vorzulegen. Weiter ist ein Nachweis der Auswanderer-Beratungsstelle beizubringen, daß der Jude dort gemeldet ist. Ferner muß ein Leumundszeugnis der Polizei vorgelegt werden und häufig noch eine besondere Bescheinigung des zuständigen Polizeiamts über das einwandfreie Verhalten des Betreffenden in der letzten Zeit. Schließlich ist der Nachweis zu erbringen, daß die Auswanderung entsprechend vorbereitet ist, sei es durch Vorlegung konsularischer Bescheinigungen, sei es durch Vorweisung von Schiffskarten usw. Regelmäßig stellt dann die Gestapo noch besondere Ermittlungen an. Sie fragt vor allem bei der Reichskriminalstelle an, ob gegen den Betreffenden etwas vorliegt. (Diese Reichskriminalstelle, die erst seit einiger Zeit besteht, ist ähnlich organisiert wie die Strafregisterbehörde. Sie führt eine umfangreiche Kartothek über alle Vorstrafen und erstattet der Gestapo ein Gutachten darüber, ob die Entlassung unter kriminalistischen Gesichtspunkten zulässig ist. Im allgemeinen war zu beobachten, daß diese Stelle einwandfrei arbeitete.)
Selbst wenn für einen Juden im Konzentrationslager alle diese Papiere ordnungsgemäß beschafft worden sind, hängt es ganz vom Zufall ab, ob er wirklich frei kommt. Die Polizei findet immer neue Vorwände, um die Freilassung zu verhindern. Es werden neue Recherchen angestellt; es wird behauptet, daß die Akten nicht auffindbar seien; es werden neue Ausweise angefordert usw. Ein Beamter, der um Beschleunigung eines Falles gebeten wurde, entgegnete: „Die Spree hat noch Wasser genug, wozu solche Eile.“ - Man gewinnt jedenfalls den Eindruck, daß es die Behörden darauf anlegen, die Entlassung der Juden solange wie möglich hinauszuzögern. Vielleicht will man verhindern, daß die Juden noch unter dem frischen Eindruck der erlittenen Mißhandlungen ins Ausland kommen und dort entsprechend berichten.
Im allgemeinen kann man sagen, daß bis jetzt höchstens 30% der Juden, für die alle Papiere zusammengebracht werden können, wirklich entlassen worden sind. Aber auch das dauert nach den bisherigen Erfahrungen mindestens drei Monate. Am schwierigsten ist es mit politisch Vorbestraften, und zwar auch dann, wenn die Urteile vor dem Umsturz ergangen sind. Im ganzen kann man aber nicht erkennen, daß die Polizei nach einem bestimmten System vorgeht. Es hängt sehr häufig vom Zufall ab, ob jemand freikommt oder nicht.
Wird jemand entlassen, so wird ihm aufgegeben, das Land binnen einer bestimmten Frist zu verlassen, widrigenfalls er wieder verhaftet würde. In sehr vielen Fällen ist es nicht möglich, diese Ausreisefrist zu wahren, weil der Paß nicht zu beschaffen ist, sei es, daß die Polizei die Ausstellung des Passes verzögert oder daß sie den Antrag überhaupt ablehnt. Allerdings sind mir bisher keine Fälle bekanntgeworden, in denen die angedrohte Wiederverhaftung tatsächlich erfolgt ist.
Schlesien: Aus Gleiwitz, Beuthen und Hindenburg wird berichtet, daß eine Reihe von früher vermögenden Kaufleuten aus den Konzentrationslagern entlassen wurde, damit sie ihre Besitzverhältnisse in Ordnung bringen können. In den meisten Fällen wurde ihnen der Betrag, den sie als Beitrag zur Kontribution erlegen sollen, schon im Konzentrationslager genannt. Dabei übersteigen die Beträge weit den früheren Besitz, trotzdem unterschreiben die Entlassenen alles, um nur die Konzentrationslager verlassen zu können.
Westfalen: Bericht aus dem Konzentrationslager Buchenwald: An dem bekannten Pogrom-Morgen wurde ich mit anderen Glaubensgenossen verhaftet und mittels Lastauto bei der Gestapo in Bielefeld abgeliefert. Nach langem Herumsitzen wurden ca. 25 Mann aufgerufen, denen ein Papier zur Unterschrift vorgelegt wurde. Auch ich mußte unterschreiben, ohne daß ich Gelegenheit hatte, den Text durchzulesen. Wir wurden dann verladen und kamen unter Bewachung von SS-Leuten nach Weimar. Hier angekommen, mußten wir auf dem Bahnsteig antreten in Reihen zu 5 Mann und wurden dann durch die Unterführung auf die Straße geführt. Links und rechts auf dem Bahnsteig, der Treppe und der Unterführung standen grün angezogene Leute, die wir für Schupo hielten, die aber nach ihrem Benehmen verkleidete SS-Leute waren. Auf der Treppe stellten sie den Leuten das Bein, so daß viele hinfielen. Da die anderen nachdrängten, gab es schon hier zahlreiche Verletzte. In der Unterführung mußten sich je 5 Mann mit dem Gesicht zur Wand auf stellen und wurden von den Grünen mit der Reitpeitsche bearbeitet.
Nachdem wir auf Autos verladen worden waren, mußten wir Hut oder Mütze über den Kopf ziehen, den Kopf nach unten halten und dann ging es in einem scharfen Tempo nach Buchenwald. Unterwegs mußte ein Rabbiner ein hebräisches Gebet sprechen und es dann ins Deutsche übersetzen. Als dabei das Wort „Gon“ fiel, wurde er verhöhnt: „Wir werden Dir Deinen Gottesglauben schon austreiben. Wenn Dein Gott existiert, so kann er Dir ja jetzt helfen.“ Vor der Einfahrt in Buchenwald wurden die Leute darauf aufmerksam gemacht, daß in der Nähe ein Zoologischer Garten sei und daß die Bären besonderen Appetit nach Judenfleisch hätten.
In Buchenwald angekommen, mußten wir uns aufstellen. Nach und nach waren wir ca. 12 000 Mann, wovon die Hälfte in zwei großen Baracken untergebracht wurde. Wir selbst, d. h. die restlichen 6000, erhielten Kaffee, Brot und Marmelade und wurden dann in eine unfertige noch ungedeckte Baracke gebracht, wo im höchsten Fall 3000 Mann normalerweise Platz hatten. Die Baracke war ohne Fußboden. Das Lager ist auf Waldgelände angelegt und der Boden war eine Lehmmasse.
Die Schlafgelegenheit bestand aus Brettern, die in 4 Etagen, je 40 cm übereinander, angebracht sind. Jeder, der Platz fand, legte sich dahin ohne Unterlage und ohne Decke. Licht war nicht vorhanden und es wurde den Leuten verboten, die Baracke zu verlassen. In der Nacht bekamen nun beinahe alle einen fürchterlichen Durchfall. Anscheinend war etwas in der Marmelade. Da aber keiner sein Leben riskieren wollte, verließ keiner die Baracke.
Gegen 12 Uhr in der Nacht kamen plötzlich drei in rote Mäntel gehüllte Leute, die sich wahllos ein Dutzend von uns herausholten. Wir hörten sie im Freien fürchterlich schreien und haben sie nicht mehr gesehen. Auch am zweiten und dritten Abend erschienen diese roten Teufel, und wir wissen nicht, wo diese 36 Menschen hingekommen sind. Jeder Einzelne von uns hat bei dem Verschwinden an die Bären im Zoologischen Garten gedacht. In der Nacht und auch in den folgenden Nächten sind eine Reihe unserer Leute irrsinnig geworden und haben Tobsuchtsanfälle bekommen. Wir haben sie mit Hilfe der ebenso eingelieferten jüdischen Ärzte gebunden und versucht, sie mit kalten Waschungen zu beruhigen. Wir konnten selbstverständlich erst früh etwas tun, und man kann sich nicht vorstellen, was eine solche Nacht für jeden Einzelnen bedeutet hat.
Am zweiten Morgen mußten wir antreten, ein SS-Führer ging die Reihe ab und jeder einzelne, der irgend eine Verwundung im Gesicht hatte, wurde nach dem Ursprung dieser Verletzung gefragt. Die ersten, die antworteten, daß sie von SS-Leuten geschlagen worden seien, wurden niedergeschlagen und mißhandelt, bis sie sagten, die Verwundung hätten sie sich schon zu Hause durch eigenes Verschulden zugezogen. Die Leute mußten dann im Freien niedersitzen und es wurde ihnen verboten, aufzustehen. Vier Mann, die dies doch taten, da sie ihr Bedürfnis verrichten wollten, wurden von der Wache gemeldet und nach zwei Stunden zu je 25 Stockhieben verurteilt. Die Vollstreckung dieses Urteils geschah im Beisein der 6000 Mann. Jeder der vier Mann mußte den Rücken entblößen, wurde auf einen Bock gelegt, festgebunden und bekam dann von einem SS-Mann mit einer Lederpeitsche 25 Hiebe.
Als Nahrung bekamen die Leute morgens Kaffee mit Marmelade, mittags ein Eintopfgericht mit Fleisch, wahrscheinlich Pferdefleisch, und abends ein halbes Pfund Brot mit einem Stückchen Käse oder zwei Scheiben Wurst. Das Brot mußte für einen ganzen Tag reichen. Am vierten Tag hörten die Drangsalierungen auf und es war auch eine neue Baracke festgestellt, so daß in jeder nur noch 3000 Mann hausten. Das Essen dauerte am Anfang sehr lange, da Eßgeschirr nur sehr wenig vorhanden war, so daß immer 10 oder 12 Mann nach und nach aus einer Schüssel mit einem Löffel oder einer Gabel essen mußten. Nach einigen Tagen konnte man für sein eigenes Geld in der Kantine Eßgerät kaufen, ebenso Lebensmittel, Pullover, Unterwäsche und Strümpfe. Die Kranken wurden von den gefangenen jüdischen Ärzten behandelt. Die Arzneien konnten bei dem im Lager errichteten Roten Kreuz erworben werden. Ein besonderer Raum für die Kranken war nicht vorhanden, so daß diese in der großen Baracke lagen, bis sie starben. Ein 70 Jahre alter Mann, der nicht solange, wie verlangt wurde, im Freien herumstand und sich an einen Baum lehnte, fiel zusammen. Der SS-Führer befahl ihm, aufzustehen und da er hierzu zu schwach war, wurde er geschlagen und getreten und zuletzt an dem Baum festgebunden. Dieser Mann starb nach vier Tagen trotz ärztlicher Behandlung auf einem Tisch in der Baracke.
Arbeiten mußten die Gefangenen nicht, sie mußten nur Freiübungen machen und wenn ein SA-Mann sie schonen wollte, so standen sie stundenlang in der Kälte. Nach zwanzig Tagen wurde ich entlassen. Ich wurde frühmorgens mit ca. 300 Leuten auf einen besonderen Platz gerufen. Wir wurden nach Feststellung der Personalien darauf aufmerksam gemacht, daß wir nicht erzählen dürften, wie es im Lager war und daß die Nazis überall ihre Leute hätten. Wenn einer etwas erzählt und deshalb noch einmal eingeliefert werde, würde die SS dafür sorgen, daß er nie mehr etwas erzähle. Wir wurden nun alle rasiert und bekamen die Haare geschnitten. Dann wurden wir vom Arzt untersucht und Leute mit einem Wundmal oder mit blauen Flecken wurden entlassen, wenn sie angaben, daß die Wunde schon alt sei. Dann wurde uns wieder ein Vortrag gehalten, indem der Redner die Hoffnung aussprach, daß wir uns „gebessert“ hätten. Wenn wir dies beweisen wollten, so hätten wir jetzt Gelegenheit, für das WHW zu stiften und wir wurden an den Sammelbüchsen vorbeigeführt. Hierauf mußten wir die selbstgekauften Eßgeräte abliefern und für die Eßgeräte, die uns gestellt worden waren, die wir aber gar nicht benutzt hatten, pro Mann 3 RM Abnützung bezahlen. (Das Geld hatte man uns weder bei der Verhaftung noch bei der Einlieferung abgenommen.) Jetzt ging es an den Fahrkartenverkauf und diejenigen, die kein Geld hatten, mußten rechts heraustreten. Die übrigen wurden aufgefordert, soviel Geld herzugeben, daß auch die anderen sich Fahrkarten kaufen könnten. Es wurde erklärt, daß keiner vom Platz käme, bis jeder genügend Geld für seine Fahrkarte habe. Als dies nun endlich geregelt war, wurden wir abends 8 Uhr an den Ausgang geführt. Hier bat ein alter Mann um eine Fahrgelegenheit, da er die 8 Kilometer nach Weimar nicht laufen könne. Der betreffende Wachthabende erklärte, er sei gern bereit, nach Autos zu telefonieren, und es könne jeder fahren, wenn er das Auto bezahle und ihm die Gebühr für das Telefongespräch erstatte. Der alte Herr zahlte gerne 3 RMk für das Gespräch, aber der Beamte erklärte, daß er nur dann für die anderen telefoniere, wenn jeder Mann für das Telefongespräch bezahle. Es blieb nun nichts anderes übrig, als daß jeder Mann einige Mark hergab, und so wurden für ein Telefongespräch 5 bis 600 RM zusammengebracht. Hierauf kamen von Weimar Taxis, die vollgepfropft wurden, nachdem jeder Mann eine Mark bezahlt hatte.
Ich kam dann glücklich in der Heimat an, und es stellte sich heraus, daß ich entlassen worden war, weil meine Auswanderungspapiere in Ordnung waren und meine Frau ein Gesuch gemacht hatte. Zu meinem Schrecken mußte ich feststellen, daß mein Auto verschwunden war. Als ich meine Angehörigen befragte, wurde mir erklärt, daß ich das Auto ja selbst der Winterhilfe geschenkt habe. Ich bestritt dies und erkundigte mich. Nun erfuhr ich, daß der Schein, den man mir in Bielefeld zur Unterschrift vorgelegt hatte, eine Schenkungsurkunde für das WHW war.
Mitteldeutschland: In X. wurde gelegentlich der letzten Judenverfolgungen neben vielen anderen auch ein deutscher Jude verhaftet. Der Mann ist mit einer Christin verheiratet. Nachdem er sich bereits sechs Wochen in Haft befand, fuhr der Bruder des Verhafteten, der im Ausland lebt und auch ausländischer Staatsbürger ist, nach Deutschland, um zu versuchen, seinen Bruder aus der Haft zu befreien und mit ins Ausland zu nehmen. Da er - obgleich er Jude ist - gute Beziehungen zu leitenden Parteimännern hat, gelang es ihm, binnen kurzem seinen Bruder aus der Haft zu befreien. Nicht nur das, man erlaubte ihm auch sofort die Ausreise nach . . . Der Verhaftete ist ein Mann von fünfzig Jahren, der an einem schweren chronischen Leiden erkrankt ist, ohne es allerdings selbst zu wissen. (Die Ärzte und Angehörigen verschweigen es ihm.) Trotz seiner schweren Krankheit, die auch äußerlich an seinem sehr elenden Zustande erkennbar ist, war der Schwerkranke in Haft behalten worden. Die ersten drei Wochen wußte seine Familie überhaupt nichts über seinen Aufenthalt. Die Behandlung während der Haftzeit war im allgemeinen einwandfrei. Die Gefangenen hatten geregeltes Essen, durften aber nicht schreiben. Man sagte ihnen auch nicht, was mit ihnen geschehen würde. Fragten die Juden danach, erhielten sie vom Wachpersonal, meistens ganz jungen SA-Leuten, nur die Antwort: „Das werdet Ihr schon sehen.“
3. Propaganda und Widerstand
Die deutschen Machthaber, die deutlich spürten, daß die Pogrome im deutschen Volk auf entschiedene Ablehnung gestoßen sind und dem Ansehen des Regimes sehr geschadet haben, versuchen die Schlappe durch erhöhte antisemitische Propaganda und durch Einschüchterung der Aufbegehrenden wettzumachen. Die deutsche Presse gießt eine Flut wüstester Beschimpfungen über die Juden aus. Besonders beliebt ist der Trick, in Statistiken über das jüdische Vermögen phantastische Ziffern von nie erreichter Höhe zu veröffentlichen. Sogenannte wissenschaftliche Institute - wie das „Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands“ - versuchen der Rassenhetze ein seriöses Ansehen zu geben, ganze „wissenschaftliche Vortragsreihen“ über die Judenfrage werden in den einzelnen Universitäten abgehalten, die Schulen stellen ihren Lehrplan mehr und mehr auf rein „rassische Gesichtspunkte“ um. Aber es zeigt sich, daß es hier auch Grenzen gibt. Es sind den deutschen Juden in den letzten sechs Jahren so grauenhafte Dinge nachgesagt worden, daß eine Steigerung kaum noch möglich ist. Selbst dem „Stürmer“ ist es trotz ehrlicher Anstrengung nicht gelungen, seine dauernden Haßorgien in den Pogromtagen erheblich zu steigern. Und wenn der oberste Parteirichter der NSDAP, Buch, in der „Deutschen Justiz“, dem amtlichen Organ der deutschen Rechtspflege, den Satz veröffentlichen läßt: „Der Jude ist kein Mensch. Er ist eine Fäulniserscheinung“, so erregt das bei niemandem mehr Aufsehen.
Die folgenden beiden Berichte geben einen ungefähren Begriff von Art und Niveau der antisemitischen Propaganda:
Sodwestdeutschland: Am 5. Dezember brachte der Saarbrücker Sender eine Darbietung des Ensembles „Der rote Faden“, die sich durchwegs mit den Juden befaßte. Eine Sendung von so niedrigem Niveau hätte man noch vor einiger Zeit selbst in Deutschland für unmöglich gehalten. Die Hervorhebung von zwei Nummern wird genügen, um dies zu beweisen. Ein „Künstler“ sang das Kinderliedchen von den 10 kleinen Negerlein, von denen immer eins weniger wurde, bis keins mehr übrig war, aber abgewandelt auf die Juden. In allen Reimen haben sie gemordet, betrogen, die Welt beschwindelt, Greuelnachrichten verbreitet und zum Schluß hieß es dann: „Bald sind sie alle weg!“ Dann kam eine Szene in Afrika. Man hört Negermusik und erfährt bald, daß zur Begrüßung eines Deutschen aufgespielt wird, der sich zum Besuch angemeldet hat. Der Häuptling begrüßt ihn feierlich und freut sich, daß nun bald wieder die Deutschen da sein werden. Der Besucher erklärt, er komme nur, um Quartier zu machen und als der Häuptling fragt für wen, bekommt er zur Antwort, für die Juden, die jetzt in den Kolonien angesiedelt werden sollen. Daraufhin brechen die Neger in laute Klagelieder aus und beteuern, sie wollten keine Juden. Sie hätten nicht 20 Jahre auf die Wiederkehr der Deutschen gewartet, um nun nichts als Juden zu bekommen. Der Deutsche erklärte dann, die Juden seien Ungeziefer, Wanzen, die man in Deutschland nicht brauchen könne und belehrt die Neger, wie man Wanzen im allgemeinen behandelt und empfiehlt ihnen auch die Anwendung dieses Rezeptes.
Am nächsten Tag, am 6. Dezember, also am Tag der Unterzeichnung der deutsch-französischen Erklärung, brachte der Saarbrücker Sender um ½10 Uhr abends deutscher Zeit eine Sendung betitelt: „Von den Juden, ihren Lügen, Schlichen usw.“ Hier war das Niveau womöglich noch niedriger. Eine Wirtshausgruppe erzählte Erlebnisse mit Juden, bei denen die Juden natürlich immer sehr schlecht wegkamen. Ein Nagelschmied, so wurde da u. a. erzählt, soll einmal dem Schinderhannes geklagt haben, daß ihn der Jude Nathan so arg schikaniere. Schinderhannes versprach Abhilfe, fing den Juden ein, legte ihn auf den Tisch des Nagelschmiedes und klopfte ihm sämtliche Nägel in den Hinteren, die gerade zur Verfügung waren. In diesem Zustand ließ er dann den Juden laufen. Die Künstler brachen dabei in ein großes Gelächter aus. Dann kam eine Szene im jüdischen Wäschegeschäft, wo zwei Frauen die Preise für eine Unterbux viel zu hoch finden und sich entfernen mit den Worten: „Du dreckiger Jud, behalt Deine Ware.“ Eine Szene auf dem Viehmarkt endigt im Stall, wo der Jude das Geld für die verkaufte Kuh abholen will und sich dann mit seiner Kuh hinaus jagen lassen muß unter Beschimpfungen wie „Gauner, dreckiger Jud, Du hast die Kuh mit Klee gefüttert, damit sie dick war und den Eindruck einer trächtigen Kuh machte“. Auf dem gleichen Niveau standen auch die übrigen Szenen. Kein anständiger Mensch hätte geglaubt, daß man den Rundfunk einmal so mißbrauchen könnte.
Schlesien: In den Versammlungen der Nazis, ja selbst bei Belegschaftsversammlungen in den Betrieben, werden Versuche unternommen, die Pogrome zu rechtfertigen. Nicht nur das Vorgehen der Araber in Palästina, sondern jede antisemitische Ausschreitung in Polen oder sonstwo in der Welt wird als Beweis dafür herangezogen, daß sich die ganze Welt gegen das Judentum wehrt und Deutschland in seinem Bestreben, den Hauptfeind der Menschheit zu beseitigen, nur ein Vorbild für andere sei. „Die Demokratien wehren sich ja auch gegen die Juden. Niemand will sie haben, nur Deutschland soll diese Parasiten erhalten.“ Dort, wo die Bevölkerung, wie in der Slowakei oder in Ungarn, sich von der Demokratie freigemacht habe, dort würden auch „Säuberungen von der Weltgefahr des Judentums“ unternommen.
Alle diese Redereien aber erregen in der Bevölkerung nur den Verdacht, daß die Nazis wieder etwas Vorhaben und deshalb eine Ablenkungskampagne betreiben, damit das Volk nicht zum Denken kommt und die Gefahren übersieht, in die es durch die Politik Hitlers gestürzt wird.
Der wie üblich unternommene Versuch, das Ausland über die Zustände in Deutschland zu täuschen, ist diesmal mißglückt. Am 13. Dezember veröffentlichte das Deutsche Nachrichtenbüro eine „Richtigstellung zur Judenfrage“, in der die Judenverfolgungen als harmlos hingestellt wurden. Den Juden stünden alle Gaststätten und Kaffees, „mit Ausnahme einiger Schankstätten und Lokale“, offen, an Ghettos werde nicht gedacht, alle Maßnahmen geschähen eigentlich „im Interesse der Juden selbst“, da sie doch im rassisch erwachten Deutschland auf die Dauer nicht leben könnten usw. Wenn das Ausland Devisen zur Auswanderung zur Verfügung stelle, werde sich alles in Frieden lösen lassen. Nach der Herausgabe dieser „Richtigstellung“, die in Deutschland selbst nicht veröffentlicht worden ist, verschärfte man die Maßnahmen gegen die Juden, und da die Vorgänge in der Welt rasch bekannt wurden, hatte das Täuschungsmanöver keinen Erfolg.
Auch im deutschen Volke selbst hat diesmal die Propagandaflut keine Wirkung gehabt. Die November-Exzesse haben auf die Menschen in Deutschland etwa so gewirkt wie die außenpolitischen Vorgänge im September auf die übrige Welt. Vielen, die bisher den Charakter des Regimes noch nicht erkannt hatten, sind die Augen geöffnet worden. Nur zwei unserer Berichterstatter äußern eine abweichende Auffassung über die Wirkung der Pogromhetze:
Südwestdeutschland: Die große Masse hat die Zerstörungen nicht gebilligt, aber man darf dennoch nicht übersehen, daß es in Arbeiterkreisen Leute gibt, die die Juden nicht verteidigen. Man kann sich in einzelnen Zirkeln schwer durchsetzen, wenn man über die letzten Vorgänge im ablehnenden Sinne spricht. So einheitlich war also die Empörung doch nicht.
Berlin: Die Haltung der Bevölkerung war nicht ganz einheitlich. Bei dem Brand der jüdischen Synagoge in der Fasanenstraße konnte man eine große Anzahl von Frauen beobachten, die sagten: „Das ist ganz richtig so, bloß schade, daß keine Juden mehr drin sind, das wäre doch das Beste, um die ganze Bagage auszuräuchern.“ - Niemand wagte, gegen diese Äußerungen Stellung zu nehmen. Als ich aber am selben Tag mit einem Taxi-Chauffeur während der Fahrt ins Gespräch kam, meinte der Mann, das habe die SA gemacht. „Die sind doch herumgezogen wie die Wilden.“ - Auf meinen vorsichtigen Einwand, daß das ja auch wirklich nicht nötig gewesen wäre, und daß man sich anderer Methoden hätte bedienen können, um die Judenfrage zu lösen, antwortete er: „Weiß Gott, das ist die größte Schweinerei, die ich je erlebt habe. Aber man muß ja die Fresse halten.“
Am Tage nach der Aktion hatte ich Gelegenheit, die Stimmung unter den Rechtsanwälten zu beobachten. Viele Anwälte äußerten sich sehr abfällig über die Aktionen, darunter auch nationalsozialistische: „Was soll man denn nur machen, wo bleibt da jede Rechtsgrundlage, wenn solche Dinge geduldet werden“ usw. Es gab an diesem Tage, an dem in dem Anwaltszimmer immerhin 30-40 Anwälte anwesend waren, eine allgemeine Diskussion über die Judenpogrome, in der nicht ein Anwalt wagte, die Aktionen zu verteidigen. Drei bis vier Tage später allerdings, nachdem inzwischen auch Goebbels gesprochen hatte, war die Stimmung schon wieder anders. Es fanden sich schon wieder eine ganze Reihe, die die Aktion als den verständlichen Ausbruch des Volkszorns hinstellten, den man natürlich stoppen müsse, der aber doch das Rechtsleben nicht tangiere.
In der Tauentzienstraße hat die Bevölkerung ganz offen gegen die Aktionen rebelliert. In der Nähe des Wittenbergplatzes wurde eine ganze Anzahl Männer und Frauen von SA-Leuten festgenommen und ein großer Lastwagen voll gutbürgerlicher Passanten zur Gestapo transportiert. Was den Leuten passiert ist, ist mir nicht bekannt.
Die Haltung der Geschäftsleute ist nicht frei von Konkurrenzgesichtspunkten. So hat sich z. B. der Inhaber eines Herrenbekleidungsgeschäfts, der einen Amtswalterposten in der DAF hat, an der Aktion beteiligt und nach Kräften in den Konkurrenzgeschäften an der Zerstörung mitgewirkt. Es hieß dann, daß er von der DAF verwarnt worden sei. Eine Verkäuferin, mit der ich über diesen Fall sprach, meinte: „Das ist doch wirklich unverständig, wenn das jemand erfährt, dann muß darunter doch unser Prestige leiden . .
Alle übrigen Berichterstatter stellen fest, eine so einmütige und offene Ablehnung der nationalsozialistischen Methoden habe es seit dem Bestehen des Dritten Reiches noch nicht gegeben. Wie weit die Kreise, die den Exzessen zuzustimmen scheinen, durch die zahlreichen Verhaftungen „judenfreundlicher“ Arier eingeschüchtert, wie weit sie wirklich dem Trommelfeuer der Propaganda erlegen sind, ist schwer abzuschätzen. Möglich, daß der Antisemitismus hier und da auch nur hervorgekehrt wird, weil es erträglicher ist, an eine Schuld der Juden zu glauben, als sich mit der Marterung Unschuldiger abzufinden. Wir lassen einige Stimmungsberichte folgen:
Rheinland-Westfalen, 1. Bericht: In der Bevölkerung war die Empörung über die Judenverfolgungen allgemein. Diese Empörung kam auch oft recht deutlich zum Ausdruck, und es erfolgten daraufhin zahlreiche Verhaftungen von Ariern.
Was der Partei und der Regierung eine Entlastung bringen sollte, das hat sich genau ins Gegenteil verkehrt. Zum Schrecken der Parteileitung verurteilt die Masse die Schweinereien strengstens und selbst die An-A 48 hänger Hitlers schließen sich nicht aus. Hier kennt jeder unzählige Fälle, wo überaus abfällige Kritik geübt und oft von Nazis aktive Hilfeleistung für die Juden gewährt wurde.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag kam es in einer Restauration zu einer schweren Schlägerei zwischen Arbeitern und Nazis wegen der Judenfrage. Die telefonisch herbeigerufene Polizei schrieb die Beteiligten nur auf, es erfolgten keine Verhaftungen.
Es hagelt Anweisungen an Amtswalter und Unterführer, schnellstens diejenigen festzustellen, die während der Tage der Judenverfolgungen den Juden aktive Hilfe geleistet oder sie mit Worten verteidigt haben. Man geht den Judenfreunden im eigenen Lager ans Leder und mancher wurde „wegen Judenfreundlichkeit“ aus der Partei ausgeschlossen.
Insbesondere ist die Stimmung in den Kreisen derjenigen umgeschlagen, die bisher nicht an die schrecklichen Vorkommnisse in den Konzentrationslagern glauben wollten. Nun, da sich der grausamste Terror in den Straßen zeigte, nun, da man mit eigenen Augen die Diebe sehen, all die Grausamkeiten an wehrlosen Juden selber wahrnehmen konnte, nun erst glauben viele daran, daß die anderen, früher mitgeteilten Grausamkeiten in den Gestapokellern auch geschehen sind. Viele fragen sich, wen diese gemeinen Banditen nächstens durch die Straßen Spießruten laufen lassen werden. Es sind tiefe moralische Erschütterungen, die das Volk ergriffen haben.
2. Bericht: Ich konnte zu meiner großen Freude feststellen, daß das Volk mit den sogenannten spontanen Aktionen nichts zu tun hatte. Nur ein Teil der SS und SA in Zivil führte die Befehle aus. Ich habe Leute gesehen, die ihre Parteiabzeichen ablegten und erklärten, sie hätten mit dieser Sache nichts zu schaffen. Was da geschehe, das sei des wahren Deutschlands unwürdig.
Südwestdeutschland, 1. Bericht: Die Ermordung vom Raths wurde in Mannheim mittels Lautsprecherwagen bekanntgegeben, der die ganze Stadt durchfuhr. Es wurde ausdrücklich ausgesprochen, daß sich die deutsche Nation an den Juden rächen müsse. Das war das Signal für das Vorgehen gegen die Juden. Die Synagoge in Mannheim ist ein reiner Steinkasten und konnte nicht verbrannt werden. Sie wurde deshalb ganz fachmännisch in die Luft gesprengt. Darum lacht auch alles über die offizielle Behauptung, es wäre der spontane Volkszorn gewesen. Als ob der Volkszorn eine so schöne, vorschriftsmäßige Sprengung mit allen Sicherheitsraffinessen je hätte durchführen können. Die Synagogensprengung war aber auch gleich ein gutes Nazigeschäft. Wer anderen Tags die Trümmer besichtigen wollte, mußte dafür 20 Pfennig bezahlen.
2. Bericht: In X. spielte sich folgendes ab: Ein mir gut bekannter junger SA-Mann kam nach Hause und erzählte seiner Mutter, daß er abkommandiert worden sei, um das Anwesen des jüdischen Handwerksmeisters Y. anzuzünden. Die Mutter schrie ihn an: „Das machst Du nicht mit, das ist eine Gemeinheit.“ Der Junge sagte: „Es ist aber doch Befehl.“ Daraufhin antwortete die Mutter: „Ein Befehl zur Begehung eines Verbrechens ist ungültig.“ Der Junge versprach also hinzugehen, aber sich nicht an der Brandstiftung zu beteiligen. Offenbar haben sich auch in anderen Häusern solche Szenen abgespielt, denn zunächst wollte niemand von den Versammelten an die Tat gehen. Schließlich fanden sich vier Mann bereit, darunter der Konkurrent des jüdischen Handwerkers. Zuerst wurden die Wertsachen aus dem Haus geschafft und verteilt, dann folgte die Anlegung des Brandes.
Die Empörung der Bevölkerung kam ganz offen zum Ausdruck, aber sie richtete sich nicht gegen den Juden, dessen Familie seit mehr als 200 Jahren im Ort ansässig war und allgemeine Achtung genoß, sondern gegen die Nazis, die dieses Verbrechen ausführten. Nachdem das Haus angebrannt war, wurden die Mauern abgerissen. Sehr bald danach stellte sich heraus, daß das Anwesen der nach Dachau geschafften Familie gar nicht mehr dem Juden gehörte, sondern vor einigen Jahren an einen auswärts wohnenden Arier verkauft worden war. Dieser hat nun Entschädigungsanspruch gestellt und von der Stadt 20 000 RM verlangt. Nun herrscht erst recht Aufregung unter der Bevölkerung, weil durch solche leichtsinnige Verbrechen das Geld der Allgemeinheit vergeudet wird.
Wasserkante, 1. Bericht: Wenn irgendwo im Reiche, dann hat sich in Hamburg und im angrenzenden Elbegebiet die Empörung über die Judenpogrome mit ihren Brandstiftungen und Plünderungsexzessen ganz offen geäußert. Die Hamburger sind im allgemeinen keine Antisemiten und die Hamburger Juden sind weit mehr als die Juden in anderen Teilen des Reiches assimiliert und bis in die Spitze der Beamtenschaft, des Großhandels und der Schiffahrt christlich versippt. So erklärt es sich, daß die hamburgischen Nazis mit ihrem Antisemitismus immer sehr zurückhaltend waren, und daß der Reichsstatthalter Kaufmann bei verschiedenen Gelegenheiten in Berlin, so bei Göring und Frick am ersten Pogromtage, vor „offenen und allzu scharfen antijüdischen Maßnahmen und Gesetzen“ gewarnt hat, und zwar mit der Begründung, die „hamburgische Eigenwirtschaft“ würde von solchen Maßnahmen und ihren internationalen Rückwirkungen ganz besonders getroffen werden.
Der Kreis der nazistischen Pogromisten war denn auch in Hamburg vollkommen auf braunhemdigen Straßenmob und HJ-Halbwüchsige beschränkt. Es geschah nicht nur in Einzelfällen, daß Plünderer von älteren Naziuniformierten, die einen höheren Rang hatten, zur Zurückgabe des geraubten Gutes gezwungen und öffentlich als „Hyänen“ heruntergemacht wurden. In der Mönckebergstraße kam es vor einem bekannten jüdischen Pelzgeschäft zu einem derart bedrohlichen Auftritt zwischen zwei SS-Führern und einer größeren Schar HJ-Plünderern, daß das alarmierte Überfallkommando die beiden SS-Führer vor der Gewalttätigkeit der Halbwüchsigen beschützen mußte. Ein in die Parteiverhältnisse eingeweihter erklärte mir, als ich mich nach dem möglichen Ausgang dieses „Disziplinbruches“ erkundigte, daß es im Zusammenhang mit Pogrombefehlen bei den Politischen Leitern und SS- und SA-Führern zu zahlreichen offenen Gehorsamsverweigerungen gekommen sei.
Zwei Selbstmordfälle beleuchten, in welcher Weise hamburgische Nazis von der Pogromwelle in den Tod hineingerissen worden sind: Die halbarische Frau eines Sturmhauptführers von Elmershausen, der Mitinhaber einer alteingesessenen Kaffee-Import- und Exportfirma ist, hat einen Selbstmordversuch unternommen, weil ihre jüdische Mutter am zweiten Pogromtage tätlich angegriffen wurde und deshalb einem Herzschlag erlag, von Elmershausen hat sich am Bett seiner voreilig aufgegebenen Frau erschossen. Der Zolldirektor Scheermesser, ein Pg. mit einer der niedrigsten hamburgischen Mitgliedsnummern, hat sich mit seiner jüdischen Frau vergiftet. Der Frau war vom Nachbarpöbel gedroht worden, daß man ihren „Grashüpper“ (Spitzname für die Zollbeamten) nun in der Elbe „schwimmen lernen“ werde, wenn er nicht jetzt seine „Jüdsche“ davonjage.
Die Stellungnahme der hamburgischen Arbeiterschaft zu den hitler-schen Judenverfolgungen war eindeutig und aufs allerschärfste ablehnend. Wer in diesen beschämenden Tagen in den Früh- und Abendstunden inmitten der zu ihren Arbeitsstätten ziehenden Hafen- und Werftarbeiter marschierte, hörte nichts anderes als Verwünschungen und Flüche gegen diese Menschenjagden. In Firmen, wo jüdische Angestellte noch gehalten worden sind und nun ihre unvermeidbare Entlassung droht, haben christliche Arbeiter und Angestellte durch Geldgeschenke ihr Mitgefühl bekundet. In Eimsbüttel haben Arbeiter der Firma X., die während der Mittagspause Zeugen der Plünderung eines jüdischen Uhren- und Goldwarengeschäfts waren, dem Nazimob das Diebesgut wieder abgejagt und es unter dem Beifall und Schutz einer Menschenmenge dem Besitzer zurückgegeben. Vielfach ist beobachtet worden, daß die Schupo-Beamten (Schutzpolizei) die Juden und ihr Eigentum schützten. Der Direktor einer jüdischen Mädchenschule ist durch einen Revierbeamten so frühzeitig von einem von der HJ geplanten Überfall gewarnt worden, daß die Schule rechtzeitig geräumt werden konnte.
2. Bericht: In Hamburg, Altona, Kiel herrscht über die Judenpogrome und über die seitdem ergangenen Maßnahmen gegen die Juden in weiten Kreisen tiefe Erregung, die bis in die Reihen der Partei- und SA-Mitglieder reicht. Ein SA-Führer gab einem Juden gegenüber deutlich sein Bedauern darüber zu erkennen, daß er einen Befehl ausführen müsse, den er selbst nicht für richtig halte.
Nordwestdeutschland: So geschickt im allgemeinen der nationalsozialistische Propaganda-Apparat mit den Menschen spielt, so raffiniert man dabei auf das Bedürfnis nach Entspannung ebenso Rücksicht nimmt wie auf die Notwendigkeit neuer Aufputschungen, um einem allgemeinen Absacken entgegen zu arbeiten - bei den Judenverfolgungen im November haben die Machthaber mindestens für zwei bis drei Tage den Kontakt mit dem Volke völlig verloren. Mit dieser einhelligen Ablehnung hatte man nicht gerechnet. Ünd es gab zunächst ein heilloses Hin- und Hergaloppieren der Zeitungen. Das Entsetzen und die Entrü- a 5! stung über das gemeine Verbrechen konzentrierte sich bei der Bevölkerung schließlich auf die Unverschämtheit Goebbels, von einer „Spontanität“ zu sprechen. Dabei ist es in vielen Gegenden vorgekommen, daß SA-Leute ihre Kameraden nachts zusammentrommelten und dabei an den Haustüren schellten und nach oben riefen: „Zivilanzug, Werkzeug drei!“
Ganz allgemein herrscht die Auffassung, daß die nächste Etappe der Liquidierung den Katholizismus treffen wird. Daneben ist man auch der Meinung, daß die „Intelligenzbestien“ eine kommende Zielscheibe sein werden. Die NS-Führung spürt sehr wohl, daß aus diesen Kreisen der Widerstand gegen die Pogrome am stärksten war. Wie ja überhaupt bezeichnend ist, daß der November mit seinen grauenvollen Ereignissen viel zu einer einheitlichen Frontbildung gegen das Regime beigetragen hat: Humanität gegen Barbarentum. Diese Widerstandssammlung auf der Basis menschlicher Elementarwerte schafft im Lande so etwas wie ein „anderes Deutschland“. An Schulen ist es vorgekommen, daß Lehrerinnen, die sich durchaus im Sinne der Nazis über den Anschluß Österreichs und des Sudetenlandes geäußert hatten, Nervenzusammenbrüche und Weinkrämpfe bekamen über die Pogrome.
Schlesien: In X. hat ein SS-Sturm, der sich vorwiegend aus Arbeitern und Angestellten der Hultschinskiwerke zusammensetzt, es abgelehnt, sich am Pogrom gegen die Juden zu beteiligen. Der Führer des Sturmes erkrankte rechtzeitig, sein Stellvertreter war nicht auf dem Posten, jedenfalls nahm dieser Sturm an dem Vorgehen gegen die Juden nicht teil. Diese SS-Leute bestehen darauf, aus der SS auszutreten, lassen sich auch durch Drohungen nicht kleinkriegen. Wie uns aus Polizeikreisen berichtet wird, haben die Mitglieder dieses Sturms früher meist dem Stahlhelm angehört und wollen jetzt die Judenpogrome dazu benutzen, um sich ganz von den Nazis zu lösen.
Dem SA-Mann Parczyk aus Hindenburg, Führer des NSKK, wird von seinen Kollegen öffentlich nachgesagt, daß er die Pogrome gegen Juden dazu benutzt hat, um sich zu bereichern. Parzyk steht schon ohnehin im Verdacht, bei seiner Abkommandierung nach Österreich an Plünderungen beteiligt gewesen zu sein. Seit seiner Rückkehr treibt er einen großen Aufwand, und jetzt hat er sich in den Besitz des Autos und des Teppichlagers der Firma Flertzke gesetzt, angeblich im Aufträge der NSDAP, für die er rückständige Steuern eintreibt.
Als der SS-Mann, Gastwirt Grobert in Hindenburg, in Gegenwart seiner Frau den Gästen erzählte, wie sie es mit den Juden an den fraglichen Pogromtagen getrieben haben, verließ die Frau unter Protest die Gastwirtschaft und erklärte, sie wünsche nur den Tag herbei, wo man den Nazis mit gleicher Münze heimzahlen werde. Als der Gastwirt sich über seine Frau lustigmachen wollte, verließen einige Gäste gleichfalls unter Protesten das Lokal und sagten, er werde sie in seinem Lokal nie Wiedersehen. Man habe nicht geglaubt, daß er auch ein solcher Schweinehund sei, der sich an wehrlosen Menschen vergreife.