Die Sopade berichtet
In der Juli-Ausgabe 1938 heißt es in den „Deutschland-Berichten“ der Sopade:
Der Terror gegen die Juden
a) Das Schreckensregiment in Österreich
Das Schicksal der deutschen Juden ist seit der Angliederung Österreichs in ein neues Stadium getreten. Die Nationalsozialisten haben aus den österreichischen Erfahrungen den Schluß gezogen, daß ein rasches Vorantreiben der Judenverfolgungen dem System nicht schaden könne, daß die Entfesselung aller antisemitischen Instinkte in den Reihen der Anhängerschaft, die Duldung des offenen Pogroms weder wirtschaftliche Schwierigkeiten noch einen erheblichen Prestigeverlust in der Welt nach sich ziehe. Von dieser Vorstellung geleitet, deren Richtigkeit hier nicht untersucht werden soll, bringt das Regime die Wiener Methoden rücksichtslos auch im alten Reich zur Anwendung.
In Österreich sahen sich die Machthaber vor die Aufgabe gestellt, die „Gleichschaltung“ eines ganzen Landes in wenigen Monaten zu vollziehen und auch in der Rassenfrage all das von heute auf morgen nachzuholen, was im alten Reich durch eine jahrelange Entwicklung erreicht worden ist. In der Erkenntnis, daß ein auch nur scheingesetzliches, an Verfügungen und Verordnungen gebundenes Vorgehen dem gewünschten Tempo hinderlich wäre, wählten sie den Weg der sogenannten spontanen Massenaktion, das heißt der unverhüllten Gewalttat. Die Gesetze und Verordnungen hinkten den vollzogenen Tatsachen nach. Sie sanktionierten nur das schon Geschehene. Seitens der Behörden geschah bis jetzt - in großen Zügen betrachtet - der Reihe nach das Folgende:
Die Redaktionen wurden bereits am 14. März veranlaßt, alle jüdischen Mitarbeiter zu entlassen. - Die jüdischen Zeitungen mußten ihr Erscheinen einstellen. Es wurde ein Ausreiseverbot für Juden erlassen, das erst im Mai wieder aufgehoben wurde. - Die Turn- und Sportvereine erhielten den Befehl, alle jüdischen Mitglieder auszuschließen. - Jüdische Turnverbände durften der deutsch-österreichischen Turn- und Sportfront nicht mehr angehören. - Der jüdische Sportklub-„Hakoah“, Wien, wurde aufgelöst. - Die Theater mußten alle jüdischen Leiter und Bühnenmitglieder entlassen. - Die in öffentlichen Diensten tätigen jüdischen Ärzte wurden sofort beurlaubt, ebenso die jüdischen Richter, Staatsanwälte und Lehrer.
Im Rechtsanwalt- und Notarstand wurde zunächst nur eine Aufnahmesperre für Juden und Halbjuden verhängt. Anfang April, nachdem die jüdischen Anwälte längst mit Brachialgewalt aus allen Strafgerichtshöfen hinausgedrängt waren, erließ das Reichsjustizministerium eine Verordnung, nach der jüdischen Rechtsanwälten und Verteidigern die Ausübung ihres Berufes „vorläufig untersagt werden kann“. - Ende Juni teilte die Advokatenkammer im Aufträge des Justizministeriums etwa 800 Wiener Advokaten mit, daß sie sofort die Ausübung ihres Berufes einzustellen und innerhalb von zwei Wochen ihre Kanzleien zu liquidieren hätten. -
Die jüdischen Beamten wurden nicht wie ihre arischen Kollegen auf Hitler vereidigt und schieden damit bereits im März automatisch aus dem Dienst aus. - Am 7. Juni teilte das offizielle Deutsche Nachrichtenbüro mit, das „Gesetz zur Erneuerung des Berufsbeamtentums“ finde nunmehr auch auf Österreich Anwendung. (Dieses Gesetz bestimmt u. a., daß Nichtarier nicht Beamte sein können.) - Am 3. April wurde die „Entjudung der Universitäten“ angeordnet. Die jüdischen Professoren und Dozenten - etwa 35 bis 40 - wurden ausnahmslos entlassen. Jüdische Studenten, die sich zum ersten Mal für das Semester hatten einschreiben lassen, strich man summarisch aus den Inskriptionslisten und erklärte die Registrierung aller anderen jüdischen Studenten für jederzeit widerrufbar. Im Juni wurde für jüdische Studenten ein Numerus clausus von 2 Prozent festgesetzt. Aber in der Zwischenzeit hat man sich schon wieder „freie Hand“ Vorbehalten.
Für die auf den 10. April festgesetzte Volksabstimmung wurden die Juden vom Stimmrecht ausgeschlossen. -
Am 2. April verfügte der Wiener Magistrat, daß die jüdischen Firmen- und Ladenbesitzer sämtliche Stände in den Markthallen und auf den öffentlichen Märkten zu räumen hätten. Diese Verfügung hinkte den längst vollzogenen Tatsachen nach. Ebenso der Erlaß Seyß-Inquarts vom 30. April, daß die bestellten kommissarischen Verwalter und Überwachungspersonen in jüdischen Firmen befugt seien, alle Rechtshandlungen vorzunehmen. In diesem Erlaß hieß es ferner, kommissarische Verwalter und Überwachungspersonen, die „bis jetzt ihre Tätigkeit mit Sorgfalt ausgeübt hätten“, könnten weder haft- noch schadenersatzpflichtig gemacht werden. Zwölf dieser Kommissare wurden im Juni nach Dachau geschafft, weil sie sich „bereichert hatten“. Seither findet ständig ein lebhafter Personenwechsel statt. Die Kommissare haben die Aufgabe, die jüdischen Firmeninhaber, von denen sie noch dazu hoch bezahlt werden müssen, zu einem raschen Verkauf ihres Geschäfts zu zwingen. Seit einiger Zeit werden sie darin von der „Arisierungszentrale“ unterstützt, der „Vermögensverkehrsstelle“, ohne deren Zustimmung kein jüdisches Kapital übertragen werden darf. Diese Stelle beschäftigt 200 Beamte.
Am 30. März bestimmte der kommissarische Präsident der oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer in Linz, daß die dort eingetragenen arischen Anwälte keine Juden mehr vertreten dürften. Mitte Juni folgte die Wiener Anwaltskammer diesem Beispiel.
Ende April wurde verfügt, daß die jüdischen Kinder sofort von den arischen getrennt und in eigenen Schulen untergebracht werden sollten. Zu gleicher Zeit wurden 70 jüdische Waisenkinder im Alter von 6 Monaten bis 14 Jahren auf Grund einer behördlichen Verfügung aus dem jüdischen Kinderheim im Tierschanzpark entfernt, um arischen Kindern Platz zu machen.
Im Reichsgesetzblatt vom 24. Mai wurde eine Verordnung über die Einführung der Nürnberger Gesetze im Lande Österreich veröffentlicht. Diese Verordnung sieht u. a. eine erleichterte Annullierung von Mischehen für Österreich vor. Die Anwendung der Nürnberger Gesetze auf die Beschäftigung von Dienstpersonal unter 45 Jahren wurde bis zum 1. August verschoben. Dagegen verhaftete man mehrere hundert Juden wegen Rassenschande, und zwar mit der Begründung, die Nürnberger Gesetze würden rückwirkend vom Datum ihrer Inkraftsetzung in Deutschland angewandt.
Weiter wurde verfügt, daß alle jüdischen Trafikanten bis Samstag, den 14. Mai, 7 Uhr abends, ihre Läden geräumt haben mußten. Diese Maßnahme traf 300 Menschen in Wien, darunter Kriegsinvaliden und Witwen oder Waisen jüdischer Kriegsgefallener. Nur Kriegsopfer haben Lizenzen erhalten.
Am 3. Juni erging eine Anordnung des Gauleiters Bürckel, die durch den Auszug von Juden freiwerdenden Wohnungen seien mit „verdienten Parteigenossen“ zu besetzen. Einen Monat später wurden die Juden gezwungen, die Mieterschutzwohnungen - das sind unter Mietschutz stehende und daher billige Wohnungen - zu räumen. Da gleichzeitig den Hauswirten untersagt wurde, an Juden zu vermieten, blieben die Hinausgesetzten obdachlos.
Kurz vor Pfingsten erging eine Verfügung, daß alle im Staats- und Zivildienst stehenden jüdischen Angestellten „rückwirkend auf den 13. März“ zu entlassen seien. Tatsächlich war das um diese Zeit bereits geschehen. Neu war hingegen eine Ende Juni erlassene Bestimmung, nach der auch jüdische Firmen ihre jüdischen Angestellten zu entlassen hatten, selbst wenn es sich um Frontkämpfer handelte.
Im Juli - man hatte sich inzwischen weitgehend der jüdischen Inlandsvermögen bemächtigt - wurde die Anmeldung und Ablieferung aller in jüdischem Eigentum befindlicher ausländischer Werte verfügt. Die Parteistellen selbst schickten gelegentlich Telegramme an ausländische Banken, und es zeigte sich, daß sie über einen Teil der jüdischen Konten trotz des Bankgeheimnisses recht gut Bescheid wußten.
Neben diesen Verordnungen liefen polizeiliche Maßnahmen einher. Bereits am 13. März erschienen in den zionistischen Büros in der Marc-Aurel-Straße Polizei und SA-Hilfspolizei. Die Vorgefundenen Gelder wurden beschlagnahmt, die Büros verriegelt. Nach und nach fanden derartige Haussuchungen in den Lokalen aller jüdischen Vereine und auch im Haus der Israelitischen Kultusgemeinde statt. Sie waren überall mit der Beschlagnahme der vorhandenen Barsumme und Werte verbunden. Später wurden die Räume sämtlicher jüdischer Organisationen - bis auf fünf Ausspeisungen - für einige Monate geschlossen. Ein der Kultusgemeinde gehörendes großes Haus auf dem Schottenring wurde beschlagnahmt. Dort hatten wichtige jüdische Organisationen ihre Büros.
Die in den öffentlichen Garagen untergebrachten Autos der Juden wurden beschlagnahmt. Die Garagenmiete mußte weitergezahlt werden.
Zahlreich waren die polizeilichen Aktionen gegen Privatpersonen. Allein in den ersten drei Tagen nach der Angliederung wurden etwa 500 Verhaftungen vorgenommen. Auch hier waren mit der ersten Haussuchung regelmäßig Beschlagnahmungen verbunden. Im Laufe der Zeit erfolgten Freilassungen, aber auch Überführungen nach Dachau. Verhaftet wurden Juden aller Stände, neben Kaufleuten vor allem Angehörige der freien Berufe: Anwälte, Ärzte, Gelehrte, Künstler. U. a. wurden folgende Persönlichkeiten, teils vorübergehend, teils für lange Zeit, in Haft genommen: Der Bankier Siefried Basel, der 82-jährige Gelehrte Professor Salomon Frankfurter, der 75-jährige Gelehrte Dr. Armand Kaminka, der Medizinprofessor an der Wiener Universität, Carl Lothberger, der Physiologe und Nobelpreisträger Otto Löwy, der Ohren- und Nasenspezialist Professor Heinrich Neumann, Baron Louis Rothschild, gegen den inzwischen Anklage wegen „Verstoß gegen die Staatsinteressen“ erhoben wurde; der Schriftsteller Felix Salten, die Warenhausbesitzer Brüder Schiffmann, der Chirurg Prof. Dr. Julius Schnitzler, der Schauspieler am Josefstädter Theater, Ludwig Stössl, der Physiker, Ingenieur Siegmund Strauß und zehn führende Mitglieder der B’nai B’rith Loge. Nach Dachau geschafft wurden u. a.: Dr. Desider Friedmann, der 60 Jahre alte Präsident der Wiener israelitischen Kultusgemeinde, der Bühnenschriftsteller, Charakterdarsteller und Komiker Fritz Grünbaum, A. Geller, früherer Direktor des Steinmann-Verlages, Oberbaurat Robert Stricker.
Fast alle Verhaftungen wurden nachts vorgenommen, teils von beamteten Polizisten, teils von SA-Leuten.
Über die Zahl der Verhafteten ist schwer etwas auszusagen. Es laufen die widersprechendsten Nachrichten um. Die „Times“ schätzte, „daß in den vierzehn Tagen vor Pfingsten allein in Wien 4000 Verhaftungen stattgefunden haben“. Ein Teil der Häftlinge wurde als Zwangsarbeiter in Überschwemmungsgebieten verwendet, darunter viele Intellektuelle. Im Mai wurden Hunderte von Juden in Sonderzüge verladen und von Wien aus nach Dachau geschafft. - Die Angehörigen pflegen in solchen Fällen während der ersten 14 Tage ohne jede Benachrichtigung zu bleiben. Dann kommt manchmal eine Karte aus dem Konzentrationslager, gewöhnlich mit der Aufforderung, Geld zu schicken. Es sind aber auch Fälle vorgekommen, in denen die Familien statt des ersten Lebenszeichens die Todesnachricht erhielten. Z. B. starben in Dachau: der Schriftsteller Raoul Auemheimer, der 72-jährige zionistische Führer Dr. Jakob Ehrlich, Leopold Groß (43-jährig), der Vizedirektor der österreichischen Staatssparkasse, Dr. Robert Flecht, Georg Kiepert, der in Leopoldstadt wohnhaft gewesene 30-jährige Häftling Lilienfeld und Fritz Pollatschek (26 Jahre alt). - Auf dem Wege nach Dachau starb der Zahnarzt Dr. Paul Schott, ein 46 Jahre alter, bei seiner Verhaftung völlig gesunder Mann, der im Krieg als Offizier dreimal für Tapferkeit ausgezeichnet worden war. - Eine Frau Lazarus, deren drei Söhne man nach Dachau schaffte, erhielt eine kurze Benachrichtigung, der 22-jährige Sohn sei gestorben und im Lager beerdigt worden.
Aber die Verhaftungen richten sich nicht immer nur gegen Einzelpersonen. Man ist bereits dazu übergegangen, sämtliche Juden eines Ortes oder Landstriches auf einmal „auszuheben“. So wurden im März alle jüdischen Einwohner der Städte Frauenkirchen und Deutschkreuz verhaftet und in ein Konzentrationslager unweit Bruck gebracht. Es handelte sich um etwa 200 Personen, deren Vermögen man zuvor beschlagnahmt hatte.
Aus Steiermark, Niederösterreich und Burgenland sollen alle Juden „ausgetrieben“ werden. In der Steiermark haben ca. 2000 Juden die Aufforderung erhalten, bis zum September aus der Provinz auszuwandern. 500 Linzer Juden sollen bis Oktober das Land verlassen. Den nach zahlreichen Verhaftungen noch übrig gebliebenen 500 burgenländischen Juden droht man eine Dauerunterbringung im Konzentrationslager an, falls sie nicht schnellstens emigrieren.
Da es für die Mehrzahl der Juden, die selbst den dringenden Wunsch haben, auszuwandern, unmöglich ist, ein Aufnahmeland zu finden, schieben Gestapo und SA in den Nächten Trupps von 30-50 Juden - ohne Geld, ohne Papiere, fast ohne Gepäck - über die Grenzen der benachbarten Länder: nach der Tschechoslowakei, nach Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien. Sie drohen den Abgeschobenen für den Fall der Rückkehr mit dem Konzentrationslager. Aber die benachbarten Länder bedienen sich des gleichen Mittels und schmuggeln die Menschenfracht nach Österreich zurück, so daß die Opfer oft drei- viermal hin- und hergeschoben werden, ehe sie im Konzentrationslager oder auf fremdem Boden in der Illegalität, d. h. in tiefster Not, landen.
Der Teil der österreichischen Judenschaft, der bis heute weder verhaftet noch vertrieben ist, lernt die Schrecken der deutschen Judenverfolgung auf andere Weise kennen. Seit dem „Anschluß“ herrscht offener Straßenterror. Rufe: „Juda verrecke!“ und „Juden heraus!“ hallten vom ersten Tage an durch die Straßen. Bald begannen die Demolierungen und „Requirierungen“, d. h. Plünderungen jüdischer Geschäfte, die Erpressungen bei jüdischen Geschäfts- und Privatleuten.
In den Läden erschienen vierzehn- bis sechszehnjährige Burschen, von etwa 20- bis 25-jährigen SA-Männern angeführt und „requirierten“ Lebensmittel, Schuhe, Anzüge, Stoffe usw. Häufig wurde die Beute mit Lastkraftwagen abtransportiert. Auf diese Weise wurden z. B. fast sämtliche jüdischen Geschäfte der Innenstadt (Kärtnerstraße, Roten-turmstraße, Mariahilferstr., Am Graben usw.) heimgesucht. „Requiriert“ wurden u. a. bis auf geringfügige Reste die großen Lager der Firmen Krupnik, Kleiderhaus Gerstel, Teppichhaus Schein, Juwelengeschäft Scheer, Herrenkleidergeschäft Katz. Die Ausräumung des Warenhauses Schiffmann in der Taborstraße dauerte drei Tage. Arbeiter mit Hakenkreuzbinden leerten die Lager, Männer im Braunhemd hielten die neugierige Menge fern. Vor den jüdischen Läden, die trotz dieser Vorfälle ofienzuhalten versuchten, brachte man Plakate an, schmierte Inschriften auf das Pflaster, überpinselte die Schaufensterscheiben mit gröbsten Beschimpfungen. Die Polizei versagte jeden Schutz.
Gleichzeitig wurden, wie bei Beginn des Dritten Reichs, jüdische Putzscharen durch die Straßen getrieben, Männer und Frauen, die man zwang, die Inschriften aus der Schuschnigg-Zeit von den Mauern zu scheuern. An den Häusern wurden die Schilder von jüdischen Advokaten, Ärzten usw. zerschlagen. In Synagogen und Bethäusern wurden die Inneneinrichtungen zerstört, die Thorarollen zerrissen und verbrannt, der Thoraschmuck weggetragen. In vielen Wohnungen mit jüdischen Inhabern fanden „Kontrollbesuche“ jugendlicher SÄ-Leute statt, bei welcher Gelegenheit Bargeld, Schmuck, Effekten, Sparbücher und Autos verschwanden.
ie nationalsozialistischen Machthaber sahen diesem Treiben zu, unterließen es allerdings wie gewöhnlich nicht, sich den Anschein zu geben, als geschehe all das gegen ihre Willen. Am 14. März warnte die Parteileitung vor wilden Aktionen. Am 17. März behauptete der Chef der Sicherheitspolizei in einer zweiten Warnung, die Exzesse würden von „kommunistischen Parteigängern unter Mißbrauch der parteiamtlichen Uniformen“ verübt, am 20. März mißbilligte auch Gauleiter Bürckel in einem Erlaß die Vorfälle, ohne daß eine Änderung eintrat. Erst am 27. April, etwa sieben Wochen nach der ersten Warnung, setzte Bürckel SS-Abteilungen ein, um wenigstens das Straßenbild kurz vor der beginnenden Reise-Saison wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Die Wirkung war allerdings nicht sehr stark. Es kam immer aufs neue zu Exzessen, vor allem im Zusammenhang mit der Ausstellung „Der ewige Jude“, die im August nach Österreich gebracht wurde. Wir gaben eine Schilderung dieser Ausstellung im Februarheft der „Deutschland-Berichte“.
Unter diesen Umständen zogen es natürlich viele jüdische Kaufleute vor, ihre Geschäfte so rasch wie möglich und unter großen Verlusten zu verschleudern. Die „Arisierung“ machte rasche Fortschritte. Von den in den ersten Wochen arisierten Unternehmen seien genannt: Wiens größtes Warenhaus „Gerngroß“, Kaufhaus Herzmansky, die Strumpfwarenfirma Bernhard Schön, die 80 Läden in Wien unterhält, die Anker-Brotfabrik, die Glühbirnenfabriken Johann Kremenetzky und Albert Pregan. Seither sind Hunderte von jüdischen Geschäften „in arische Hände übergegangen“. In der Margarethenstraße wurden - nach vorhergegangenen „Requirierungen“ - vierzehn jüdische Läden geschlossen. - Das Cafe Ankerhof im I. Bezirk wurde von der „Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft“ übernommen. Die Rothschild-Bank ging in die Hände der „österreichischen Kreditanstalt für öffentliche Arbeiten“ über.
Die Selbstmorde und Selbstmordversuche in den Reihen der Wiener Juden nahmen täglich zu. In der Woche nach der Machtergreifung zählte man in der ersten Wochenhälfte täglich etwa zehn Selbstmorde und Selbstmordversuche, in der zweiten Wochenhäfte täglich zwanzig, am Samstag stieg die Ziffer auf fünfzig. Am 21. März fanden auf dem Zentralfriedhof, jüdische Abteilung, 54 Beerdigungen statt, am 22. März 112. In normalen Zeiten sind 6 bis 8 Beerdigungen der Durchschnitt. U. a. schieden folgende jüdische Persönlichkeiten durch Selbstmord aus dem Leben:
Der ehemalige Redakteur des „Neuen Wiener Tagblatts“, Peter Curanda und seine Mutter; der Röntgenologe Dr. Wolfang Denk; Leiter der Wiener chirurgischen Universitätsklinik, Rechtsanwalt Dr. Jaroslav Fantl und seine Frau, der Kulturhistoriker und Dramatiker Egon Friedeil, Großkonfektionär Gerstl, Generaldirektor der Delta-Schuhgeschäfte Klausner, der Tiroler Großindustrielle Friedrich Reit-linger mit seiner Tochter, der Mathematiker und Versicherungsstatistiker Albert Smolenskin mit seiner Frau, der Flauptredakteur der „Neuen Freien Presse“, Dr. Kurt Sonnenfeld mit seiner Frau und seinem Kinde; Rechtsanwalt Dr. Moritz Stemberg, seine Frau und sein Sohn; die Schriftstellerin und Übersetzerin Marianne Trebitsch-Stein.
Die Not wuchs von Tag zu Tag. Aus der Provinz kam Zustrom von vertriebenen Juden. Endlose Reihen standen vor den jüdischen sozialen Anstalten, die aber bald bis auf fünf Ausspeisungen von den Behörden geschlossen und aller Mittel beraubt wurden. Die Freigabe der Büros wurde an die Bedingung geknüpft, daß die jüdische Gemeinde 550 000 RM, das sind 800 000 Schillinge an die Behörden ablieferte. Ein Teil davon ist bereits entrichtet. Einige der Büros wurden im Mai wieder geöffnet.
Gleichzeitig wurde den Juden die Auswanderung dadurch unmöglich gemacht, daß man ihnen die Pässe abnahm. Inzwischen sind 30 000 Auswandererpässe bewilligt worden. Aber es ist schwer, die Einreiseerlaubnis in andere Länder zu erhalten. Bei der Kultusgemeinde sind bis jetzt 80 000 Menschen für die Auswanderung registriert, beim Palästinaamt ca. 10 000.
b) Die Judenverfolgung im alten Reich
Die Frage nach den Beweggründen der neuen, mit maßloser Brutalität durchgeführten Judenverfolgung, ist schwer zu beantworten. Richtig ist, daß die Diktatur, um ihre Propagandamaschinerie in Schwung zu halten und die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu erklären, einen Feind braucht. Nichts ist bequemer und gefahrloser, als „Alljuda“ als diesen Feind hinzustellen. Aber diese Erklärung reicht nicht aus, zumal es nicht den Anschein hat, als bemühe man sich darum, wenigstens einige „Feinde“ dieser Art im Lande festzuhalten, um sie in Zukunft für alle Schwierigkeiten verantwortlich machen zu können. Vielmehr scheint es das Regime auf die völlige Vertreibung der Juden abgesehen zu haben.
Die Einnahme, die dem Reich aus der Beschlagnahme jüdischer Vermögen erwächst, wird zwar im Augenblick dringend gebraucht, aber ihre Bedeutung darf nicht überschätzt werden. Das jüdische Kapital ist bereits weitgehend zerstört und durch die Arisierung werden Unternehmungen, die vor dem Gewinn abwarfen, häufig in Verlustbetriebe verwandelt.
Schließlich ist die Judenvertreibung auch ein Teil der deutschen Kriegsvorbereitungen. Das Regime kann sich im Kriegsfall auf die Juden nicht verlassen. Alle 400 000 Juden aber einzusperren oder abzuschlachten, ist schwer möglich. Deshalb ist es das beste, wenn die Juden, so schnell es geht, aus dem Lande getrieben werden. Aber auch dieser Gesichtspunkt kann nicht allein ausschlaggebend sein. Denn das Regime könnte die Auswanderung der Juden außerordentlich beschleunigen, wenn es die steuerlichen und devisenrechtlichen Auswanderungsbestimmungen auch nur ein wenig erleichtern würde.
Man wird sich damit abfinden müssen, daß die Suche nach rein rationalen Beweggründen an eine Grenze stößt. Einige der Gesetze und Verfügungen, die wir im folgenden aufzählen, können nur von einem wütenden Rassenhaß diktiert sein, der sich jeder vernunftmäßigen Deutung entzieht. Die Sucht, ohne Unterlaß auf Besiegte und Wehrlose einzuschlagen, eine Sucht, die der Nationalsozialismus übrigens nicht nur den Juden gegenüber an den Tag legt, ist für den objektiven Beobachter unfaßbar. Es bleibt nichts anderes übrig, als ihr Vorhandensein festzustellen, und ihre jeweiligen Wirkungen zu registrieren.
Wir zählen zunächst die wichtigsten Gesetze und Verordnungen auf, mit deren Hilfe in den letzten Monaten die Aushungerung und Demütigung der deutschen Juden verschärft wurde.
Die Änderung des Einkommensteuergesetzes vom 12. Februar (veröffentlicht im RGB, Teil I, vom 18. 2. 1938) bestimmt, daß für jüdische Kinder keine Kinderermäßigung mehr gewährt wird, d. h., daß künftig alle jüdischen Familien Steuern in solcher Höhe zu entrichten haben, als ob sie keine Kinder hätten (Neufassung des § 32). Auch die neueinge-führten sozialen Erleichterungen für ältere Männer und Frauen fallen für jüdische Steuerzahler weg. Eine „Ausdehnung des Rassegedankens auf die Vermögenssteuer“ ist in Aussicht gestellt.
Mit dem Inkrafttreten des am 30. März 1938 veröffentlichten „Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen“ haben diese Institutionen und ihre Verbände die Stellung von Körperschaften des öffentlichen Rechts verloren.
Sie gelten als Vereine. § 3 des Gesetzes lautet:
(1) Der Genehmigung durch die höhere Verwaltungsbehörde bedürfen: Beschlüsse der Organe der jüdischen Kultusvereinigungen und ihrer Verbände a) bei Bildung, Veränderung und Auflösung der Vereinigungen und ihrer Verbände, b) bei Veräußerungen oder wesentlichen Veränderungen von Gegenständen, die einen geschichtlichen, wissenschaftlichen oder Kunstwert haben, insbesondere von Archiven oder Teilen von solchen.
(2) Die höhere Verwaltungsbehörde kann gegen die Berufung der Mitglieder der Organe der jüdischen Kultusvereinigungen und ihrer Verbände Einspruch erheben.
Diese Änderung der Rechtsform bedeutet zugleich eine Benachteiligung in steuerlicher Hinsicht, da Körperschaften des öffentlichen Rechts von einer Reihe wichtiger Steuern nicht betroffen werden, die Vereine des bürgerlichen Rechts zu tragen haben. Vor allem handelt es sich um die Grundsteuer und die Gebäudeentschuldungssteuer.
Unter dem Datum des 22. April hat Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan eine „ Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe“ erlassen, in der es heißt:
„Ein deutscher Staatsangehöriger, der aus eigennützigen Beweggründen dabei mitwirkt, den jüdischen Charakter eines Gewerbebetriebes zur Irreführung der Bevölkerung oder der Behörden bewußt zu verschleiern, wird mit Zuchthaus, in weniger schweren Fällen mit Gefängnis, jedoch nicht unter einem Jahr, und mit Geldstrafe bestraft. Ebenso wird bestraft, wer für einen Juden ein Rechtsgeschäft schließt und dabei unter Irreführung des anderen Teils die Tatsache, daß er für einen Juden tätig ist, verschweigt.“
Am 26. April 1938 trat die „ Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ in Kraft (Reichsgesetzblatt I. S. 414), nach der alle jüdischen Vermögen über 5000 RMK bis zum 30. Juni anzumelden waren, gleichgültig, ob sich das Vermögen im In- oder Ausland befindet. Verletzung oder Umgehung der Anordnung wird mit Gefängnis bis zu 10 Jahren oder mit Geldstrafe bis zur Konfiskation des Vermögens bestraft.
Die am gleichen Tage von Göring erlassene „Anordnung auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ besagt u. a.:
Artikel I - §1
(1) Die Veräußerung oder die Verpachtung eines gewerblichen, land-oder forstwirtschaftlichen Betriebes sowie die Bestellung eines Nießbrauchs an einem solchen Betrieb bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Genehmigung, wenn an dem Rechtsgeschäft ein Jude als Vertragschließender beteiligt ist. Das gleiche gilt für die Verpflichtung zur Vornahme eines solchen Rechtsgeschäfts. . .
Artikel II . - §7
Die Neueröffnung eines jüdischen Gewerbebetriebes oder die Zweigniederlassung eines jüdischen Gewerbebetriebes bedarf der Genehmigung-
„Der Angriff“ schrieb in seinem Kommentar zu diesen Verordnungen:
„Wir können mit völliger Sicherheit annehmen, daß ein großer Teil dieses Reichtums durch unsaubere Methoden erworben worden ist und der Kommissar für den Vierjahresplan deshalb angeordnet hat, daß das jüdische Kapital in den Dienst des Geschäftslebens und der Industrie des deutschen Volkes gestellt wird.“
Der Reichsfinanzminister hat in einem Erlaß vom 11. Juni über die Heranziehung außerordentlicher Einkünfte zur Einkommenssteuer auf Grund des § 34 des Einkommensteuergesetzes gewisse steuerliche Erleichterungen eingeräumt, von denen die jüdischen Steuerpflichtigen ausdrücklich ausgeschlossen worden sind.
Im Reichsgesetzblatt vom 15. Juni 1938 wurde die „Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ veröffentlicht, die den Begriff eines jüdischen Gewerbebetriebes festlegt. U. a. wird bestimmt, daß eine Aktiengesellschaft bereits dann als jüdisch anzusehen ist, wenn im Vorstand oder im Aufsichtsrat auch nur ein Jude vertreten ist. Kapitalsmäßig gesehen, gilt eine Aktiengesellschaft als jüdisch, wenn ein Viertel des Kapitals in jüdischen Händen ist. Weiter wird verfügt, daß jüdische Gewerbebetriebe in ein Verzeichnis einzutragen sind.
Am 6. Juli wurde ein „Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung“ erlassen, wonach Juden und jüdischen Unternehmungen der Betrieb folgender Gewerbe untersagt wird:
1. Das Bewachungsgewerbe, 2. die gewerbsmäßige Auskunftserteilung über Vermögensverhältnisse oder persönliche Angelegenheiten, 3. der Handel mit Grundstücken, 4. Geschäfte gewerbsmäßiger Vermittlungsagenten für Immobiliarverträge und Darlehen sowie das Gewerbe der Haus- und Grundstücksverwalter, 5. gewerbsmäßige Heiratsvermittler mit Ausnahme der Vermittlung von Ehe zwischen Juden oder zwischen Juden und jüdischen Mischlingen ersten Grades, 6. das Fremdenführergewerbe.
Jüdische Gewerbetreibende, die „zur Zeit des Inkrafttretens des Gesetzes ein Gewerbe nach Ziffer 3 und 4 betreiben“, dürfen ihre Tätigkeit bis zum 31. Dezember 1938 weiterführen. Wandergewerbescheine, Legitimationskarten und Stadthausierscheine, die an Juden ausgegeben wurden, verlieren mit dem 30. September ihre Gültigkeit. Damit ist auch den jüdischen Handelsvertretern das Gewerbe untersagt.
Durch die vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938 (Reichsgesetzblatt Teil I, Seite 969) werden die Juden aus der Ärzteschaft in Deutschland ausgeschaltet. Mit dem 30. September 1938 erlöschen die Bestallungen und Approbitationen der jüdischen Ärzte.
Ehemaligen jüdischen Ärzten kann die Genehmigung erteilt werden, weiterhin Juden zu behandeln. Sie bleiben aber auch dann nicht Ärzte und können keiner Berufs- und Standesorganisation angehören. Übrigens wird in den Kommentaren betont, daß die Genehmigung nur dort gegeben werden soll, „wo jüdische Bevökerung in besonders starkem Maße zusammengeballt ist“, etwa in Berlin und Wien. Anderwärts werden Juden gezwungen sein, sich von arischen Ärzten behandeln zu lassen, auch wenn „ehemalige“ jüdische Ärzte am Ort wohnen. - Weiter enthält die Verordnung noch folgende Bestimmung:
„Mietverhältnisse über Räume, die ein jüdischer Arzt für sich, seine Familie oder seine Berufsausübung gemietet hat, können vorzeitig gekündigt werden. Die Kündigung muß für den 30. September erfolgen und dem Vermieter spätestens am 15. August zugehen.“
Das ist keine Schutzvorschrift zugunsten der betroffenen jüdischen Ärzte, sondern ein Freibrief für die Hausbesitzer, die Ärzte vorzeitig herauszusetzen. Dem Mieter, also dem Arzt, steht kein Widerspruchsrecht gegen eine solche Kündigung zu, wohl aber dem Vermieter.
Im Reichsgesetzblatt, Teil I, ist am 26. 7. eine Verordnung über Kennkarten erschienen. Dieser neue Inlandsausweis ist außer für Wehrpflichtige und Grenzgänger auch für Juden zwingend vorgeschrieben.
Die Juden müssen, sobald sie eine Kennkarte erhalten haben, bei Anträgen, die sie an amtliche oder parteiamtliche Dienststellen richten, unaufgefordert auf ihre Eigenschaft als Jude hinzuweisen; sie müssen außerdem Kennort und Kennummer ihrer Kennkarte angeben. Das gleiche gilt für jede Art von Anfragen und Eingaben, die Juden an amtliche oder parteiamtliche Dienststellen richten, und bei der polizeilichen Meldung.
Die Gebühr für die Ausstellung der Kennkarte beträgt im allgemeinen drei Reichsmark. Die Personen, die dem Kennkartenzwang unterliegen, ausgenommen die Juden, bezahlen nur eine Reichsmark.
Nach einer Verfügung des Reichspostministers vom 13. August dürfen arische Absender auf ihren Postwurfsendungen künftig durch den Zusatz „nicht an Juden“ zum Ausdruck bringen, daß bei der Verteilung jüdische Empfänger unberücksichtigt bleiben sollen. Weiter wird verfügt, daß Anträgen von jüdischen Absendern auf Zulassung zum Werbeantwortverfahren nicht mehr zu entsprechen ist. Bereits erteilte Genehmigungen werden widerrufen.
Am 14. August hat die Reichsregierung allen deutschen Banken mitgeteilt, daß die Safes von Juden beschlagnahmt sind und in Zukunft nur geöffnet werden dürfen in Gegenwan eines SS-Beauftragten, eines verantwortlichen Vertreters der Bank und des Inhabers.
Weitere gesetzliche Maßnahmen gegen die Juden werden bereits angekündigt. So teilt das „Deutsche Nachrichtenbüro“ am 29. April mit:
„Wiederholt sind deutsche Rechtsanwälte vor die Frage gestellt worden, wieweit es sich mit ihren allgemeinen Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft und ihren besonderen Berufspflichten vereinbaren läßt, einen Juden in Rechtsfragen zu beraten oder zu vertreten. Im Zusammenhang hiermit steht die weitere Frage, wem etwa sonst die Vertretung von Juden übertragen werden kann, insbesondere in den Verfahren, für die eine Vertretung durch Rechtsanwälte gesetzlich vorgeschrieben ist. Wie wir hören, werden diese Fragen mit Beschleunigung allgemein durch Gesetz geregelt werden.“
Schon heute legt der „NS-Rechtswahrerbund“ seinen Mitgliedern nahe, die Vertretung von Juden abzulehnen. Die Gauführung des NSRB München-Oberbayern droht solchen Anwälten, die Juden vertreten, sogar mit dem Ausschluß aus dem Rechtswahrerbund.
Neuerungen im Staatsangehörigkeitsrecht kündigt Staatssekretär Dr. Stuckart vom Reichsministerium des Innern in der Festnummer der Zeitschrift der „Akademie für Deutsches Recht“ zur fünften Jahrestagung der Akademie an. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht werde daher Vorsorge treffen müssen, daß Juden die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt, Legitimation und Heirat künftig nicht mehr erwerben können. Demnach wird daran gedacht, den künftig in Deutschland zur Welt kommenden Kindern jüdischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit auch dann zu versagen, wenn beide Eltern deutsche Staatsangehörige sind.
Über diese Gesetze und Verordnungen hinaus wird die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben noch durch Einzelmaßnahmen von Gemeinden, Organisationen und Institutionen aller Art betrieben. Einige Beispiele aus den letzten Monaten:
Der Bürgermeister der Stadt Eltmann (Mainfranken) hat verfügt, daß in Zukunft alle diejenigen Geschäftsleute und Einwohner der Stadt Eltmann, die noch mit Juden Geschäfte machen oder in deren Häuser Juden ein- und ausgehen, von seiten der Stadt keinerlei Aufträge mehr erhalten und auch sonst keine Unterstützung mehr bekommen.
Aufsichtsrat und Vorstand der Volksbank G.m.b.H. in Groß-Gerau (Hessen-Nassau) haben folgenden Beschluß gefaßt und bereits durchgeführt:
1. Alle Juden werden sofort aus der Genossenschaft ausgeschlossen, ganz gleich, ob sie Sparguthaben oder Kredite haben oder nicht.
2. Die Bankleitung hat sämtliche Wirtschaftsverbindungen mit Juden gelöst.
3. Das Geld für Kredite fließt nur noch deutschen Volksgenossen zu und den Juden werden keine Zinsen für ihr ergaunertes Kapital mehr bezahlt.
Die Behörden der Stadt Zwickau in Sachsen haben verfügt, daß deutsche Jugendliche nicht mehr als Lehrlinge in jüdischen Läden und Betrieben beschäftigt sein dürfen, auch wenn sie unter der direkten Anleitung eines Ariers arbeiten.
Die Kreisbauernschaft Birkenfeld (Nahe) teilt mit, daß sie allein im letzten Jahre 22 jüdische Viehhandelsbetriebe ausgeschaltet hat. Am 1. Mai 1938 sind drei weitere jüdische Viehhandlungen in diesem Bezirk geschlossen worden.
Am 31. Dezember 1933 sind in Kurhessen neben 435 arischen noch 360 jüdische Viehhändler gezählt worden. Eine neue Zusammenstellung mit dem Stichtag vom 10. Februar 1938 hat ergeben, daß in Kurhessen kein einziger jüdischer Viehhändler mehr seinen Beruf ausübt.
Die Werbegemeinschaft des deutschen Lederwarenfaches teilte im April mit, daß sie „nun vollständig judenrein“ sei. Juden werden nicht mehr aufgenommen und jedes Mitglied hat sich verpflichten müssen, keinerlei Geschäfte mehr mit Juden zu machen.
Auf Anordnung des Reichsorganisationsleiters Dr. Ley ist das Reichsbezugsquellen-Archiv des Hauptamtes für Handwerk und Handel in das Zentralbüro der Deutschen Arbeitsfront eingegliedert und der Zentralstelle zugeteilt worden. Zum Aufgabengebiet des Reichsbezugsquellen-Archives gehört laut amtlicher Mitteilung:
„Die grundsätzliche Beobachtung der gesamten Judenfrage in der Wirtschaft und der Bearbeitung der damit zusammenhängenden politischen Fragen.
Die Beratung und laufenden Prüfungen von Gleichschaltungen.
Die Feststellung der arischen Struktur von Firmen und Auskunfterteilung an Partei-, Staats- und Kommunalstellen sowie Aufklärung der Volksgenossen in geeigneter Form.“
Die „Arisierung“ jüdischer Firmen hat an Bedeutung und Umfang seit unserem letzten Bericht im Februar 1938 noch erheblich gewonnen. Die Liste der arisierten Unternehmen hat einen solchen Umfang angenommen, daß wir sie nicht mehr wiedergeben und Einzelfirmen nur noch in Ausnahmefällen nennen können. - Immer mehr Gewerbezweige melden ihre vollständige „Judenreinheit“. So wurde z. B. im März die letzte in den Händen eines Juden befindliche Schuhfabrik arisiert, die Firma Jacob Adolf in Pirmasens. An der Spitze des Betriebes steht jetzt der Vorsteher der nationalsozialistischen Stadtverordnetenfraktion, Fritz Reinhardt.
Die deutsche Rechtsprechung hat sich der herrschenden Auffassung, daß der Jude minderwertig und allein durch seine Abstammung schuldig sei, mit der Zeit angepaßt. Von dem anfänglichen Bestreben, die Gleichheit vor dem Gesetz nicht ganz zerstören zu lassen, ist kaum mehr etwas zu spüren. In dem Maße, in dem jüngere Richter nachrücken, verschlechtert sich weiter die Situation jüdischer Angeklagter und die Situation solcher Arier, die des Umgangs mit Juden überführt sind. Wir geben einige Entscheidungen wieder, die uns typisch erscheinen.
Das Amtsgericht Berlin-Schöneberg hat sich auf den Standpunkt gestellt, daß die - grundsätzlich unpfändbaren - Rundfunkgeräte bei jüdischen Besitzern der Pfändung unterliegen. Das Gericht bezieht sich in seinem Urteil auf das Reichsbürgergesetz, nach dem Juden nicht deutsche Staatsbürger sein können. Damit sei offenbar, daß der Staat in keiner Hinsicht, sei es in wirtschaftlicher, kultureller oder politischer, irgendein Interesse an einer irgendwie gearteten staatsbürgerlichen Erziehung der in Deutschland lebenden Juden habe, es sei denn das Interesse an einer strikten Beachtung der bestehenden Gesetze und Verordnungen. In dieser Beziehung aber stehe den Juden die Tagespresse als erschöpfende Informationsquelle zur Verfügung.
Das Amtsgericht Nürnberg hat eine jüdische Familie zur Räumung ihrer Wohnung in einem deutschen Hause verurteilt. Der Vermieter war ein gemeinnütziges Wohnungsunternehmen. In der Urteilsbegründung wurde erklärt, daß die Mieter als Juden nicht Volksgenossen seien. Daraus ergebe sich gerade für das gemeinnützige Wohnungsunternehmen die Pflicht, solange noch eine größere Zahl deutscher Volksgenossen in unzureichenden Behausungen lebe, die Mietaufhebung zu betreiben. Der Klageanspruch diene im übrigen dem begrüßenswerten Ziel einer räumlichen Scheidung zwischen Ariern und Nichtariern.
Ähnlich hat das Oberlandesgericht Köln entschieden, das sich auf den Standpunkt stellte, ein Haus werde dadurch entwertet, daß ein Jude als Mitbewohner darin untergebracht sei.
Das Arbeitsgericht Leipzig hat die Entlassung eines Juden gutgeheißen, die damit begründet worden war, daß die Erfolgsaussichten eines Betriebes im Leistungskampf der Betriebe durch die Zugehörigkeit von Juden wesentlich beeinträchtigt würden. Es könne aber keinem deut-A 75 sehen Betrieb verwehrt werden, sich am Leistungskampf zu beteiligen. Eine solche Beteiligung entspreche der Gemeinschaftsehre und dem Leistungsprinzip. Es seien daher keineswegs eigennützige Motive, die bei der Kündigung des Juden maßgebend seien, sondern gerade die Interessen der Gemeinschaft.
Die 5. Zivilkammer des Landgerichts Zwickau hat in einer Beschwerdesache entschieden, daß einem jüdischen Betriebe schlechthin die Tauglichkeit als Lehrstelle für Deutsche abgesprochen werden müsse. In der Begründung heißt es, daß „sich der Lebenskampf des deutschen Volkes um die Ausschaltung des jüdischen Einflusses innerhalb eines jüdischen Betriebes nicht praktisch betätigen könne“.
Das Landeserbhofgericht in Celle hat in einem Entschluß festgestellt, daß „geschäftliche Verbindungen mit einem jüdischen Viehhändler einen Bauern grundsätzlich unehrbar machen“.
Das Oberlandesgericht Celle hat eine Ehe für ungültig erklärt, weil die Frau vor der Eheschließung (etwa im Jahre 1932) Beziehungen zu einem Juden unterhalten und der Mann das erst jetzt erfahren habe. (Irrtum über solche persönlichen Eigenschaften des anderen Ehegatten, deren Kenntnis von der Eingehung der Ehe abgehalten hätte.) In der Begründung erklärt das Gericht, aus den Beziehungen der Frau zu dem Juden offenbare sich eine persönliche Eigenschaft. Wenn die Vorgänge auch ganz oder zum größten Teil in die Zeit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme fielen, so sei doch diese Eigenschaft der beklagten Frau nach den heutigen Anschauungen zu beurteilen, umso mehr, als sich die Vorfälle unmittelbar vor der Machtübernahme ereignet hätten. Die Frau habe nicht so viel Rassengefühl und Rassenstolz besessen, daß sie den näheren, auf erotischer Grundlage beruhenden Umgang mit einem Juden gemieden habe. Sie habe sich dadurch selbst entwertet.
Das Landgericht hatte in erster Instanz die Anfechtungsklage des Ehemannes abgewiesen.
Das Chemnitzer Gericht sprach die Auflösung einer Ehe aus folgendem Grunde aus: Ein Ehegatte, dessen Frau ein uneheliches Kind in die Ehe mitbrachte, erfuhr erst jetzt, nach 22 Jahren, daß das Kind von einem Juden stamme. Das Gericht erklärte, daß durch den vorehelichen Verkehr mit einem Juden die volle deutschblütige Reinheit der Ehe beeinträchtigt war; sie sei darum aufzulösen.
Im folgenden zählen wir die uns bekanntgewordenen Rassenschande-Urteile auf. Sie wurden in der Zeit vom Februar bis zum Juli 1938 gefällt.
Name des Verurteilten: Wohnort: Urteil:
Altgenug, Adolf Hannover 5 Jahre Zuchthaus
Feiertag Dähre 3 ½ Jahre Zuchthaus
Gross, Heinz Köln 3 Jahre Zuchthaus
Hirsch, Walter Berlin 2 Jahre Zuchthaus
Levy, Max Rhaunen 2 Jahre, 6 Monate Zuchthaus
Nussbaum, Dr. Robert Bielefeld 3 Jahre Zuchthaus
Oppenheimer, Arthur Wanne-Eickel 3 ½ Jahre Zuchthaus
Rascher, Wolf Teppenberg 10 Jahre Zuchthaus
Scheyer, Paul Bochum 1 Jahr 6 Monate Zuchthaus
Schönfeld, Martin Hannover 3 ½ Jahre Zuchthaus.
Über all den gesetzgeberischen, behördlichen, organisatorischen, polizeilichen und gerichtlichen Maßnahmen wird die antisemitische Massenpropaganda nicht vernachlässigt, die zwei Aufgaben hat: einerseits den Judenhaß in jenen Kreisen zu säen, die bis heute noch nicht für den Rassengedanken gewonnen werden konnten, und andererseits die erzielten „Erfolge“ vor den - in anderer Beziehung enttäuschten - antisemitischen Parteigängern propagandistisch auszuwerten. In Sachsen wurde zu diesem Zweck vom 4. bis zum 19. März eine „Großaktion“ mit 1350 Versammlungen veranstaltet, die unter dem Motto stand: „Ein Volk bricht Ketten.“ Der sächsische Gauleiter Mutschmann sagte bei dieser Gelegenheit in Dresden, es sei wiederum einem Juden geglückt, unter Zurücklassung einer Steuerschuld von 100 000 Mark ins Ausland zu flüchten. Man müsse erwägen, ob in solchen Fällen nicht alle Juden der betreffenden Stadt für Verluste solcher Art verantwortlich gemacht werden könnten. Der sächsische Staatsminister Lenk erklärte in eine Versammlung in Tharandt: „Es gibt keinen ehrenhaften Juden. Jeder Hebräer muß feilschen, schwindeln und betrügen; das liegt ihm schon im Blut.“ Auf diesen Ton waren alle Reden der „Großaktion“ abgestimmt. Den Lehrern wurde nahegelegt, das Gehörte „im Unterricht nutzbar zu machen“.
Es wird überhaupt viel Gewicht darauf gelegt, die Kinder in dem anerzogenen Judenhaß dauernd zu bestärken. Julius Streicher hat ein zweites Bilderbuch herausgegeben: „Der Giftpilz“, Bilder von Fips, Erzählungen von Hiemer. U. a. enthält es eine Geschichte: „Wie zwei Frauen von Judenanwälten betrogen wurden.“ Streicher selbst kündigt das Buch im „Stürmer“ (Nr. 13/1938) mit den Worten an:
„Was in die Herzen der frühen Jugend hineingelegt wird, geht mit durchs ganze Leben. So, wie das Kirchenchristentum schon in das Kind unablässig Dinge hineinhämmert, die es bis zum Abschiednehmen aus dieser Welt als religiöses Glaubensgut begleiten, so soll auch der deutsche Mensch schon in seiner frühen Jugend ein erstes Wissen vom Teufel in Menschengestalt beigebracht erhalten.“
An intellektuelle Kreise, die auf so primitive Weise nicht zu fangen sind, sucht die antisemitische Propaganda mit scheinwissenschaftlichen Veröffentlichungen heranzukommen. Auf der dritten Jahrestagung des „Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands“ in der Universität München, betonte der Präsident des Instituts, Professor Walter Frank, es sei die zentrale Aufgabe des Reichsinstituts, „Mittelpunkt des Antisemitismus in der deutschen Wissenschaft und auf den deutschen Hochschulen zu sein“. An die Mitglieder wurde eine „Bibliographie der Judenfrage“ verteilt, die publizistische Pläne zu diesem Thema bis zum Jahre 1948 umfaßt. Frank gab bekannt, das Reich habe beträchtliche Sondermittel für die im Entstehen begriffenen Bücher über die Judenfrage zur Verfügung gestellt.
Das ständige antisemitische Trommelfeuer hat zur Folge, daß deutsche Juden sich in kleineren Provinzorten kaum mehr halten können. Immer mehr Orte melden sich als „judenrein“ (zuletzt Feuchtwangen und Gudenberg). Ebenso geben einzelne Badeorte in der Presse bekannt, daß Juden entweder zum Ort oder wenigstens zu den Kuranlagen keinen Zutritt haben. So u. a. Wiesbaden, Warmbrunn, Schandau, Oberschlema.
Die Auswanderung der Juden ist immer schwieriger geworden. Die Paßentziehung, die Devisenbestimmungen, der niedrige Kurs der Mark bringen endlose Schwierigkeiten mit sich. Von einem Vermögen im Betrage von 100 000 RM können etwa 7,7% transferiert werden, von 10 000 RM etwa 10%. Es bleibt den Juden, die aus den Provinzorten verjagt werden, nichts anderes übrig, als zunächst in die größeren Städte - vor allem nach Berlin - zu flüchten. Viele hoffen auch, von dort die Auswanderung leichter ermöglichen zu können. Die Tatsache aber, daß auf diese Weise ein starker jüdischer Zustrom nach der Hauptstadt fühlbar ist, gibt zu neuer antisemitischer Hetze Anlaß. Bei der Sonnenwendfeier in Berlin, am 21. Juni, hielt Goebbels vor etwa 120 000 Teilnehmern eine Rede, in der er u. a. sagte:
„Ist es nicht geradezu empörend, und treibt es einem nicht die Zornesröte ins Gesicht, wenn man bedenkt, daß in den letzten Monaten nicht weniger als 3000 Juden nach Berlin eingewandert sind? Was wollen die hier? Sie sollen dahin gehen, woher sie gekommen sind, und sie sollen uns nicht noch weiter lästig fallen. Sie sollen nicht so tun, als wenn es eine nationalsozialistische Revolution überhaupt nicht gegeben hätte.“