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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Die Sopade berichtet

In der November-Ausgabe 1938 heißt es in den „Deutschland-Berichten“ der Sopade:

Der Terror gegen die Juden

Der Vernichtungsfeldzug gegen die deutschen Juden ist allen Anzeichen nach in sein letztes Stadium eingetreten. Indem wir in diesen Berichten die neuen gesetzgeberischen und polizeilichen Maßnahmen gegen die Juden wenigstens in großen Umrissen aufführen, setzen wir eine Chronik fort, die mit den Anfängen der nationalsozialistischen Diktatur begonnen und seither ständig ergänzt worden ist. Wenn man heute fragt, welche Rechte den deutschen Juden noch geblieben sind, so kann die Antwort nur lauten: keine. Nicht das Recht auf Wohnung, - deutsche Gerichte haben mehrfach entschieden, daß die Hausgemeinschaft mit jüdischen Mietern den arischen Hausbewohnern nicht zugemutet werden könne - nicht das Recht auf Nahrung - in zahlreichen Orten ist der Lebensmittelverkauf an Juden verboten - nicht das Recht auf Arbeit - die Juden sind nach und nach aus allen Berufen entfernt worden - nicht das Recht auf kärglichsten Besitz, auf körperliche Integrität, auf Verteidigung gegen gesetzlose Angriffe, nicht einmal das Recht darauf, das Land mit einem ordnungsgemäßen Paß und eigenen Reisemitteln zu verlassen.

Da wir im Teil B dieses Berichtes einen Überblick über die Entwicklung der deutschen Judengesetzgebung seit 1933 und über die gegenwärtige Rechtslage geben, können wir uns im folgenden mit einer chronologischen Darstellung jener Ereignisse begnügen, die das Schicksal der deutschen Juden in den letzten Wochen so unheilvoll beeinflußt haben.

Seit dem Abschluß der Übersicht im Teil B sind noch folgende allgemeine Maßnahmen gegen die Juden bekanntgeworden:

Auf Grund der Verordnung des Beauftragten für den Vierjahresplan vom 24. November 1938 hat der Reichswirtschaftsminister Anfang Dezember folgendes bestimmt:

1. Ab 1. Januar 1939 darf kein Jude mehr Einzelhändler sein. Die Geschäfte sind in der Regel nicht zu veräußern, sondern aufzulösen.
2. Alle nicht aufgelösten Geschäfte sind zu veräußern.
3. Land- und forstwirtschaftlicher und städtischer Grundbesitz ist zu veräußern. Im Falle der nicht rechtzeitigen Veräußerung - vor allem, wenn der Besitze sich im Ausland befindet - wird ein Treuhänder eingesetzt, der den Betrieb an Stelle des Juden vorläufig weiterführen, abwickeln oder veräußern kann und der überhaupt ermächtigt ist, alle gerichtlichen und außergerichtlichen Geschäfte und Rechtshandlungen so vorzunehmen, als wenn er im Besitz einer gesetzlichen Vollmacht wäre.
4. Wertpapiere, Kuxe, Aktien, Pfandbriefe, Anleihen sind zu deponieren, Gold, Silber und Juwelen dürfen nicht freihändig, sie müssen dem Staat verkauft werden, ebenso Kunstgegenstände.

Bei Veräußerung seiner Vermögensanteile an Private können dem Juden Schuldverschreibungen des Reiches in Zahlung gegeben werden, bei Veräußerung an das Reich erhält er Rentenpapiere.

Nach der Durchführungsverordnung des Reichsfinanzministeriums ist der erste Teilbetrag der „Kontribution“ von 1 Milliarde am 15. Dezember fällig. Er muß in bar bezahlt werden.

Da diese Bestimmung die Juden zum raschen Verkauf von Wertsachen und Kunstgegenständen zwingt, hat die Industrie-und Handelskammer Berlin auf Anordnung des Reichswirtschaftsministeriums eine Ankaufsstelle eingerichtet, die Wertgegenstände aus jüdischem Besitz nach Abschätzung durch Sachverständige ankauft; und zwar sollen an dieser Stelle die von den Juden erpreßten Werte aus dem ganzen Reichsgebiet zusammenfließen.

Die jüdischen Inhaber demolierter Läden müssen alle entstandenen Schäden vor Übergabe des Geschäftes an einen Arier aus eigenen Mitteln wieder gutmachen, während die von den Versicherungsgesellschaften zu leistenden Entgelte dem Reiche zufließen.

Das Reichsstudentenwerk hat am 26. November alle vor dem Umsturz an Juden gewährten Studiendarlehen - Stipendien - gekündigt und verlangt die Rückzahlung binnen zwei Wochen.

Unmittelbar nach dem Pariser Attentat wurden in Deutschland sämtliche jüdischen Zeitungen auf unbestimmte Zeit verboten. Später erlaubte man das Erscheinen eines Ersatzblattes für die „Jüdische Rundschau“. Die Zeitung darf nur einmal wöchentlich im Umfang von einer Seite erscheinen und lediglich offizielle Mitteilungen der jüdischen Gemeinden und Organisationen sowie Reichsgesetze publizieren.

Durch eine Rechtsverordnung des Danziger Senats wurden mit Wirkung vom 23. November für das Gebiet der Freien Stadt Danzig die Nürnberger Gesetze eingeführt. Auch die Danziger Staatsangehörigen polnischer Nationalität sind diesen Gesetzen unterworfen.

Die schwer lösbare Frage nach den Beweggründen, die das Regime bei seinem Vorgehen gegen die Juden leiten, haben wir bereits in Heft 7/1938 erörtert. Wir haben bereits damals darauf aufmerksam gemacht, daß sich ein Beweggrund denken läßt, der wenig beachtet wird, allerdings allein auch zur Erklärung nicht ausreicht: den Kampf gegen die Juden als Bestandteil der deutschen Kriegsvorbereitungen. In einer Zeit, in der wir auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland eine erneute Steigerung der Kriegsvorbereitungen feststellen müssen, ist es wahrscheinlich, daß auch die „Lösung der Judenfrage“ immer mehr unter diesem Gesichtspunkt gesucht wird. Es liegt nahe, daß die Machthaber, nach München auch durch außenpolitische Rücksichten nicht mehr gehemmt, folgende Überlegung anstellen: Die 600 bis 700 000 Juden, die noch heute in „Großdeutschland“ leben, sind im Kriegsfälle ein bedenklicher Unruheherd. Umso bedenklicher, als sich während der tschechoslowakischen Krise gezeigt hat, wie problematisch die Volksstimmung ohnehin im Kriegsfall von Anfang an sein würde. Deshalb müßten die Juden im Kriege auf alle Fälle von der übrigen Bevölkerung isoliert werden. Es ist aber einfacher und zweckmäßiger, wenn die Isolierung schon vorher durchgeführt wird, soweit es nicht möglich ist, die Juden einfach aus dem Lande zu jagen oder umzubringen.

Um zu zeigen, daß die Pogrome nach dem 9. November eine folgerichtige Steigerung des schon vorher geführten Kampfes gegen die Juden sind, stellen wir nachstehend noch eine Reihe von Berichten über den Terror gegen die Juden in den letzten Monaten zusammen. Wir gliedern also das Berichtsmaterial in die Ereignisse vor dem Attentat in Paris und in das Vorgehen nach dem Attentat.

Vor dem Attentat in Paris

a) Der Judenterror im eroberten Sudetenland

Während die Wiener Juden vom deutschen Einmarsch überrascht wurden, ehe an eine Flucht zu denken war, hatten die Juden im sudetendeutschen Gebiet - wenigstens theoretisch - die Möglichkeit, unter Zurücklassung ihres Eigentums zu flüchten. Viele zogen allerdings den Selbstmord einem ungewissen Schicksal vor. Aber auch die rechtzeitig Geflüchteten sahen sich in ihrer Hoffnung auf Sicherung der nackten Existenz betrogen. Sie wurden in zahlreichen Fällen von den tschechischen Behörden aufgefordert, binnen 24 Stunden in ihre deutsche „Heimat“ zurückzukehren. Aufgegriffene Flüchtlinge beförderte man zwangsweise ins Grenzgebiet zurück. Die Deutschen ihrerseits trieben Scharen von jüdischen Einwohnern aus dem besetzten Gebiet in das „Niemandsland“, eine schmale Zone zwischen deutschem und tschechischem Gebiet. Dort irrten die Unglücklichen ohne Obdach und Nahrung wochenlang auf den Feldern umher, unter ihnen Greise, schwangere Frauen und Kinder, bis es ihnen gelang, wenigstens vorübergehend Einlaß in die Tschechoslowakei zu finden. Die gleichen Szenen spielten sich im Niemandsland an der tschechisch-österreichischen Grenze nahe Brünn ab.

Die ins Ausland geflüchteten sudetendeutschen Juden versuchten in manchen Fällen, wenigstens einen kleinen Teil ihres im besetzten Gebiet zurückgebliebenen Besitzes herauszuholen. Einer unserer Mitarbeiter berichtet über den Erfolg dieser Bemühungen:

Sudetenland: Die Enteignung der geflüchteten Juden geht so vor sich, daß zur Eintreibung von Geldforderungen, die von Privaten gegen die Geflüchteten geltend gemacht werden, durch das Amtsgericht sofort ein Kurator ernannt wird, der für den Geflüchteten handelt und die Liquidation seines Besitzes vornimmt. Meist werden die kommissarischen Leiter der Geschäftsunternehmungen als Kuratoren eingesetzt. Zuschriften der Besitzer aus dem Ausland werden, wenn überhaupt, mit der Erklärung beantwortet, daß sie zur Regelung ihrer Besitzverhältnisse selbst an Ort und Stelle erscheinen müßten.

Die im Sudetengebiet verbliebenen Juden erleiden das Los A22 ihrer reichsdeutschen Schicksalsgefährten. In den Pogromschilderungen auf den folgenden Seiten veröffentlichen wir auch einige Berichte aus dem sudetendeutschen Gebiet.

 

b) Der Dauerpogrom

Das Regime hat versucht, im Ausland den Eindruck zu erwecken, als seien die seit dem 10. November tobenden Pogrome die Folgeerscheinungen des Grynszpan-Mordes. In Wahrheit wurde seither nur das Tempo beschleunigt und jede Rücksicht auf das Ausland fallen gelassen. Es würde zuviel Raum kosten, die seit unserem letzten Bericht über den antijüdischen Terror (Heft 7/1938) erfolgten lokalen Verordnungen und Terrorakte aufzuzählen. Wir erinnern nur daran, daß z. B. die Vernichtung der Synagogen, die bei den jüngsten Ereignissen eine so große Rolle gespielt hat, bereits im Sommer mit dem Abbruch der großen Nürnberger Synagoge begann. Seither wurde die Synagoge in Kaiserslautern durch zwei Sprengungen dem Erdboden gleichgemacht, die Synagogen in Rodalben, Kusel, Albersweiler wurden von den Stadtverwaltungen „erworben“ und „nützlicheren Zwecken zugeführt“. Die Synagoge in Dortmund wurde abgerissen, die in Hamburg zwangsweise geschlossen. Um den Zustand des Dauerpogroms zu kennzeichnen, greifen wir im übrigen aus den vorliegenden Berichten zwei heraus:

Schlesien: Von den kürzlich verhafteten Juden wurden mit Ausnahme einiger älterer Leute, die man wieder entlassen hatte, alle nach dem Konzentrationslager Buchenwald in Thüringen verbracht. Zwei Familien erhielten die Mitteilung, daß ihre Männer im Lager an Lungenentzündung gestorben seien. Allgemein besteht die Überzeugung, daß sie erschossen wurden. Ganz besonders schlimm ergeht es den Familien der Verhafteten. Die Frauen, die kein Einkommen mehr haben, weil sie das Geschäft schließen mußten, gehen zum Arbeitsamt. Dort wird ihnen Arbeit zugewiesen. Dabei sucht man gerade solche Arbeiten für die Jüdinnen aus, die sie schwer leisten können. Eine Frau z. B., die vorher ein Textilgeschäft hatte, arbeitet heute als Putzfrau in einer Fabrik. Die Emigration der Juden, auch aus dem alten Reichsgebiet, hat stark zugenommen. In Breslau sind Juden geflohen, die alles, was sie hatten, zurückgelassen haben. Ihre Wohnungen und Geschäfte wurden versiegelt.

Berlin: Es ist schon am 30. Juni in der Großen Frankfurter Straße und in der Münzstraße zu Plünderungen gekommen. In der Großen Frankfurter Straße wurden an diesem Tage in mehreren Schuhgeschäften und in einem Goldwarengeschäft, das sich in dem Hause Ecke Koppenstraße, Große Frankfurter Straße befindet, die Schaufenster eingeschlagen. Ebenso in der Münzstr. in dem Uhren- und Goldwarengeschäft Brandmann, das dann am 9. November erneut heimgesucht wurde.

In vielen Fällen ist es zu Plünderungen gekommen. So hat sich z. B. in einem Betrieb eine Angestellte gerühmt, daß ihr Vater 6 Paar Schuhe mit nach Hause gebracht habe, und daß sie auch ein Paar abbekommen habe. Darauf hat eine andere ihr entgegnet: „Im Kriege wurden Plünderer im Feindesland erschossen.“ - Es ist aber weder der einen noch der anderen Angestellten etwas passiert.

Auch sonst hat man in den letzten Monaten schon Juden polizeilich schikaniert, wo man konnte. Wenn etwa ein Jude bei gelbem Licht über die Straße ging, mußte er gewärtigen, verhaftet zu werden, ein oder drei Tage auf dem Polizeirevier zuzubringen und hinterher noch eine Geldstrafe zu zahlen. Auf dem Polizeirevier gibt es besondere Judenschalter und für Juden sogar besondere Federhalter. Bei Post und Telefon ist eine solche Einrichtung noch nicht getroffen worden.

 

c) Die Austreibung der polnischen Juden

Am Abend des 27. Oktober wurden in allen Teilen Deutschlands etwa 18 000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet und gewaltsam über die polnische Grenze getrieben. Wir erhalten darüber folgende Berichte:

1. Bericht: Im oberschlesischen Industriebezirk sind gegen 3000 polnische Juden (einschließlich ihrer Familienangehörigen) ausgewiesen worden. Am schlimmsten war es in der Gegend von Beuthen, wo man etwa 2000 Juden über die Grenze trieb. In der Nähe des Beuthener Stadtwaldes, nahe dem polnischen Orte Rojca-Radzionkau, wollten zunächst die polnischen Grenzer die Juden nicht herüberlassen. SA-und SS-Leute aus den Beuthener und Gleiwitzer Stürmen benutzten die Verzögerung, um die polnischen Staatsbürger nochmals einer gründlichen Revision nach Geld und Wertsachen zu unterziehen. Man beraubte sie aller Schmucksachen, nahm ihnen jeden Betrag fort, der höher als 10 Mark war und ließ alles in den eigenen Taschen verschwinden, ohne die geringste Bestätigung über die „Beschlagnahme“ zu geben. In der Nacht vom 29. zum 30. Oktober wurden dann die polnischen Bürger wieder an die Grenze geschafft. SA und Polizei schossen in die Luft, um die Flüchtlinge in Angst zu versetzen und sie so über die Grenze zu treiben. Dabei kam es zu zahlreichen Unglücksfällen, Nervenzusammenbrüchen, Bein- und Knochenbrüchen.

Bei Biskupitz-Ruda hat man 400 polnische Juden, als sich Polen weigerte, sie in Empfang zu nehmen, einfach auf ein Brachfeld getrieben und sie dort drei Tage lang ohne jede Verpflegung gelassen, bis schließlich durch Eingreifen der polnischen Behörden die Ausweisung beigelegt wurde. Man ließ diese Juden dann zwar nach Hindenburg herein, sie durften aber mit niemanden Fühlung nehmen. Auf dem Brachfeld kam es zu herzzerreißenden Szenen zwischen Kindern und Eltern. Niemand kümmerte sich um die Kranken. Bergleute, die diese Szenen beobachtet hatten, versuchten wiederholt, an die Juden heranzukommen. Sie wurden durch SA und Polizei daran gehindert. Man drohte’ ihnen auch, sie würden bald zu diesem polnischen Judenauswurf gehören, wenn sie sich weiter dafür interessierten. Am Sonntag wurde der Weg durch Polizei zu diesem Feld ganz abgesperrt.

Die Bevölkerung lehnte dieses Treiben entschieden ab. Selten war die Kritik gegen das System so offen, wie in diesem Fall.

2. Bericht: Eine Frau erzählt: Ich wohnte in Dresden. Seit dem Jahre 1916 hatte ich in Deutschland Aufenthaltsgenehmigung und bin niemals mehr in Polen gewesen. Am 27. Oktober, abends um 1/210 Uhr, erschien in meiner Wohnung ein Beamter der Schutzpolizei und erklärte, er müsse mich verhaften und zum Polizeipräsidium bringen. Ich war sehr erschrocken, aber ich habe natürlich nicht daran gedacht, daß ich überhaupt nicht mehr nach Hause kommen würde. Der Beamte sagte mir, daß ich meine beiden Kinder mitbringen müsse. Mein Mann war bereits aus Deutschland ausgereist, ich hatte die Absicht, ihm bald zu folgen.

Als wir im Polizeipräsidium ankamen, wurden wir in einen großen Saal gebracht, in dem sich bereits Hunderte von polnischen Juden, die in Dresden wohnten, befanden. Niemand wußte, was das Ganze zu bedeuten hatte. Um etwa 2 Uhr nachts erschien in dem von Polizeibeamten bewachten Saal ein höherer Beamter und las uns eine allgemeine Ausweisungsverfügung vor. Er erklärte anschließend, die Abschiebung werde sofort vonstatten gehen und niemand dürfe mehr nach Hause. Wohnungs- und Ladenschlüssel sollten der Polizei übergeben werden. Tatsächlich wurde niemand mehr aus dem Gebäude gelassen. Manche waren bereits am Vormittag verhaftet worden. Ich weiß von zwei Kindern, die aus der Schule heraus von der Polizei verhaftet und nach dem Polizeipräsidium gebracht wurden. Bei den Verhafteten befanden sich auch ganz alte Leute und eben erst geborene Kinder.

Nach dem Verlesen des Ausweisungsbefehles mußten wir alle durch eine Tür gehen, wo die Aufenthaltsbewilligung in unseren Pässen mit „ungültig“ überstempelt, zum Teil auch nur einfach mit Rotstift durchstrichen wurde. Dann erhielten wir die Pässe zurück. Früh um 7 Uhr wurden wir alle zum Dresdner Hauptbahnhof gebracht, wo sich bereits Gruppen von polnischen Juden aus Chemnitz, Plauen und Leipzig befanden.

Unter starker Polizeideckung wurden wir in einen Zug verladen. Die Synagogengemeinde von Dresden, die davon gehört hatte, hatte noch rasch an den Bahnhof Lebensmittel, warme Decken und ähnliches geschafft, die an uns verteilt werden durften.

Der Zug wurde von uniformierten Polizeibeamten begleitet, die sich allgemein ganz anständig verhielten. Fast alle wurden wir nach mitgebrachtem Geld durchsucht. Es wurde uns alles gegen Quittung fortgenommen, bis auf 10 RMk., die man dem Besitzer gewöhnlich ließ. Ich weiß allerdings von Fällen, in denen die Leute nicht einmal die 10 RMk. behalten durften. Im Zuge wurde ein Kind geboren. Ich weiß nicht, was aus Mutter und Kind geworden ist, als der Zug sein Ziel erreicht hatte. Die Frau mußte jedenfalls die Reise fortsetzen und mitreisende Frauen bemühten sich um sie.

Mitten in der Nacht hielt der Zug auf einem toten Gleis. Wir waren noch ein Stück von der polnischen Grenze in Oberschlesien entfernt und mußten auf freiem Feld - es herrschte große Finsternis - aussteigen. Hier wurde die Polizei abgelöst. SS nahm uns in ihren „Schutz“. Die SS war in zwei Reihen an beiden Seiten des Zuges postiert. Es dürften ungefähr 200 Mann gewesen sein. Alle hatten Karabiner mit aufgepflanztem Bajonett. Wir mußten uns nun in Reihen zu vieren aufstellen. Dann hielt ein SS-Mann eine Rede an uns, in der er uns als dreckige, gemeine Juden beschimpfte und uns erklärte, wir müßten jetzt einen Marsch antreten. Wer den geringsten Versuch mache, zu flüchten oder zurückzubleiben, würde erschossen werden. Wir marschierten los.

Man stelle sich vor: Greise, Frauen mit Kindern auf dem Arm, kleine Kinder an der Hand usw. Unter uns befanden sich auch zwei Blinde, alte Männer von über 70 Jahren. Es war ganz klar, daß viele nicht mitkommen konnten, obwohl das Tempo nicht allzu scharf war. Manche hatten Koffer mit, die sie einfach stehen lassen mußten, weil sie sie nicht schleppen konnten. Die SS-Leute erlaubten keine Verzögerung. Sie begannen, auf einige Männer einzuschlagen und andere wüst zu beschimpfen. Es war entsetzlich. Der Marsch dauerte fast 3 Stunden.

Etwa um 3 Uhr nachts erreichten wir die grüne Grenze. Vorher mußten wir halt machen. Es wurde uns jetzt verboten, zu sprechen oder irgend einen Laut von uns zu geben. Die SS-Leute wiesen auf ein Licht, das wir in einiger Entfernung sahen und erklärten, das sei der polnische Grenzposten. Dort müßten wir ganz still und ohne Geräusch hin. Sollte jemand versuchen, zu bleiben oder zurückzukommen, so würde er erschossen werden. Die SS zog sich dann von der Spitze des Zuges langsam zurück, ihre Mannschaften blieben hinten und trieben uns an.

Es setzte Kolbenschläge oder Prügel mit der Faust, weil wir angeblich nicht marschieren wollten. Tatsächlich zögerten manche, was verständlich ist, wenn man das Unheimliche dieser Situation bedenkt. Es war durchaus zu befürchten, daß der polnische Posten schoß. Wir erfuhren später, daß es sich um eine Stelle der Grenze handelte, die zum Übertritt nicht zugelassen ist. Tatsächlich wollte der Posten, der uns erst spät bemerkte, uns nicht durchlassen. Er tat es schließlich doch, so daß wir nach Polen gelangten.

3. Bericht: Ich bin in Chemnitz verhaftet worden. Auch bei uns wurden Männer, Frauen und Kinder von Flause fortgeholt. Über die Polizei können wir im allgemeinen nicht klagen. Man erzählte uns im Polizeipräsidium, wir würden nur auf ein paar Tage nach Polen geschickt, dann könnten wir zurück kommen, um unsere Angelegenheit zu ordnen. Das war natürlich eine Lüge. In unserem Transport befanden sich ein 82-jähriger Mann und mehrere Krüppel. Alle mußten mit an die Grenze marschieren. Die ganz Schwachen wurden von den Stärkeren abwechselnd getragen.

Wir kamen etwa eine Stunde nach den Dresdnern an die grüne Grenze und hatten Schwierigkeiten, weil der Posten in Polen nun aufmerksam geworden war und solche Massen nicht an verbotener Stelle hereinlassen wollte. Die Beamten erklärten, soweit ich verstand, wir müßten bis zum Morgen warten und dann an einer anderen Stelle die Grenze überschreiten. Die SS auf der deutschen Seite merkte nun, daß es Schwierigkeiten gab und feuerte einige Salven ab. Wir warfen uns auf die Erde, um nicht getroffen zu werden. Man schoß weiter, anscheinend aber nur in die Luft. Gleichzeitig flammte der ganze Wald an der deutschen Grenze hellerleuchtet auf. Die SS hatte Leuchtkugeln abgeschossen, so daß sie das gesamte Gelände übersehen konnte. An ein Zurück war also nicht zu denken. Man hätte sicherlich auf uns geschossen. Die polnischen Posten begriffen jetzt unsere Lage und ließen uns passieren.

4. Bericht: In Berlin sind in der Hauptsache Männer verhaftet worden. Aber es befanden sich in dem Transport auch schwangere Frauen.

Uns wurde auf dem Polizeipräsidium in Berlin erklärt, daß wir abgeschoben würden. Wir sollten uns Verpflegung für 2 Tage und höchstens 10 RMk mitnehmen. Polizeibeamte haben uns nach Geld untersucht. Sie haben manchen Leuten nicht einmal 10 RMk. gelassen und das Geld durchweg ohne Quittung abgenommen. Im Zug mußten alle Fenster geschlossen und die Abteilungstüren geöffnet sein. In den Gängen standen Beamte der Polizei mit aufgepflanztem Bajonett. An der Grenze wurden für die Alten und Krüppel Autos zur Verfügung gestellt. Die anderen mußten in der Nacht - es war etwa 11.30 Uhr - zwei bis drei Kilometer weit marschieren. Die Behandlung war sehr roh. Wir wurden beschimpft und auch geschlagen. Wir haben die Grenze am 28. Oktober bei Neu-Bentschen überschritten.

Unter den in Berlin ausgewiesenen Juden waren nicht nur polnische Staatsbürger, sondern auch Staatenlose, die von den polnischen Grenzwachen aber zunächst hereingelassen wurden.

 

2. Nach dem Attentat in Paris

a) Der Vorwand

Am Montag, den 7. November verübte der siebzehnjährige polnische Jude Herschel Feivel Grynszpan im Gebäude der deutschen Botschaft in Paris ein Attentat auf den dritten Botschaftssekretär Herrn vom Rath und verletzte ihn schwer. Vom Rath ist an den Folgen der erlittenen Schuß Verletzungen gestorben. Nach dem Motiv der Tat befragt, erklärte Grynszpan: „Ich wollte meine Brüder, die aus Deutschland gejagten polnischen Juden, rächen.“ Grynszpans Vater, der seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland lebte, war aus seinem Wohnort Hannover mit den übrigen dort lebenden polnischen Juden in der Nacht verhaftet und an die Grenze getrieben worden.

Unmittelbar nach dem Tode vom Raths begannen in Deutschland die grauenvollsten Pogrome, die das nationalsozialistische Regime bisher inszeniert hat.

b) Tatsachenberichte

Von dem, was sich in diesen Tagen ereignete, können unsere Berichte nur einen kleinen Ausschnitt wiedergeben.

Die Machthaber haben mit eiserner Stirn behauptet, daß die Brandstiftungen, Plünderungen und Mißhandlungen die spontane Rache des Volkes für das Attentat in Paris gewesen sei.

Demgegenüber steht fest, daß die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden schon vor Monaten durch die Einführung einer besonderen Anmeldepflicht für jüdisches Vermögen vorbereitet worden ist. Das Attentat in Paris war nur der bequeme Vorwand, eine „Buße“ von 1 Milliarde RMk. von den Juden zu erheben, für die man sonst andere Vorwände gefunden hätte. Es steht aber auch weiter fest, daß die Pogromaktionen von SA, SS, NSKK und HJ durchgeführt worden sind, und daß das Volk davon am Morgen des 10. November genau so überrascht worden ist wie das Ausland. Daß dann der Pöbel hier und da die Gelegenheit benutzte, um zu plündern, hat mit „spontanem Volkszorn“ nichts zu tun.

Über weitere Vorbereitungen von langer Hand ist einem unserer Berichte folgendes zu entnehmen:

Berlin: Die ganze Aktion war schon 3-4 Wochen vorher behördlich vorbereitet worden. Sämtliche Juden waren dem Alphabet nach an bestimmten Tagen zum Polizeirevier bestellt worden mit der Aufforderung, etwa in ihrem Besitz befindliche Waffen mitzubringen. In diesen Tagen standen auf den Polizeirevieren Juden in langer Reihe, um alle Hieb-, Stich-, Schlag- und Schußwaffen abzuliefern. Die Waffen mußten abgegeben werden ohne Rücksicht darauf, ob die Besitzer Waffenscheine hatten. Diese Aktion hat man offenbar durchgeführt, um jeden Widerstand gegen die Zerstörungen und Plünderungen von vornherein unmöglich zu machen. Erst nach dem Pogrom kam dann die Verordnung von Himmler, die alle Juden zur Waffenablieferung aufforderte und der dann auch bald die Feststellung folgte, daß Waffen in großer Zahl beschlagnahmt worden seien.

Eine weitere Vorbereitung erfolgte in der Form, daß sämtliche jüdische Läden schon vor Monaten besonders gekennzeichnet worden sind, während man sich vorher mit einer indirekten Kennzeichnung dadurch begnügt hatte, daß alle arischen Geschäfte das Plakat der Arbeitsfront führen mußten. Jetzt mußte jedes zweite Schaufenster eines jüdischen Geschäfts in Augenhöhe die vollen Vornamen des Inhabers in Ölfarbe und 20 cm großen Buchstaben tragen. In einzelnen Bezirken, in denen man besonders scharf vorging, wie z. B. in der Schönhauser Allee, mußte den Vornamen auch der jüdische Vorname Israel oder Sara hinzugefügt werden.

In den Pogromtagen wurden in Deutschland etwa 60 000 Juden verhaftet und 520 Synagogen ganz oder teilweise zerstört. Unsere Mitarbeiter berichten:

Rheinland-Westfalen, 1. Bericht: In der Nacht vom 10. auf den 11. November begannen in Düsseldorf planmäßige Aktionen gegen die Juden. SA und SS hatten schon bereitgestanden, und die Feuerwehr war auch bereits vorher unterrichtet. Ganz planmäßig und „schlagartig“ setzten die Aktionen ein. Die jüdischen Geschäfte wurden nicht nur von außen, sondern auch innen zerstört. In den Wohnungen hauste man noch fürchterlicher. Dorthin kam zuerst die Gestapo. Sie benahm sich verhältnismäßig „anständig“. D. h., die Beamten erklärten, sie kämen auf Anweisung und müßten Haussuchung halten nach verbotener Literatur suchen usw. Dabei wurde nichts demoliert. Jedoch führte man viele Juden ab. Besonders Juden polnischer Staatsangehörigkeit oder polnischer Herkunft.

Während der Durchsuchung, die die Gestapo machte, beschäftigte sich die SA draußen mit dem Demolieren von Scheiben und Türen. Dann erschien die SS, die ihr Werk im Innern der Wohnungen verrichtete. Fast immer wurden sämtliche Möbel zertrümmert, Bücher und Wertgegenstände in den Wohnungen herumgestreut, die jüdischen Bewohner wurden bedroht und geschlagen. Es haben sich wahre Schreckensszenen abgespielt. Nur hin und wieder gab es mal einen anständigen SS-Mann, der deutlich erkennen ließ, daß er nur seine Pflicht erfüllte, weil er den Befehl erhalten hatte, in die Wohnungen einzudringen. So ist uns bekannt, daß zwei Studenten in SS-Uniform je eine Vase zertrümmerten und dann ihrem Vorgesetzten meldeten: „Befehl ausgeführt!“

Viele Juden wurden schrecklich mißhandelt, manche wurden erschlagen. Viele Düsseldorfer, überhaupt viele rheinische Juden wurden nach Dachau gebracht. In manchen Fällen flüchteten die Juden vor der Aktion. Das war nur möglich, weil die Bevölkerung, ja selbst die Polizei und einige Nazis die Juden warnten und ihnen halfen. Noch heute beherbergt in X. ein Arier in seiner Privatwohnung 11 Juden, die sich nicht auf die Straße trauen, weil sie nachträgliche Mißhandlungen fürchten.

2. Bericht: Am 10. und 11. November haben die Nazis in Köln furchtbar gehaust. Sie sind wie auf Kommando in die Häuser der reichen und armen Juden eingedrungen, haben die Schaufenster der Geschäfte zertrümmert und in den Wohnungen ebenfalls alles kurz und klein geschlagen. Besonders trostlos sah es rund um den Dom und Neumarkt aus. Dort hatten noch immer jüdische Geschäftsleute ihre Kramläden, obwohl man schon in den vergangenen Jahren manchen Laden ausgeräubert und zerstört hatte. Jetzt hat man nichts und niemand mehr geschont. Scharenweise wurden die Juden verhaftet und viele sind nach Dachau transportiert worden. In den Wohnungen blieb nichts ganz. Während die Gestapo meist verhältnismäßig „anständig“ war, hat die SA fürchterlich gehaust.

In der Nacht vom 10. zum 11. November wurden in Hamborn alle Juden, die man erwischen konnte, aus ihren Betten geholt. Wer sich nicht schnell genug anziehen konnte, mußte über die Nachtkleidung den Mantel ziehen und so mit zur Polizeistation gehen. 150 Juden aus Hamborn wurden in dieser Nacht ins Polizeigefängnis nach Duisburg gebracht. Von dort aus kamen viele ins Konzentrationslager Dachau.

In Duisburg selbst wurden die Juden in Massen verhaftet, nachdem ihre Geschäfte und Wohnungen demoliert und ausgeraubt worden waren. 350 polnische Juden wurden in Viehwagen verladen und in Richtung nach der polnischen Grenze abtransportiert.

3. Bericht: Die in der Stadt Geilenkirchen im Wurmgebiet liegende ^ Synagoge wurde eingeäschert. In Alsdorf wurde der jüdische Friedhof vollständig verwüstet. Die meisten Wohnungen und die wenigen jüdischen Geschäfte, die es im Wurmgebiet noch gab, wurden demoliert und ausgeraubt.

Auf dem Friedhof in Alsdorf (dem allgemeinen Friedhof) liegen 282 bei einem Grubenunglück ums Leben gekommene Bergarbeiter begraben, darunter auch ein jüdischer Bergarbeiter. Der Grabstein auf diesem Grabe wurde zertrümmert und das Grab dem Erdboden gleichgemacht.

Bei den Unterhaltungen mit SA-Leuten kam heraus, daß alles planmäßig organisiert war. Der Befehl, gegen die Juden vorzugehen, kam von der Kreisleitung. In einigen Orten weigerten sich die SA-Leute, die Juden ihres Ortes auszuplündern. Sie wurden in andere Orte abkommandiert, wo sie nicht bekannt waren. In vielen Orten bekam auch die HJ den Befehl, gegen die Juden vorzugehen.

Im Wurmgebiet befanden sich noch immer einige holländische Juden. Ihre Geschäfte wurden nicht geschont. Daraufhin sind diese Holländer in ihr Heimatland zurückgekehrt.

Südwestdeutschland, 1. Bericht (Baden): In Mannheim und im ganzen badischen Unterland wurde die Verfolgung der Juden mit unmenschlicher Brutalität durchgeführt. In der Stadt Mannheim drang der Pöbel unter der Führung von SA- und SS-Leuten in die Wohnungen der jüdischen Familien ein, mißhandelte die Familienangehörigen, wobei auch Frauen, Kinder und Greise nicht verschont blieben. Nach solchen Besuchen blieb von der Wohnungseinrichtung nicht viel übrig, häufig kam es auch zu Plünderungen, besonders auf Schmuckstücke, Uhren und sonstige leicht zu verbergende Wertgegenstände hatten es die Eindringlinge abgesehen. Da diese Überfälle auf jüdische Wohnungen an Hand von sorgfältig vorbereiteten Listen durchgeführt wurden, blieb in der ganzen Stadt nicht eine einzige Wohnung, nicht eine einzige Familie verschont. Diese sorgfältige Vorbereitung wirft auch ein eigenartiges Licht auf den angeblich „spontanen“ Charakter der ganzen Aktion.

Auch in den kleineren Städten und in den Dörfern des ganzen Gebiets waren die Juden den gleichen Verfolgungen und Mißhandlungen ausgesetzt. Viele jüdische Familien, die in den kleineren Orten auf dem Lande lebten, flüchteten sich zu Verwandten und Bekannten nach Mannheim, da sie glaubten, sich hier vor dem Terror retten zu können.

So lebten in der Stadt in zahlreichen jüdischen Wohnungen oft 20 und 30 Menschen zusammen, die nicht wagten, vor die Hautür zu gehen.

Als die Nazis von diesen Zufluchtsstätten erfuhren, wurden die Gas- und Elektrizitätswerke gezwungen, die Gas- und Elektrizitätszufuhr abzustellen. Die von diesen Maßnahmen betroffenen Juden mußten sich in diesen Tagen ihre Nahrung auf Spiritus- und Petroleumkochern zubereiten.

Auch die Zahl der Verhaftungen unter den Juden war in Mannheim außerordentlich hoch. Die meisten Verhafteten wurden nach Dachau verbracht, aber nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder freigelassen, allerdings unter der Bedingung, daß sie einen Revers unterschrieben, in dem sie sich verpflichteten, innerhalb von vier Wochen das Reichsgebiet zu verlassen. Es wurde ihnen angedroht, daß sie erneut nach Dachau gebracht würden, wenn sie dieser Verpflichtung in der vorgeschriebenen Zeit nicht nachgekommen wären.

Obwohl in den Zeitungen wenig über die Einzelheiten dieser Aktionen berichtet wurde, sickerte die Wahrheit allmählich durch und die Bevölkerung erfuhr, daß sich viele Juden das Leben genommen hatten, insbesondere ehemalige Ärzte und Rechtsanwälte. Die Bevölkerung selbst, sowohl Arbeiter als auch bürgerliche Kreise, nahm die Nachrichten von dem Terror gegen die Juden mit Mißbilligung und Abscheu auf.

2. Bericht (Frankfurt): Wie es hier aussieht, das ist einfach fürchterlich. Alle Synagogen sind völlig zerstört. Sie bieten ein gräßliches Bild der Verwüstung. Am Freitagabend brannte die große Synagoge in der Friedberger Anlage, ein wunderschöner, noch ziemlich neuer Bau, immer noch. Die Feuerwehr steht dabei, ohne auch nur den Versuch zu machen, das Feuer zu löschen. Auch die große Westendsynagoge, sowie alle anderen älteren Synagogen wurden ein Raub der Flammen. In allen jüdischen Geschäften sind die Fenster und Schaufensterscheiben eingeschlagen und im Innern alles kurz und klein geschlagen. Bei Ehrenfeld auf der Zeil, einem großen Geschenkartikel-Geschäft, sieht es traurig aus. Die teuren Radio- und Photo-Apparate liegen zerstört in den zertrümmerten Schaufenstern. Was alles gestohlen wurde, läßt sich gar nicht ermessen und ist auch gar nicht mehr feststellbar. Bei Voltz-Eberle, einem großen Weingeschäft mit vielen Filialen, hat man überall die Fenster und Läden zerstört und den Wein auf die Gasse geschüttet.

Die bisher jüdischen Geschäfte, die in diesen Tagen in arischen Besitz übergingen, haben Zettel angebracht: „Jetzt in arischem Besitz.“ Bei der Reta, einem Seiden- und Stoff-Etagengeschäft, ist angeschrieben, daß der Betrieb in arischen Besitz übergeht und der Übergang bereits bei der Handelskammer angemeldet ist. Vor vielen Geschäften stehen jetzt auch Polizeiposten. Sie erschienen aber erst, als das Werk der Zerstörung vollendet war. Man sieht daraus am besten, daß es ein vorbereitetes Unternehmen war.

3. Bericht (Saarpfalz): Die Zerstörung der Synagogen vollzog sich in zwei Etappen. Zuerst kam die Brandstiftung. Das war nachts und konnte nur von wenigen Menschen beobachtet werden. Vom 11. bis 13. erfolgten dann die Sprengungen unter sachkundiger Leitung. Die Brände hatten nur die Inneneinrichtungen und zum Teil die Dachstühle zerstört. Durch die Sprengungen wurden dann auch die Mauern niedergelegt. Die Sprengkommandos übernahmen zugleich auch die Zerstörung der Landsynagogen, die noch verschont waren, weil sich in den Dörfern offenbar niemand fand, der den erteilten Befehlen sofort nachgekommen wäre. Die Sprengungen erfolgten am hellen Tage. Sie verursachten teilweise Beschädigungen von Nachbarhäusern, die nun auf Kosten der Juden wiederhergestellt werden.

Am Sonntag, den 20. waren nirgends mehr zerbrochene Scheiben zu sehen. Alles mußte rasch repariert werden. Von den Juden, die infolge der erlittenen Mißhandlungen gestorben sind oder die Selbstmord verübt haben, schreiben die Zeitungen kein Wort. Auch Einzelheiten über das Zerstörungswerk sind in keiner Zeitung zu finden.

Traurig ist das Los der wenigen Juden, die jetzt noch in den Städten leben. Sie können am Tag nicht mehr auf die Straße gehen. Sobald sich einer blicken läßt, laufen ihm Scharen von Kindern nach, spucken nach ihm, werfen mit Dreck und Steinen oder bringen ihn durch das „Einhakeln“ der Beine mit gebogenen Stöcken zu Fall. Der auf diese Weise verfolgte Jude darf kein Wort sagen, sonst gilt das als Bedrohung der Kinder. Die Eltern haben nicht den Mut, die Kinder zurückzuhalten, weil sie Schwierigkeiten befürchten.

4. Bericht: Ein besonders trauriger Anblick war die Beteiligung von Kindern an den Plünderungen. Soweit man überhaupt bei der ganzen Aktion von Erregung oder Begeisterung sprechen kann, war sie nur bei Jugendlichen und Kindern vorhanden. Sie haben ja keinerlei Lebenserfahrung und betrachten die Juden wirklich als Verbrecher und Böse-wichter, wie es jetzt allgemein gelehrt wird. Die Jugend hat es also als wichtige und notwendige Handlung betrachtet, sich an den Zerstörungen des jüdischen Eigentums zu beteiligen. Und weil ihnen gesagt worden war, daß dies alles gestohlen oder zu Unrecht erworben war, fanden sie nichts Verwerfliches dabei, sich auch einige Brocken mitzunehmen, um den Eltern eine Freude zu machen.

5. Bericht: In Zweibrücken spielten sich am Donnerstag traurige Szenen ab. Nachdem die Synagoge angezündet worden war, begaben sich die hierzu abkommandierten SA-Leute in die Wohnungen der Juden und richteten dort große Zerstörungen an. Die Möbel und Wäschestücke wurden auf die Straße geworfen und angezündet. Unterdessen waren auf dem Land sämtliche Juden festgenommen und in die Stadt getrieben worden. Darunter befand sich ein Mann, der vom ersten bis zum letzten Tag den Weltkrieg mitgemacht und einen schweren Herzfehler davongetragen hatte.

In Homburg gab es noch ein einziges jüdisches Geschäft, das von einer alleinstehenden Frau geführt wurde, die sich nicht entschließen konnte, ihren Besitz aufzugeben und die auch von mitleidigen Menschen unterstützt wurde. Auch sie fiel nun der Rache der Hitlerhelden zum Opfer. Der Laden wurde demoliert, die Waren zerstört und zum Teil gestohlen. Die übrigen Juden wurden in ihren Wohnungen heimgesucht, ihre Möbel wurden zerstört, die Wohnungsinhaber zum Teil verprügelt und in Schutzhaft genommen. Das Gros der Bevölkerung verabscheute sichtlich diese Barbarei, aber man konnte auch Beweise für die Wirkung der Nazierziehung sehen, denn es gab Leute, die sich offenbar an diesem traurigen Schauspiel erfreuten und lustig grinsten.

In Saarlautem holte man nachts die Juden aus den Betten und trieb sie durch die Stadt. Das Hauptgaudi bestand darin, daß man sie in dem Zustand, wie sie aus dem Bett kamen, barfuß herumjagte. Das Sadismus ging sogar soweit, daß sich Frauen und Mädchen vor diesen Lausbuben vollständig entkleiden mußten. Ein bekannter jüdischer Einwohner der Stadt erlitt einen Herzschlag und war sofort tot. Mit Ausnahme der abkommandierten SA-Burschen verhielten sich die Leute passiv. Soweit überhaupt eine Erregung der Bevölkerung festzustellen war, galt sie nicht den Juden, sondern den SA-Leuten. Zu dieser nächtlichen Stunde waren zunächst nur die Eingeweihten auf der Straße. Später kamen einige Neugierige, durch den Lärm Aufgeschreckte hinzu, die sich aber ganz passiv und still benahmen.

Im Pirmasens wurde die Synagoge niedergebrannt. SA-Leute gingen ganz offen vor. Von einer erregten Bevölkerung war nichts zu sehen, sie stellte sich erst nachträglich ein und verabscheute in der Mehrzahl die Tat.

6. Bericht: In X. vollzog sich die Zerstörung der Synagoge folgendermaßen: Die Nachbarn wurden in der Nacht durch einen ungeheueren Knall geweckt und durch das Klirren von Glasscherben. Als sie hinaussahen oder auf die Straße liefen, sahen sie die Flammen aus der Synagoge schlagen. Vier Mann sprangen heraus mit versengten Kleidern und Haaren. Es waren zwei Handwerker, der Feuerwehrkommandant und der Kreisleiter. Sie wollten in dieser katholischen Stadt offenbar ohne jedes Aufsehen ihren Befehl ausführen. Dabei waren sie nicht vorsichtig genug, so daß man heute im ganzen Ort flüstert: „Wißt Ihr, wer die Synagoge angesteckt hat? Das waren die vier mit den versengten Haaren und Fingerspitzen.“ Offenbar hatten sie reichlich Benzin auf die brennbaren Teile gegossen, aber keine Fenster geöffnet. Als sie nun das Zündholz ansteckten, gab es durch die Gasentwicklung eine Explosion. Die Kerle haben noch großes Glück gehabt, denn sie hätten sehr leicht verbrennen oder ersticken können. Glücklicherweise bot das Innere der Synagoge nicht viel Brennbares, so daß die Gewalt des Feuers bald nachließ. Einem der Handwerker, die an der Brandstifung beteiligt waren, wurde der Abriß der Mauerreste übertragen.

Mit einiger Verspätung und zunächst sehr zaghaft, wurden dann auch noch die wenigen jüdischen Geschäfte zerstört und zum Teil ausgeplündert. Sämtliche männliche Juden wurden mit unbekanntem Ziel abgeführt.

Auch die Synagogen und Betsäle auf dem Lande wurden zerstört. So z. B. in Niederkirchen bei Kaiserslautern und in Ingenheim bei Landau, wo sich alte, aber repräsentative Synagogen befanden. Die Frauen und Kinder irrten zum Teil noch nach 8 Tagen umher und niemand konnte ihnen sagen, wo sich die verhafteten Männer befinden. Das Mitleid der Bevölkerung ist auf ihrer Seite, aber niemand darf ihnen helfen und wenn doch geholfen wird, muß es versteckt geschehen. Auch viele Nazis schämen sich. Die Zerstörungen auf dem Land wurden von städtischen Kommandos durchgeführt, ebenso die Verhaftungen.

Ein Teil der Verhafteten wurde truppenweise an die französische Grenze geführt und hinübergejagt. Die Franzosen schickten aber wieder alle zurück. Ein Trupp von 46 Juden aus Pirmasens wurde bei Stürzelbrunn über die Grenze gejagt. Sie wurden von den Franzosen verpflegt, die übel zugerichteten Verletzten wurden verbunden und dann wurden alle wieder bei Liderschied auf deutsches Gebiet geführt.

Dort wurden sie empfangen mit dem Befehl: „Still gestanden, wer einen Fluchtversuch macht, wird erschossen!“ Unter diesem Trupp befand sich der Rabbiner und ein bekannter Arzt. Viele Leute, die sich früher sträubten, an die Berichte über Gewalttaten bei der Gestapo und in den Konzentrationslagern zu glauben, sind jetzt durch diesen Massenanschauungsunterricht bekehrt.

Bayern: Aus allen Berichten ist eindeutig zu erkennen, daß die Aktionen gegen die Juden gut organisiert und vorbereitet waren. So wurden z. B. in X. aus einem SS-Sturm 27 Mann ausgesucht und für abends 9 Uhr ins Dienstlokal berufen. Dort wurde ihnen mitgeteilt, sie hätten sich um halb 12 Uhr nachts in Zivil am . . . Platz einzufinden. Es gebe „heute noch etwas zu tun“. Um halb 12 Uhr ging der Trupp ab.

Man nannte ihnen 6 jüdische Geschäfte, die in dieser Nacht zu demolieren seien. Der Trupp verrichtete seine Arbeit ganz nach Weisung, doch war bei den letzten beiden Geschäften die Aktionskraft schon sehr geschwunden. Im letzten Geschäft wurden nur mehr die Fenster eingeschlagen. Die geraubten Gegenstände wurden den SS-Leuten sofort abgenommen. Es hieß, sie würden der NSV übergeben.

Die Ortsgruppe der NSDAP in B. erhielt einen Tag vor den Judenpogromen Anweisung, für den präzisen Verlauf der antijüdischen Kundgebungen zu sorgen. Der Befehlshaber der SA habe die detaillierten Aufträge erhalten. Seinen Anordnungen sei Folge zu leisten. Der Ortsgruppe wurde der Auftrag gegeben, antisemitische Flugblätter und Plakate herzustellen und sofort zur Verteilung zu bringen.

In verschiedenen Fällen ist es vorgekommen, daß auch arische Geschäfte demoliert und geplündert wurden. In zwei Fällen erschienen sofort, nachdem die Beschwerde bei der Polizei erhoben worden war, Beamte der Partei und gaben den Geschäftsinhabern die Zusicherung, daß ihnen jeder Schaden ersetzt würde. Sie könnten auf Kosten der Partei ihre Geschäfte neu malen lassen und die zerstörten Waren nachbestellen.

In den kleineren Landorten wurde hauptsächlich die Hitlerjugend für die Zerstörungsaktion herangezogen. Wo keine Juden ansässig waren, zog man in benachbarte Orte und demonstrierte vor Pfarrhäusern. In Z. hat man ein regelrechtes Haberfeldtreiben vor dem Pfarrhau-se abgehalten. Man organisierte Sprechchöre, bei denen z. B. gerufen wurde: „Wo ist der Herr Pfarrer? - Der liegt auf seiner Köchin!“ - „Die Juden und die Jesuiten sind unser Unglück!“

Berlin: Am Donnerstag Morgen, den 10. November, setzte die allgemeine Verhaftungswelle gegen alle männlichen Juden ein. Es müssen in Berlin tausende verhaftet worden sein, allerdings ist es auch vielen gelungen, sich dadurch der Verhaftung zu entziehen, daß sie sich bei Bekannten oder Verwandten verbargen. Die Verhaftungen sind, soweit ich es übersehen kann, durchwegs durch Kriminalbeamte erfolgt. Gelegentlich konnte man beobachten, daß die Kriminalbeamten die Flucht der Gesuchten indirekt begünstigten, indem sie etwa der Frau des Mannes, den sie nicht antrafen, sagten: „Wir kommen heute Nachmittag 5 Uhr wieder, hoffentlich ist Ihr Mann dann da.“ In anderen Fällen machte die Kriminalpolizei den ganzen Tag über Versuche, den Gesuchten zu fassen.

Nach Eintritt der Dunkelheit zeigte sich in diesen Tagen ein typisches Bild: Häufig sah man verängstigte Juden mit ihren Köfferchen die Telefonzellen umschleichen, um einen günstigen Augenblick abzupassen, in dem sie sich über den Stand der Dinge zu Hause erkundigen konnten. Daß die Verhaftungen nach irgend einem System vorgenommen worden wären, war nicht zu erkennen. Man holte die Leute, wo man sie kriegen konnte, von der Straße, aus den Geschäften, aus den Wohnungen, ob reich oder arm. Ohne Ausnahme wurden alle Inhaber zerstörter Geschäfte verhaftet, weil man sie wegen der Ablieferung der Versicherungssummen in der Hand haben wollte.

Die Synagogen sind in Berlin im Laufe des Donnerstag Vormittag in Brand gesteckt worden. Dabei ist infolge eines Mißverständnisses auch die Synagoge in Templin angezündet worden, obgleich sie schon vor 6 Wochen verkauft worden war und dort ein Gewerbebetrieb eröffnet A 35 werden sollte. Ebenso ist es übrigens vorgekommen, daß arische Geschäfte mit zertrümmert worden sind. Zur Erklärung wurde dann hier und da angegeben, die Inhaber seien „weiße Juden“ gewesen. Daraus geht hervor, daß offenbar die Aktion noch etwas über die von oben gesteckten Grenzen hinausgetrieben worden ist.

Als ich am Donnerstagvormittag Unter den Linden am Hotel Bristol vorbeikam, war man gerade im Begriff, die Juwelen- und Goldwarengeschäfte von Markgraf und Posner zu zerstören. Ein riesiger Glaslüster, der von der Decke hing, wurde zertrümmert, die Sachen wurden auf die Straße geworfen und man konnte beobachten, wie Leute sehr eilig zu den in der Nähe haltenden Taxis liefen und abfuhren, während andere mit dem Auto angefahren kamen, ausstiegen und nach kurzer Zeit wieder davonfuhren. Aus dem Verhalten der Leute war zu schließen, daß sie etwas mitgenommen hatten.

Die Aktion wurde unter Mitwirkung des NSKK durchgeführt, das mit dem Wagen von Laden zu Laden fuhr. Außer SS- und SA-Leuten waren in Berlin auch HJ-Mitglieder beteiligt. So kenne ich z. B. einen Fall, in dem ein Lehrling, der im 3. Lehrjahr steht und Mitglied der HJ ist, an dem fraglichen Donnerstag nicht im Betrieb erschien und hinterher auf die Frage, wo er gesteckt habe, antwortete: „Na, Sie wissen doch, wir waren doch alarmiert“, und der auf die weitere Frage, ob er denn auch mit geholfen habe, Schaufenster einzuschlagen, die bezeichnende Antwort gab: „Na klar und ob!“

Sämtliche jüdischen Kinder mußten aus den Gemeindeschulen herausgenommen werden. Nur Mischlinge, die nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft angehören, können in den Schulen bleiben. Dabei ist bis jetzt noch nicht zu sagen, was mit den Kindern werden soll, denn es gibt gar nicht genügend jüdische Schulen in Berlin. Auch aus Kindergärten wurden jüdische Kinder, selbst wenn sie noch ganz klein waren, entfernt.

Bei der Auswanderung macht man den Juden die größten Schwierigkeiten. Auf Grund einer Anordnung der Devisenstelle müssen alle Einrichtungsgegenstände und Kleidungsstücke, die nach 1933 angeschafft worden sind, besonders „verzollt“ werden, d. h. es ist vor der Auswanderung der ein- bis fünffache Betrag des Wertes in bar abzuführen. Der Wert der Gegenstände wird durch einen besonderen Taxator ermittelt, dem es überlassen ist, welche Gegenstände er erfassen will. Ein Jude, der auswandern wollte, und dessen Bibliothek von einem solchen Taxator geprüft wurde, wurde darauf aufmerksam gemacht, daß politische Bücher nicht mit ins Ausland genommen werden dürfen. Auf die Frage, was unter politischen Büchern zu verstehen sei, erhielt er die Antwort, daß darunter sämtliche Schriften der NSDAP und der angeschlossenen Verbände fallen, sogar Tageszeitungen und Zeitschriften, da sonst zu befürchten wäre, daß im Ausland damit Greuelpropaganda getrieben werden könnte. Nach denselben Weisungen handelte dann später der Zollbeamte beim Einpacken des Umzugsgutes.

Auch beim Überschreiten der Grenze werden die Juden noch einmal einer überaus rigorosen Kontrolle unterzogen. Alle werden nackt ausgezogen, und auch das Gepäck wird bis ins einzelne durchstöbert.

Sudetenland, 1. Bericht: In Karlsbad wurden die Judenaktionen mit Fanfarensignalen der HJ eingeleitet. Dann trieb man die Juden, Männer und Frauen, vor dem Schützenhaus zusammen und ließ sie stundenlang stehen. Dabei gebärdeten sich die Hitlerjungen wie Besessene. Sie spuckten die Juden an und machten die unflätigsten Bemerkungen. Die Männer wurden dann aus Karlsbad abtransportiert. Viele kamen nach Dachau und Weiden, wo jetzt auch ein Konzentrationslager errichtet wurde. In Mies befindet sich ein Durchgangslager. Die meisten politischen Gefangenen wurden aus Dachau weggebracht, um den Juden Platz zu machen. Die jüdischen Frauen wurden von den Männern getrennt und in Schubtransporten an die tschechische Grenze gebracht. Dort wurden sie ausgeladen und von Grenzbeamten über die Grenze gejagt. Die Frauen durften nichts mitnehmen als die Kleider, die sie am Leibe hatten. Sie konnten nicht mehr in ihre Wohnungen zurück. Es gab schreckliche Szenen. Ein Polizeioffizier erklärte, daß er sich schäme, ein deutscher Beamter zu sein. Er sagte wörtlich zu einer Frau: „Wie lange wird diese Schande noch dauern!“

In einem nordböhmischen Orte zwang man die Juden, ihren Tempel selbst anzuzünden.

2. Bericht: Bei den am 8. bis 10. November verübten Exzessen gegen die Juden sind in Dux auch tschechische Geschäfte in Mitleidenschaft gezogen worden. Als Begründung dafür führt man an, daß die Tschechen mit den Juden zusammen gegen das Dritte Reich arbeiteten.

In Leitmeritz war ein Jude vor mehreren Monaten gezwungen, seinen Wintermantel auf das Leihhaus zu schaffen. Der Schätzungswert betrug 120 Kc, so daß er 60 Kc. darauf geliehen bekam. Heute schickte er einen Bekannten mit dem Leihschein und dem Geldbetrag aufs Leihhaus, um den Wintermantel einzulösen. Die 60 Kc. inclusive der Zinsen wurden vom Leihamt in Empfang genommen, der Mantel aber mit der Bemerkung behalten, daß dieser dem WHW zugeführt werde.

In Teplitz wurden am 10. November, nachmittags die Juden massenweise aus ihren Wohnungen und Geschäften herausgeholt. Von der Straßenbahn und den Autobussen wurden sie heruntergezerrt. Privatautos mit Juden wurden angehalten, damit ein Ordner einsteigen und mit ihm zur nächsten Polizeiwache fahren konnte. - Die Synagoge in Teplitz-Schönau ist geschlossen worden.

Sachsen: In der Farbenfabrik Hess in Pirna/Elbe wurden nicht nur die Fensterscheiben zerschlagen, sondern die Trupps haben auch teilweise die Fabrikanlagen zerstört. Den Arbeitern haben dabei die Tränen in den Augen gestanden, da sie nichts unternehmen konnten, um der Zerstörungswut Einhalt zu tun.

Oberschlesien, 1. Bericht: Die antijüdischen Ausschreitungen in Oberschlesien sind auf Befehl der Breslauer SS-Leitung erfolgt. Die SS-und SA-Mannschaften waren im Besitz von Listen; die Aktion im engeren Industriebezirk lag in den Händen des Hindenburger Kreisleiters Jonas.

In Hindenburg wurde die Aktion unter Ausschaltung der SA von der SS durchgeführt. Die SA gilt nicht als zuverlässig. Sie hat beim Abtransport polnischer Juden über die deutsche Grenze zuviel gestohlen. Das Signal zum Pogrom ist am 8. November gegen 11 Uhr abends gegeben worden, zugleich erhielt die Polizei den Befehl, sich nicht einzumischen, sondern lediglich das „neugierige Publikum“ fernzuhalten. Gegen 4 Uhr morgens hörten Einwohner in der Nähe der Synagoge eine heftige Detonation und kurz darauf stand die Synagoge in Flammen. SS-Trupps rückten an, auch Polizei und Feuerwehr waren bald am Platze. Die Feuerwehr beschränkte sich von vornherein auf den Schutz der umliegenden Gebäude. Kurz nachdem die Flammen bereits sichtbar waren, es mag am 9. November gegen 5 Uhr morgens gewesen sein, erschien der Kreisleiter Jonas, der der Polizei den Auftrag gab, niemanden zur Brandstelle zuzulassen. Die Polizei vertrieb daraufhin alle Zuschauer, die sich vor der Brandstelle angesammelt hatten, verhaftete auch einige Passanten, die kritische Bemerkungen gemacht hatten. In der Zwischenzeit wurden dann auch Geschäfte und Privatwohnungen von Juden zerstört.

Gegen 8 Uhr morgens sind auf der Brandstelle der Synagoge Gefängnisinsassen mit den Gefangenenaufsehern erschienen, Magistratsfuhrwerke standen gleichfalls zur Verfügung. Es wurde sofort mit den Aufräumungsarbeiten begonnen. Die noch stehenden Mauern der Synagoge wurden von der Hitlerjugend in Gegenwart eines SS-Führers aus Hindenburg mittels Handgranaten und Dynamit umgelegt. Gegen 10 Uhr wurde auf die Brandstelle ein größerer Transport von Mädchen und Jungens jüdischer Herkunft gebracht, die das Metall aus Schutt und Mauerwerk aussortieren, die Stücke säubern und in ein bereitstehendes Polizeiauto laden mußten.

Noch während die Hindenburger Synagoge brannte, zogen Trupps von je 4 bis 6 SS-Leuten in jüdische Geschäfte, zunächst in die Glashütte und das große Porzellangeschäft von Eisner, das kurz und klein geschlagen wurde. Der Wert der dort zertrümmerten Waren wird auf 150 000 RMk geschätzt. Gewöhnlich begaben sich 2 SS-Leute mit einem Polizisten in die Privatwohnung der Kaufleute, forderten die Schlüssel vom Geschäft, und wenn das Geschäft bereits „fertig“ war, kam die Privatwohnung dran. Übereinstimmend wird berichtet, daß gewöhnlich nicht ein einziger Gegenstand ganz geblieben ist: Teppiche und Kleider, Betten und sämtliche Wäsche sind zerrissen und zerschnitten, kurz, alles ist vernichtet worden. Und so ging es Straße um Straße.

Es mögen gegen 40 Einzeltrupps der SS bei dieser Aktion beschäftigt gewesen sein.

Nur ein einziges Konfektionshaus, das von Himmelfärb verfiel nicht dem Vandalismus, da der Inhaber bei der Herausgabe der Schlüssel erklärt hatte, er überweise sein ganzes Geschäft der Winterhilfe. Noch im Verlauf der Mittagsstunden erschien auch ein Kraftwagen eines großen Hüttenunternehmens und brachte die Konfektion im Werte von etwa 85 000 RMk. aus dem Geschäft in die Sammelstelle der Winterhilfe.

In der Dorotheenstraße in Hindenburg erschienen bei einer 83-jährigen jüdischen Witwe einige SS-Männer, nahmen ihr die letzte Habe von 10 RMk. und schlugen dann ihre Wohnung, Zimmer und Küche, kurz und klein.

Bei einer Kaufmannsfrau in der Kronprinzenstraße erschienen nach der Verhaftung des Mannes ein Zivilist und ein SA-Mann und forderten von ihr im Aufträge der Partei 300 RMk. Als die Frau erklärte, sie besitze keinerlei Mittel, mußte sie sich Geld im Flause borgen und ihre Kleinigkeiten hergeben, so daß etwa 100 RMk. beisammen waren, die dann „beschlagnahmt“ wurden, natürlich ohne Quittung. Die Wohnung war schon vorher demoliert worden.

„Meine Mutter hätte auch einen Pelz haben können“, erzählte ein Kind in der Volksschule in Hindenburg, „. . . aber die Mutter hat gestohlene Sachen nicht gewollt." Andere Nazi-Kinder geben offen zu, was der Vater alles mitgebracht hat, als die jüdischen Geschäfte geplündert wurden. In der NSDAP weiß man natürlich Bescheid, ohne gegen die Täter einzuschreiten. Einem SA-Führer in Hindenburg, einem Bäckermeister, der sich gerühmt hatte, die Juden zur Brandstelle befördert zu haben, erklärte seine Schwägerin, er habe sich die Taschen gefüllt und für ihn hätte sich die Aktion gelohnt. Er lächelte und stritt nicht ab.

Dem Hindenburger Rabbiner, Dr. Katz, der zunächst zur Brandstelle geführt wurde, damit er dem jüdischen Feuerwerk zuschauen könne, wurde von der SS-Mannschaft der Bart abgeschnitten. Dann wurde er nach Hause getrieben, nachdem seine Wohnung vorher gründlich geplündert worden war. Dr. Katz begab sich aber zu den verhafteten Freunden in der jüdischen Schule. Er ist ein bereits 66-jähriger Herr, der nicht abgeführt werden sollte. Er weigerte sich beim Abtransport, seine Gemeindemitglieder zu verlassen und wurde mit ins Konzentrationslager überführt, mit ihm sein etwa 30-jähriger Sohn, der Arzt Dr. Katz.

Nach Mitteilungen aus jüdischen Kreisen wird der Sachschaden, der in Hindenburg in Geschäften und Privatwohnungen angerichtet wurde, auf etwa lVä Millionen Mark geschätzt. Im Verlauf der Ausschreitungen sind ohne Ausnahme alle Personen männlichen Geschlechts zwischen 20 und 60 Jahren verhaftet, zunächst in der jüdischen Schule untergebracht und am 10. November dann vom polnischen Bahnhof, der sich auf Hindenburger Terrain befindet, in einen Extrazug verfrachtet und wie es heißt, zunächst nach Oppeln und dann nach Dachau gebracht worden. Der erste Transport umfaßte etwa 150 Personen. Bei den Verhaftungen sind auch Mißhandlungen vorgekommen.

2. Bericht: Der Brand der Beuthener Synagoge dauerte drei Tage lang. Die Feuerwehr schützte nur die umliegenden Gebäude. Im Verlauf des Donnerstags und Freitags wurden Trupps von Juden, 10 bis 20 Personen, an die Brandstelle geführt und mußten stundenlang dem Brand ihres Gotteshauses Zusehen. Diese Synagoge, die Eigentum polnischer Staatsbürger ist, hatte bei einer früheren Gelegenheit nach dem Eingreifen des Oppelner Generalkonsulats wieder hergestellt werden müssen. Diesmal nahm man keine Rücksicht auf fremdes Eigentum. Im Verlauf des Freitags wurden dann die restlichen Mauern durch SA und Hitlerjugend umgelegt. Beim Abtransport der Trümmer mußten auch Juden helfen.

Am 14. November erhielt die jüdische Gemeinde vom Magistrat einen Zahlungsbefehl über 15 000 RMk. für die Aufräumungsarbeiten bei der Synagoge und den geplünderten Geschäften. Mit den Geschäften und Privatwohnungen der Juden verfuhr man in ähnlicher Weise wie in anderen Städten. Angehörige der SA oder ihre Frauen haben Wertsachen, Pelze und Schmuck aus den jüdischen Läden der Bahnhofstraße in Waschkörben fortgetragen. Die Polizei hat den Plünderungen und dem Wegschaffen der Wertsachen tatenlos zugesehen. Der sogenannte Mob, auf den man den Raub und die Plünderungen jetzt abzuschieben versucht, war, soweit Beuthen und Umgebung in Frage kommt, nicht vorhanden.

Bei einer Kaufmannsfamilie in Beuthen in der Gleiwitzerstraße erschienen zunächst zwei SS-Leute, forderten das Bargeld und „beschlagnahmten“ 3000 RMk. Man versprach, die Wohnung zu schonen. Nach kurzer Zeit erschien jedoch ein zweiter Trupp, der die Vierzimmereinrichtung vollständig demolierte. Der Kaufmann wurde ins Konzentrationslager geschafft.

In Beuthen ließen sich SA-Leute in Einzelfällen Geld geben und haben die betreffende Wohnung vor Vernichtung geschützt.

Sowohl bei den Verhaftungen, als auch bei dem Zerstörungswerk in den Wohnungen sind Personen geprügelt worden, wobei die Kinder gezwungen wurden zuzusehen. In Einzelfällen soll die Polizei das Schlagen der Verhafteten verhindert haben, umso schlimmer verfuhren dann die Nazibanden mit den Angehörigen.

Unter den verhafteten Personen, etwa 300, befinden sich namhafte Persönlichkeiten, die sich während der Abstimmungszeit in Oberschlesien große Verdienste um das Deutschtum erworben haben, so der bekannte Rechtsanwalt Fränkel, der wiederholt das Reich beim Oberschlesischen Schiedsgericht gegen Polen vertreten hat.

An drei Familien von verhafteten Juden sind im Verlaufe der letzten November-Woche die Urnen ihrer Angehörigen überstellt worden, ohne jede Benachrichtigung, auf welche Weise der Tod erfolgt ist.

Insgesamt waren in Beuthen vom 10. bis 13. November 12 Morde zu verzeichnen, darunter der Fall dreier Juden, die in der Synagoge an SA-Koppel erhängt wurden.

3. Bericht: In Gleiwitz hat man vor der Brandlegung an der Synagoge des Nachts zunächst fürsorglich das Kupferdach entfernt, dann das Gebälk mit Benzin begossen und in den frühen Morgenstunden des Donnerstags den Brand gelegt. SS, SA und Hitler-Jugend waren zur Stelle. Polizei aber befand sich nur in den entfernteren Straßen, um das Publikum fernzuhalten. In Gleiwitz wurde die Feuerwehr noch vor der Brandlegung eingesetzt, da sich die Synagoge zwischen verschiedenen Gebäuden befindet, die leicht vom Brand erfaßt werden konnten, so daß Vorbeugungsmaßnahmen getroffen werden mußten. Der Brand dauerte zwei Tage.

Die Verhafteten, etwa 356 Personen, wurden am Sonnabend in Kraftwagen der Polizei und der SS nach Oppeln abtransportiert, um ins Konzentrationslager geschafft zu werden.

Einige wohlhabende Familien in Gleiwitz sind von Plünderungen verschont geblieben, weil sie Geld an die NSDAP gaben. Sie mußten sich nur verpflichten, in den nächsten Tagen aus Gleiwitz zu verschwinden. Die Vermittlung hat ein Nazipolizeioffizier übernommen, der zu diesen wohlhabenden jüdischen Kreisen Beziehungen hatte. Man spricht von 50000 RMk., die auf diese Weise in den Besitz des SA-Sturms Gleiwitz bzw. in die Hände der Führung kamen.

Während der antijüdischen Aktion waren vier Todesopfer zu verzeichnen, darunter der Baumeister Ritter, dessen Urne der Frau zugestellt wurde. Die Frau mußte dafür noch einen größeren Betrag entrichten.

In Peiskretscham bei Gleiwitz weigerte sich ein schwerkriegsverletz-ter Jude, der sein Unternehmen seit 25 Jahren führt, die Schlüssel seines Unternehmens an die SA auszuhändigen. Er sei Kriegsverletzter und habe außerdem zwei Brüder im Felde verloren. Diese Entschuldigung galt nichts, man bemächtigte sich der Schlüssel mit Gewalt und vernichtete alle Maschinen und Werkzeuge in der Werkstatt und nachträglich auch noch die Wohnung.

In Tost bei Gleiwitz wurde eine jüdische Hausbesitzerin gezwungen, einem Nazi ihr Haus für 3800 RMk. zu verkaufen. Es ist etwa 10 000 RMk. wert. Die Frau hat Tost verlassen. Sie war die letzte jüdische Einwohnerin. Der Mann ist vorher ins Konzentrationslager abgeführt worden.

In Oppeln hat sich an den antijüdischen Aktionen besonders die Polizei sehr aktiv beteiligt. Sie hat in Gemeinschaft mit der SS und SA die Geschäfte erbrochen und geplündert.

In Ratibor, Groß-Strehlitz, Kreuzburg und Guttentag verlief die Aktion genau so wie in Hindenburg und Beuthen. Bereits am Mittwoch Abend waren SS, SA und Hitler-Jugend unterrichtet, was sich die folgende Nacht abspielen werde und dann setzten am Donnerstag, Freitag und Sonnabend die Zerstörungen ein, die, wie man bei den Nazis sagt, planmäßig durchgeführt wurden.

Danzig, 1. Bericht: Die Pogrome setzten in Danzig nach dem Bekanntwerden des Todes des Botschaftssekretärs vom Rath ein. Sie waren ohne jeden Zweifel ganz genau und bis in alle Einzelheiten organisiert. Am 10. November gingen in den späten Abendstunden sogenannte Malkolonnen in Danzig und Zoppot, ferner in den Danziger Vororten durch die Straßen. Sie waren mit Farbtöpfen und Pinseln ausgerüstet und malten auf die Bürgersteige - selbstverständlich auch an Fensterscheiben jüdischer Geschäfte - propagandistische Parolen u. a.: „Denkt an den Mord an Ernst vom Rath“ - „Denkt an Wilhelm Gustloff“ - „Fort mit den jüdischen Mördern“ - „Juden raus“ - „Nieder mit den Juden“ usw. In der gleichen Nacht wurden nicht nur die Fensterscheiben sämtlicher jüdischer Geschäfte zertrümmert, sondern mit Äxten und Beilen sogar die Fensterrahmen zerschlagen. Ich sah beispielsweise, wie in dieser Nacht das Radiogeschäft von Lipetz völlig demoliert wurde. Es war etwa abends 10 Uhr, also die Straßen noch belebt. Die Schupo in der Milchkannengasse stand in etwa 10 Meter Entfernung. Die Waren, die sich in den Fenstern befanden, Radio-Apparate, Radioartikel, elektrische Apparate usw. wurden ausgeräumt und meist mit Beilen zerhackt, zum Teil aber auch in Säcke gesteckt und mitgenommen. Dann zertrümmerte man mit Äxten die Ladentür und die Ausstellungsgegenstände, die unmittelbar hinter der Tür standen. Eine ähnliche Arbeit wurde in der ganzen Stadt geleistet. Die Banditen hatten meist „Räuberzivil“ an, zum Teil trugen sie jedoch auch Uniformen der SA oder der HJ.

Die gleichen Kolonnen überfielen am selben Abend jüdisch aussehende Passanten in den Straßen. Da nur wenige Juden zu solch später Abendstunde noch auszugehen wagten, mußten auch Leute daran glauben, die gar keine Juden sind, sondern nur jüdisch aussehen. Ich habe gesehen, wie auf dem Holzmarkt ein Mann, der offenbar Jude war, mit Gummiknüppeln niedergeschlagen wurde. Er blutete stark am Hinterkopf und aus Nase und Mund. Die Banditen, die sämtlich in SA-Uniform gekleidet waren - es waren 5 Mann -, ließen ihn dann auf der Straße liegen. Nach wenigen Minuten, in denen einige Passanten sich um den Verletzten kümmerten, erschien ein Überfallwagen und holte das Opfer ab. In dem Wagen befanden sich bereits drei ähnlich zugerichtete Straßenpassanten. Das Publikum, das sich des niedergeschlagenen Juden angenommen hatte, wagte nicht, ihn vor Eintreffen des Polizeiwagens fortzutragen. Die Leute schwiegen meist, als sie vor dem Opfer standen.

Unter den in der Nacht vom 10. zum 11. November in Danzig überfallenen Juden befanden sich zahlreiche polnische Staatsbürger. Auch unter den demolierten Geschäften gehören viele polnischen Staatsbürgern.

Am 11. und 12. und 13. November ereigneten sich dann die tollsten antisemitischen Ausschreitungen, die es in Danzig bisher gegeben hat. Sämtliche jüdische Geschäfte wurden demoliert. Bereits am 11. November machte die Stadt deshalb an vielen Stellen einen geradezu trostlosen Eindruck. Bezeichnend ist, daß auch die meisten Waren zertrümmert, zerrissen, verschmutzt oder auch gestohlen wurden. An vielen Stellen der Stadt, besonders aber in Zoppot, drangen Gruppen von 5 bis 6 Mann auch in die jüdischen Wohnungen ein. Dort zertrümmerte man das Mobiliar, stahl Schmuck und Wertgegenstände und mißhandelte die Wohnungsinhaber.

2. Bericht: Über die Dämme in Danzig (Altstadt) sah ich am 11. November nachmittags fünf Nazis in Räuberzivil und mit Beilen in der Hand gehen. Ihnen folgte laut johlend eine Horde von etwa 20 Kindern. Zehn Schritt hinter dem Nazi-Gesindel gingen zwei Schupo-Beamte her. Die Nazis gingen in die kleinen jüdischen Läden, die es hier gibt, und die fast ausschließlich polnischen Juden gehören, und zertrümmerten die gesamte Inneneinrichtung - die Schaufenster und Türen waren bereits in der Nacht vorher zerschlagen worden. Manchmal ging der Trupp auch in Privathäuser, wo Juden wohnten. Die Polizeibeamten hielten sich stets dicht hinter den Nazis und taten nichts weiter als Umstehende, die neugierig oder wütend dem Treiben der Nazis zusahen, auseinanderzutreiben. Dabei griffen sie wiederholt nach dem Gummiknüppel und prügelten auf die Umstehenden ein, auf Männer, Frauen und Kinder. Die Beamten - das sah man - schlugen in blinder Wut, vielleicht schämten sie sich. Als die Nazis gerade wieder ein A 42 Geschäft demolierten, die Schupos standen in einiger Entfernung - rief von der anderen Straßenseite eine dort stehende Frau: „Herr Wachtmeister, wann werden Sie den Skandal verhindern, der sich vor Ihren Augen abspielt? Man muß sich ja schämen!“ Die Schupobeamten schritten gegen die Frau nicht ein, sie forderten sie lediglich auf, weiter zu gehen. Die Frau blieb aber stehen, und es geschah ihr nichts.

An den schlimmen Tagen wurden auch alle Juden aus den Danziger Straßenbahnen geworfen. An einzelnen Haltestellen kamen SS-Leute in die Straßenbahnen und forderten Juden auf, auszusteigen. Wenn sich tatsächlich ein Jude in einer Straßenbahn befand, wurde er meist von den Nazis verprügelt. Ebenso erging es Juden, die - seit langem schon eine sehr seltene Erscheinung - ein Kino betreten wollten. Die Folge von all diesen Dingen ist, daß sehr viele Juden es überhaupt nicht mehr wagen, die Straße zu betreten. Sie bleiben zu Hause und lassen sich von christlichen Bekannten Lebensmittel aus den Geschäften einholen.

Am 13. November wurde eine Reihe von Haussuchungsaktionen durchgeführt, nach den Angaben des „Vorposten“ - der Danziger Nazizeitung - in etwa 120 jüdischen Wohnungen und sogenannten Quartieren, wo meist polnische arme Juden wohnen. Bei den Haussuchungen haben sich ebenfalls die tollsten Dinge abgespielt. Zahlreiche Juden, meist polnische Staatsbürger, wurden verhaftet. Sie befinden sich in der Mehrzahl noch in Haft. Polizeibeamte erzählen andeutungsweise von ungeheuerlichen Mißhandlungen der Inhaftierten durch die Beamten der politischen Polizei. Ein uniformierter Polizeibeamter sagte mir, daß man sich schämen müsse, Polizeibeamter zu sein. Es handle sich um Mißhandlungen, „wie sie sonst nur bei Verhaftungen politischer Gegner üblich gewesen seien“.

Am 13. November wurde in Danzig-Stadtgebiet um etwa 8 Uhr abends ein über 60 Jahre alter Jude von Nationalsozialisten aus der Wohnung gezerrt, bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen und dann auf das Straßenbahngleis an einer recht dunklen Stelle geworfen. Dort hat ihm ein Schutzpolizist aufgefunden und zum Arzt gebracht.

Nach den wüsten antijüdischen Ausschreitungen in Danzig hat sich eine Reihe von Juden polnischer Staatszugehörigkeit, die in Mitleidenschaft gezogen worden waren, beim Generalkommissar der Republik Polen in Danzig beschwert. Am 15. November vormittags erschien daraufhin die politische Polizei vor dem Gebäude des polnischen Generalkommissariats in Danzig und veranstaltete mit Unterstützung der Schutzpolizei eine Razzia auf alle Juden, die sich dem Gebäude des Generalkommissariats näherten. Es wurden bei dieser Gelegenheit nicht weniger als 200 polnische Juden verhaftet. Sie befinden sich zum größten Teil noch im Danziger Polizeipräsidium in Haft. Ihre Verhaftung wurde von der Polizei damit begründet, daß die Juden versucht hätten, zu demonstrieren.

Allgemein ist aufgefallen, daß die großen antisemitischen Ausschreitungen erst einen Tag nach den Pogromen im Reich vor sich gingen.

3. Bericht: Am 11. November abends wurde in Zoppot die Synagoge in Brand gesteckt. Etwa 6 SA-Leute drangen in das Gebäude ein und legten von innen den Brand. Vorher wurden goldene und silberne Gerätschaften aus der Synagoge herausgeschleppt. Gebetbücher flogen in weitem Bogen heraus. Die Synagoge brannte aber nicht ab. Die Feuerwehr erschien, war anscheinend nicht gut informiert und begann mit Löscharbeiten. Der Brand, der noch keine großen Formen angenommen hatte, wurde sehr bald gelöscht. Nur der Dachstuhl war ausgebrannt.

Am nächsten Tag, etwa um die gleiche Zeit, erschienen wieder Leute, meist in Räuberzivil, und steckten die Synagoge erneut in Brand. Auch diesmal erschien die Feuerwehr. Sie bekämpfte den Brand jedoch nicht, sondern beschränkte sich darauf, die umliegenden Gebäude vor dem Feuer zu bewahren. An diesem Tage brannte die Synagoge bis auf die Fundamente nieder.

In Zoppot wurde in der Nacht vom 12. zum 13. November eine große Anzahl von jüdischen Familien, meist polnischer Staatsangehörigkeit, in ihren Wohnungen eingenagelt. SA-, SS- und HJ-Leute gingen mit großen Nägeln und mit Hämmern ausgerüstet spät abends, zum Teil auch noch am frühen Morgen, durch die Straßen und vernagelten die Wohnungstüren der Juden mit Latten oder nagelten Tür und Türrahmen zusammen. Dann stellten sie zum Teil Wachen vor die Häuser. Die meisten Juden blieben nicht nur die Nacht, sondern auch noch den nächsten Tag in ihre Wohnungen eingenagelt, weil sie nicht wagten, sich zu befreien.

Die Zahl der von Nazis in den Tagen nach dem 9. November überfallenen Juden ist in Zoppot besonders groß. Man überfiel und verprügelte die Juden in ihren eigenen Wohnungen ebenso wie auf offener Straße. Wenn mißhandelte Juden christliche Ärzte herbeiriefen, so wurden diese durch Naziposten am Betreten der jüdischen Wohnungen gehindert.

In Danzig-Langfuhr drangen am 10. November in den Nachmittagsstunden 6 Leute, davon 4 in SA- bzw. in HJ-Uniform in die Synagoge ein. Alle sechs waren mit Äxten, Beilen und anderen Werkzeugen versehen. Sie ließen die Türen offen stehen. Vor der Synagoge war ein Beamter der Schutzpolizei postiert. Die 6 Mann begannen mit Ausräumungsarbeiten. Sie brachten Gewänder heraus, warfen Gebetbücher auf die Straße und hieben mit den Äxten auf das Gestühl ein. Sehr bald fanden sich Zuschauer ein, darunter vor allem Kinder, viele in HJ-Uni-formen, die mit den Gebetbüchern Fußball spielten, sie zerrissen oder sie an sich nahmen. Aus der Menge der umstehenden Menschen wurde auf die Jungen geschimpft. Bald folgten auch kritische Bemerkungen gegen das gesamte Treiben. Darauf forderte der Schupo-Beamte, dem die ganze Sache offenbar peinlich war, die Leute auf, fortzugehen. Zu den 6 Nazibanditen, die sich in und zum Teil vor der Synagoge beschäftigten, sagte der Schupo vernehmlich: „Und Ihr macht etwas schneller, damit Ihr fertig werdet!“ Darauf schloß er die Tür zur Synagoge und ließ die drinnen weiter wüten. Kurze Zeit darauf traf ein weiterer, diesmal erheblich größerer Trupp Nazis ein und stürmte johlend in die Synagoge. Jetzt hörte man, daß es innen lebhafter wurde. Nach etwa 10 Minuten kamen die Leute aus der Synagoge heraus. Einige trugen A 44 gefüllte große Säcke auf dem Rücken. Andere hielten in der Hand Leuchter, Pokale und Silbergerät. Auf einem großen Handwagen wurde die Orgel abgekarrt. Auf der Orgel spielte man, etwas von der Synagoge entfernt, auf dem Markt in Langfuhr, das Deutschland- und das Horst Wessel-Lied. Als die Nazis mit allem fertig waren und sich in Richtung des Marktes fortbewegten, erschienen vier Schupo-Beamte, die sehr energisch die umstehenden Leute und Kinder aufforderten, weiterzugehen. Angezündet wurde die Synagoge in Langfuhr nicht.

Bei dem Juden Prinz in Danzig-Oliva, einem alten Krüppel, zertrümmerte man in der Wohnung sämtliches Geschirr, Mobiliar, Glas usw. und warf alles auf den Hof. Sämtliche Fenster, Fensterrahmen, Fensterbretter wurden mit Beilen zerschlagen. Es blieb nur das leere Gemäuer übrig. Die Betten wurden zerschnitten und die Federn auf den Hof geschüttet. Im Hof hingen Wäscheleinen mit Wäsche zum Trocknen. Sämtliche Wäsche wurde zerschnitten und zerfetzt, selbst die Pfähle, an denen die Wäscheleinen befestigt werden, wurden aus dem Erdboden herausgerissen und zerhackt. Die Täter trugen keine Uniform. Man hat sie aber als Mitglieder der HJ in Oliva erkannt.

 

c) Ablehnung im Volke

Alle Berichte stimmen dahin überein, daß die Ausschreitungen von der großen Mehrheit des deutschen Volkes scharf verurteilt werden. In den ersten Pogromtagen sind im ganzen Reich viele hundert Arier verhaftet worden, die ihren Unwillen laut geäußert haben. Oft wird die Frage gestellt: „Wer kommt nach den Juden an die Reihe?“ - Man muß sich allerdings - wie groß die allgemeine Empörung auch sein mag - darüber klar werden, daß die Brutalitäten der Pogromhorden die Einschüchterung gesteigert und in der Bevölkerung die Vorstellung gefestigt haben, jeder Widerstand gegen die uneingeschränkte nationalsozialistische Gewalt sei zwecklos.

Wir entnehmen unseren Berichten:

Rheinland-Westfalen, 1. Bericht: Die brutalen Maßnahmen gegen die Juden haben große Entrüstung in der Bevölkerung ausgelöst. Man äußerte sich recht offen und viele Arier wurden deswegen verhaftet. Als bekannt wurde, daß man eine jüdische Frau aus dem Wochenbett weggeholt hatte, äußerte sogar ein Polizeibeamter, das sei zuviel. „Wohin soll denn Deutschland mit diesen Methoden steuern?“ Er wurde daraufhin selbst verhaftet. Auch manche Nazis wurden abgeführt, weil sie die antijüdischen Maßnahmen kritisiert hatten.

2. Bericht: Die Maßnahmen gegen die Juden haben in Köln kein A 45 freudiges Echo gefunden. Selbst führende Nazis haben ihre Unzufriedenheit offen zum Ausdruck gebracht, wahrscheinlich weil sie an der Stimmung des Volkes einfach nicht vorübergehen konnten. Wie sehr man in Köln über die Haltung des Volkes enttäuscht war, das zeigt die Tatsache, daß am 16. November Streicher nach Köln geholt wurde, der in der Messehalle die Kölner über die Judenfrage „aufklären“ sollte. Obgleich man tagelang große Reklame gemacht hatte, wies die Messehalle sehr große Lücken auf.

Wer wird nach den Juden das nächste Opfer bringen müssen? So fragt man sich hier. Werden es die Katholiken sein? Oder wird man eine besondere allgemeine Vermögensabgabe durchführen? Mit diesen beiden Möglichkeiten rechnet man vor allem in Wirtschaftskreisen.

3. Bericht: Im ganzen Wurmgebiet herrscht große Empörung über diesen Vandalismus. Das kam u. a. deutlich zum Ausdruck, als die SA in der Dunkelheit ein Geschäft zertrümmerte und dabei im Schutze der Dunkelheit aus einem gegenüberliegenden Obstgarten mit Steinen beworfen wurde. Ein SA-Mann wurde am Unterkiefer erheblich verletzt. Obwohl die Polizei sofort eine große Suchaktion einleitete, konnte der Täter nicht ermittelt werden. Die Recherchen werden fortgesetzt. Da jedoch die Empörung allgemein ist, wird man den oder die Täter kaum finden.

Durch die allgemeine Ablehnung der Judenpogrome hat die durch außenpolitische Erfolge Hitlers mutlos gewordene „arische“ Opposition wieder etwas Hoffnung bekommen.

Südwestdeutschland: Mit einem Nazi spricht man über die Sache nicht. Aber in der Bevölkerung werden die Vorfälle allgemein verurteilt. Die Einwohner haben sich nicht an der Schande beteiligt. Eine Volkserregung wegen des toten Botschaftsrats gab es hier nicht.

Bayern: Alle unsere Informationen besagen, daß die breiten Bevölkerungsschichten an diesem Treiben der Nazis keinen Anteil hatten. Als die Bürger in der Frühe aufstanden, hatten die Nazis schon ihr Werk vollbracht. Man ging dann selbstverständlich aus, um sich die Heldentaten anzusehen, aber von einer Volksbewegung konnte nicht die Rede sein. Im Gegenteil, es gibt viele Beispiele dafür, daß die Bevölkerung gegen diese Methode Stellung nahm. Das konnte man besonders bei den Verhaftungsaktionen feststellen, die tags darauf überall durchgeführt wurden. In einem Fall z. B. kam die Frau des Blockwarts zu einem in ihrem Haus wohnenden Juden gelaufen und sagte ihm: „Nehmen Sie schnell Ihre Familie und kommen Sie zu mir herunter, jetzt kommen sie zu uns ins Haus. Nehmen Sie Ihre wertvollen Sachen mit, die kann ich schon unterbringen.“ Der Jude war darüber sehr verwundert und wollte zuerst nicht mitkommen. Die Frau nahm aber einfach die Kinder und führte sie weg, dann fing sie an, Kleider zusammenzutragen, und die Judenfamilie, die völlig kopflos war, ließ sich von ihr dirigieren. Die Nazis kamen dann auch und haben alles zusammengeschlagen. Die Judenfamilie blieb einen ganzen Tag und eine Nacht bei dem Blockwart und ging dann wieder in ihre Wohnung. Später wurde der jüdische Familienvater auf der Straße verhaftet.

Viele Leute nehmen sich der jüdischen Frauen und Kinder an und haben sie bei sich aufgenommen. Frauen gehen für die Jüdinnen einkaufen, weil man diesen keine Lebensmittel mehr verkaufen darf.

Es ist auch festzustellen, daß die Heftigkeit der Aktionen örtlich ganz verschieden war. Besonders in kleineren Orten kam es oft ganz auf den Ortsgruppenleiter oder den SS-Führer an. Es gab Orte, wo zunächst überhaupt nichts geschehen ist und die Juden erst Tage nachher verhaftet wurden.

Eine im Ausland zu wenig beachtete Tatsache ist, daß im Gefolge der Judenpogrome eine großangelegte Hetzjagd gegen die „Staatsfeinde“ begonnen hat. Den vertrauenswürdigen Parteigenossen der NSDAP wurde Anweisung gegeben, sich ohne Parteiabzeichen unter das Volk zu mischen und jeden sofort zur nächsten Polizeiwache zu bringen bzw. der diensthabenden SS abzuliefern, der sich auch nur in der geringsten Weise gegen die Judenaktion abfällig äußerte. Das führte dazu, daß die Verhaftungen von der Straße weg ein Ausmaß erreichten, wie man das noch nie erlebt hat. Es wurden Leute aus der Straßenbahn heraus verhaftet, nur weil sie sich angeblich mit Juden unterhielten. Ganz schlimm war es in Nürnberg. Man hat Leute aus dem Personenzug heraus verhaftet und nach Dachau eingeliefert. Die meisten Verhafteten wurden nach Feststellung ihrer Personalien wieder entlassen, aber im Volke bewirkte diese Aktion doch eine große Einschüchterung. Viele glaubten schon, daß man gar nicht mehr in der Lage sei, die Meckerer zu fassen, weil es zu viele seien; jetzt aber sah man, daß die Nazis auch vor der äußersten Brutalität nicht zurückschrecken, um die oppositionellen Stimmungen zu bekämpfen. Es zeigte sich auch gleich, daß die Schimpferei abnahm. Man getraute sich nicht mehr, so offen zu sprechen. Allen wurde klar: die Nazis haben die Macht zu allem.

Berlin: Seit die Naziherrschaft wütet, hat es, streng genommen, erst zwei einheitliche und massivere Willenskundgebungen des deutschen Volkes gegen das Schreckensregime gegeben: die erste in den kritischen Septembertagen, als die Kriegsfurcht alle Verfolgungsängste niederriß und der klare und bewußte Gegensatz zwischen Volk und Führung sichtbar wurde; die zweite in den Tagen der antijüdischen Barbarei.

Goebbels hat das deutsche Volk, zur Verteidigung und Beschönigung der staatlich kommandierten Schandtaten, als in seinem Wesen antisemitisch hingestellt. Wer in diesen furchtbaren Tagen die Berliner Bevölkerung beobachten konnte, der weiß, daß sie mit dieser braunen Kulturschande nichts gemein hat.

Der Protest der Berliner Bevölkerung gegen die Beraubungen und Brandstiftungen, gegen die Missetaten an jüdischen Männern, Frauen und Kindern jeden Alters war deutlich. Er reichte vom verächtlichen Blick und der angewiderten Gebärde bis zum offenen Wort des Ekels und drastischer Beschimpfung. In der Weinmeister Straße waren es ein Schupohauptwachtmeister und ein Reichswehrunteroffizier, die zwei ältere jüdische Frauen mit ihren sechs oder sieben Kindern vor dem Partei-Mob beschützten und sie schließlich in Sicherheit brachten. In der Großen Hamburger Straße, wo sich ein Altersheim der jüdischen Gemeinde befindet, waren es Angehörige des Pflege- und Ärztepersonals des nahegelegenen Hedwig-Krankenhauses, die verhinderten, daß die obdachlos gemachten jüdischen Alten auch noch durch HJ-Halb-wüchsige bestohlen wurden.

In den Betrieben und Büros, in den Werkstätten und hinter den Verkaufstischen, in den Wohnbezirken der Berliner Arbeiter, Angestellten und unteren Beamtenschaft hörte man die Äußerungen des Abscheus über den „tierischen Wahnsinn“. Wie einheitlich solche Bekundungen in den Betrieben sind, ersieht man daraus, daß die Nazis kein Wort der Verteidigung wagen. Viele empörte und opponierende Arier wurden auf der Straße unter dem Druck des rasenden Mobs von nicht sehr willigen Polizisten festgenommen. Doch die Proletarier Berlins haben es nicht nur bei platonischen Bekundungen belassen: selbst die besonders gefährdeten politisch Abgestempelten und Vorbestraften haben jüdischen Freunden von einst jede nur mögliche Hilfe geleistet.

2. Bericht: Die neuen Maßnahmen gegen Juden sind auf die allgemeine Ablehnung der Bevölkerung gestoßen. Gewiß gibt es Einzelfälle, besonders bei Frauen, in denen auch Zustimmung geäußert wird. Aber ihnen stehen zahllose andere Fälle gegenüber, in denen Arier sich sehr mißbilligend über die Ausschreitungen geäußert haben und in denen man den Juden trotz der damit verbundenen Gefahr Hilfe geleistet hat. So haben eine Reihe von Ariern Juden in den kritischen Tagen bei sich aufgenommen und erhielten darauf vom Hauswirt die drohende Mitteilung, daß sie sich strafbar machten und daß eine Hausgemeinschaft mit Juden nicht geduldet werden könnte, so daß sie die Kündigung zu gewärtigen hätten. Andere haben Kriminalbeamte, die sich nach dem Verbleib eines Juden erkundigten, direkt irregeführt.

Als ich im Autobus Unter den Linden an noch nicht zertrümmerten jüdischen Geschäftsräumen vorbeikam, fragte eine Frau, die offenbar fanatische Nationalsozialistin war: „Sind denn noch nicht alle Geschäfte erfaßt worden?“ - Sie erhielt auf diese Frage in dem Autobus, der größtenteils mit Leuten gefüllt war, die zur Arbeit fuhren, keine Antwort und die eisige Stimmung, die im ganzen Wagen herrschte, ließ keinen Zweifel darüber, was die Leute wirklich dachten.

Am Donnerstagnachmittag konnte man in der Potsdamer Straße, in der besonders viel jüdische Geschäfte zertrümmert waren, erbittertes Schimpfen gegen diese Ausschreitungen hören, ohne daß es zu Verhaftungen gekommen ist. Bei einer anderen Gelegenheit hörte ich einen Transportarbeiter sagen: „Mensch, mir kann doch keener erzählen, det det det Volk jemacht haben soll. Ick habe doch die janze Nacht jeschlafen und meine Kollegen haben ooch jeschlafen und wir jehören doch ooch zu’t Volk.“

Am Kurfürstendamm haben sich die Straßenmädchen Pelze genommen, die aus den gestürmten Geschäften auf die Straße geworfen worden waren. Jemand, der das sah, hielt ihnen die besondere Gemeinheit ihrer Handlungsweise vor und fügte hinzu: „Die waren doch früher Eure besten Kunden!“ Die Mädchen schlugen darauf Krach, es erschien Polizei und der Mann wurde mitgenommen. - In einem Betrieb wurde eine Frau auf Betreiben des Betriebswalters verhaftet, weil sie abfällige Bemerkungen über die Ausschreitungen gegen die Juden gemacht hatte. Nach drei Tagen wußte man noch nicht, wo die Frau geblieben war.

Allgemein muß man nach wie vor feststellen, daß das deutsche Volk nicht vom Antisemitismus wirklich erfaßt ist. Wenn die antisemitische Propaganda so gewirkt hätte, wie sie wirken sollte, dann wäre ja diese Aktion überhaupt nicht nötig gewesen. Wenn man es in 5V2 Jahren nicht fertigbringen konnte, das Volk davon abzuhalten, in jüdischen Geschäften zu kaufen, wenn vielmehr immer wieder festzustellen war, daß Nichtjuden ostentativ in jüdischen Geschäften kauften, so kennzeichnet das am besten die Wirkungslosigkeit dieser Propaganda. Natürlich ist insofern eine Beeinflussung eingetreten, als die immer wiederholte Behauptung, daß die Juden im Ausland hetzen und dafür die Juden im Inland leiden müssen, zum Teil geglaubt wird.

Bemerkenswert ist übrigens, daß, wie nach jeder früheren Welle von Ausschreitungen so auch diesmal wieder, das Gerede auftaucht, Hitler habe das nicht gewollt. „Hitler will zwar, daß die Juden aus Deutschland verschwinden, aber er will doch nicht, daß sie totgeschlagen und so behandelt werden“ usw. usw. Man muß feststellen, daß diese Redensarten nach wie vor Eindruck machen.

Schlesien, 1. Bericht: Die Ablehnung der Ausschreitungen gegen die Juden im oberschlesischen Industriebezirk nimmt in allen Kreisen immer schärfere Formen an. In den Betrieben werden die Dinge lebhaft diskutiert, wobei übereinstimmend die Überzeugung laut wird, daß die Ausschreitungen auf direkten Befehl von Berlin aus erfolgt sind. Niemand zweifelt mehr daran, daß die Maßnahmen längst vor dem Attentat des Grynszpan gegen vom Rath vorbereitet waren, und daß dies nur ein Anlaß war, die geplanten Ausschreitungen früher zu beginnen. Es fiel auf, daß die Polizei bereits in den Morgenstunden des 10. November Verhaftungsbefehle hatte, daß die Adressen der zu Verhaftenden genau bekannt waren und daß sofort nach der Verhaftung in den Wohnungen und Geschäften die Plünderungen vorgenommen wurden, wobei die ganz genaue Aufteilung der SS- und SA-Trupps vorher bestimmt sein mußte.

Es gibt nur wenige Menschen, die die Ausschreitungen zu entschuldigen versuchen. Im allgemeinen wird die Aktion gegen die Juden entschieden verurteilt. Christliche Familien, die mit Juden in einem Haus wohnen, haben sich oft für die Juden eingesetzt, besonders in Beuthen und Gleiwitz.

SA-Leute in den Betrieben, die der Aktion fernstanden, erklärten ihren Arbeitskollegen, daß so mancher der Nazis in den letzten Tagen „reich geworden“ ist, aber man distanziere sich von diesen Elementen.

Oft hört man: „Heut sind es die Juden, wer wird es morgen sein?“

2. Bericht: Es wird immer klarer, daß die Bevölkerung diese Exzesse A 49 ablehnt. Man sagt es untereinander auch ziemlich offen heraus, daß das System trotz aller angeblichen Erfolge Ablenkungsmanöver braucht.

Ein sehr nachhaltiges Echo haben die antijüdischen Exzesse bei den Katholiken gefunden. Man ist sich klar darüber, daß die Nazis eines Tages, wenn die Zeit reif sein wird, irgend einen Vorfall benutzen werden, um die gleichen Aktionen wie jetzt gegen die Juden auch gegen die Katholiken durchzuführen.

3. Bericht: Das Publikum in Hindenburg sparte nicht mit ablehnenden Bemerkungen. Besonders viele Frauen sprachen gegen Hitler und die Nazis die verschiedensten Verwünschungen aus. Wie uns zuverlässig berichtet wird, sind bei der Hindenburger Polizei im Verlauf des 9. und 10. November 114 Vorführungen von Personen erfolgt, denen zur Last gelegt wurde, daß sie sich abfällig über das Vorgehen der SS geäußert hätten. In den meisten Fällen wurden nur die Namen festgestellt und es erfolgte sofortige Entlassung, nur selten wurde ein Protokoll aufgenommen, und zwar nur dann, wenn ein SA- oder SS-Mann die Vorführung vollzog. - Auf den Arbeitsstellen wurden die Vorgänge selbst von Nazis abgelehnt.

4. Bericht: Im Verlauf der antijüdischen Aktionen sind zahlreiche Verhaftungen von Zivilpersonen erfolgt, die sich über die Vorkommnisse abfällig geäußert haben. Auch aus den Betrieben in Gleiwitz sind Verhaftungen erfolgt, die in die Hunderte gehen. Meist sind die Verhafteten nach Verwahrung bei der Polizei wieder entlassen worden, nur in einigen Fällen dauert die Haft noch an.

In Gleiwitz kam es besonders unter der Landbevölkerung aus der Umgebung zu erregten Äußerungen, als sie am Sonnabend in die Stadt kam und die Zerstörungen in den jüdischen Geschäften wahrnahm.

Während das Verhalten des Publikums in Beuthen gegenüber den Ereignissen am Donnerstag und Freitag zurückhaltend war, setzte am Sonnabend und Sonntag eine ziemlich heftige Kritik gegen die Nazis ein, die bis auf den heutigen Tag andauert. Die Nazis werden beschuldigt, daß sie zu den äußersten Mitteln greifen, „um von den Erfolgen des Führers abzulenken“. Die Not, so kann man in den Betrieben hören, wird nicht durch Gebietsräubereien gelindert und was heute gegen die Juden unternommen wird, kann die Lage nur verschlimmern. Sowohl auf der Straße, als auch in den Betrieben, sind Verhaftungen wegen derartiger Kritik vorgenommen worden, deren Zahl, wie uns aus Polizeikreisen berichtet wird, in die Hunderte geht.

Der christliche Bankdirektor Gröger, Beuthen, früher bei der Dresdner Bank in Kattowitz, der sich in einem Lokal gegen die Exzesse aussprach, wurde durch einen Kellner denunziert und unmittelbar darauf verhaftet. Wie berichtet wird, hat er die Verurteilung dieser Vorgänge auch auf der Polizei aufrechterhalten, so daß er in ein Konzentrationslager gebracht wurde. In einem der oberschlesischen Gefängnisse und bei der Gestapo ist er jedenfalls nicht zu ermitteln.

Als sich die Mitbesitzerin eines der größten „arischen“ Konfektionshäuser in Oppeln mit einer Jüdin auf der Straße sehen ließ, erschien SA und fragte sie, ob sie sich denn nicht schäme, mit Juden zu verkehren. Als die Frau erwiderte, Juden seien doch auch Menschen, erklärte einer der SA-Leute: „Sie wissen wohl nicht, was Ihnen dafür bevorsteht?“ - Bisher ist der Frau noch nichts geschehen.

Danzig, 1. Bericht: Ich glaube, man hat sehr selten so einhellig das Mißfallen, ja die Empörung weitester Kreise der Danziger Bevölkerung über die Gewalttaten der Nazis feststellen können, wie diesmal. Eine Nachbarin von uns kam am 12. November nachmittags aus der Stadt nach Hause. Politisch war das Ehepaar niemals festgelegt. Heute sind sie natürlich gleichgeschaltet. Die Frau ging gar nicht erst nach Hause, sondern zuerst in die Wohnung zweier Nachbarn, wo sie ihre Erlebnisse erzählte. Das, was sie heute gesehen habe, ginge denn doch zu weit. Was solle aus den Jungens werden, die eine solche Erziehung durch-

uiachten, wie die in der Hitler-Jugend. Das seien doch alles Verbrecher und Räuber. In solcher Gesellschaft bewegten sich also ihre beiden Söhne. Ein Wunder, daß man nicht auch den BdM aufgeboten hätte, um die jüdischen Geschäfte zu plündern usw. Sie werde zu Förster gehen und ihm sagen, daß er die Jugend zu Verbrechern erziehe. Die Nachbarinnen gaben der Frau durchaus recht, nur rieten sie ihr ab, zu Förster zu gehen. Da würde sie wohl kaum lebendig wieder herauskommen.

Diese Begebenheit ist ganz bestimmt kein Einzelfall. Wo man auch mit Leuten zusammenkam, hörte man Äußerungen lebhafter Empörung oder wenigstens Andeutungen einer Kritik. Ein „alter Kämpfer“ sagte bei uns im Betrieb, er kenne sich nicht denken, daß all das im Sinne der Partei hege. Der Mann ist seit 1930 Nazi. Er fühlte sich verpflichtet, so zu sprechen, weil er merkte, daß er eine geschlossene Front gegen sich hatte.

2. Bericht: Die Leute, die sich den Überfall auf die Synagoge in Danzig-Langfuhr angesehen haben, verhielten sich im allgemeinen ruhig. Immerhin hörte ich deutlich eine Reihe von kritischen und wuterfüllten Bemerkungen: „Daß man solchen Skandal noch erleben muß!“ - „Solche Gemeinheit!“ - „Diese Räuberbande“ und ähnliches. Anfangs wurde sogar der Schupo zugerufen, ob man denn nichts sehe, ob man keine Augen habe usw. Niemand aber wagte freilich, irgend etwas zu unternehmen. Dazu sind die Leute viel zu sehr eingeschüchtert. Als die „Aufräumungsarbeiten“ ziemlich beendet waren, hörte ich, wie ein vor mir stehender etwa 11-jähriger Junge zu seinem gleichaltrigen Kameraden kopfschüttelnd sagte: „Du, daß die das aber alles machen dürfen . . .“

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