Das SD-Hauptamt II 112 berichtet
Das SD-Hauptamt II 112 erstattet am 18. März 1937 aus Berlin folgenden „Lagebericht“ für die Zeit vom 1. bis 15. März:
Die Lage in sachlicher Hinsicht
Wesentliche Änderungen haben sich in der Berichtszeit kaum ergeben.
Zu erwähnen ist die in jüdischen Kreisen fast allerorts auftretende Besorgnis um die berufliche Unterbringung der jüdischen Jugend, die am 1.4.1937 die Schule verläßt (etwa 5-6.000). Um die Lösung dieser Frage zunächst hinauszuschieben wird teilweise angeregt, die Schulzeit um 1 Jahr zu verlängern. Die Klärung dieser Angelegenheit scheint auf Grund der Meinungsverschiedenheiten in den Leitungen der einzelnen jüdischen Gemeinden und den Jugendverbänden zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen den assimilatorischen und zionistischen Kreisen zu führen.
Die Hetzrede des New Yorker Bürgermeisters La Guardia hat in der jüdischen Bevölkerung allgemein eine leichte Beunruhigung hervorgerufen, da sie eine Verstärkung der antisemitischen Tendenzen in Deutschland befürchteten.
Die Lage in regionaler Hinsicht
Wenn im 1. Lagebericht vom 17.2.1937 gemeldet wurde, daß allenthalben eine jüdische Abwanderung aus ländlichen Gemeinden in größere Städte erfolgt ist, so trifft diese Meldung nicht für alle Gebiete des Reiches zu. Aus Ostpreußen, Pommern und Mecklenburg, dem Rheinland, Württemberg und Baden liegen derartige Meldungen vor, während aus Bayern mit Ausnahme von Nürnberg Fürth, das in letzter Zeit immer mehr zum Zentrum jüdischen Lebens in Franken wird, gegenteiliges gemeldet wird, daß insbesondere finanzkräftige Juden aus Städten in Landgemeinden gehen, die nur schwach mit Juden besetzt sind. Dort finden diese Juden noch heute beste Existenzmöglichkeiten, da ihnen durch die Unterstützung katholischer Kreise die Sympathie der Landbevölkerung gesichert wird. Dadurch verschlechtert sich andererseits die soziale und wirtschaftliche Lage der jüdischen Gemeinden.
Im allgemeinen, insbesondere in Norddeutschland, zeigen sich die Juden sehr wenig in der Öffentlichkeit. Die Großgemeinden (z.Zt. in Düsseldorf) sind intensiv mit den Vorbereitungen zum Pessachfest (Ende März) beschäftigt.
Zu erwähnen bleibt noch die Aktivität des ''Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten '' anläßlich des Heldengedenktages, an dem in den größeren Orten von den einzelnen Ortsgruppen Gedenkfeiern mit versteckter Rechtfertigung des Verbleibens der Juden in Deutschland unter Betonung der Fronttätigkeit betrieben wurde.
Programmatische Veränderungen
Während bisher der ''Jüdische Centralverein eV'' (CV) zu Gunsten des ''Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten'' zurückgetreten war, versucht er in neuester Zeit durch Umgestaltung seines Arbeitsprogramms wieder aktiv zu werden. Der Vorsitzende des ''Jüdischen Centralvereins'' in Berlin bezeichnete als neuen Zweck des CV die ''seelische, rechtliche und wirtschaftliche Betreuung'' der Juden in Deutschland. Der CV erkenne die Notwendigkeit sachgemäßer Mitarbeit an einer, den Aufnahmemöglichkeiten der Welt angepassten Auswanderung an. Neuerdings wehrt sich der CV mit undurchsichtigen Begründungen gegen die Behauptung, er sei ein assimilatorischer Verband.
Der Leiter des Gruppenverbandes Rheinland und Westfalen der ''Zionistischen Vereinigung für Deutschland '' wich von der bisher von ihm vertretenen Linie der (alt)zionistischen Politik ab. Er setzte sich anläßlich einer Kundgebung für die Gedankengänge der Neuzionisten (in Deutschland Staatszionisten) ein. Dieses Abkehren ist zunächst ein Einzelfall; die großangelegte Propagandaaktion des Leiters der Neuzionistischen Organisation und bekannten Boykott- und Greuelhetzers, Wladimir Jabotinsky , die dieser nach Verkündung seines Evakuierungsplanes einleitete, läßt erwarten, daß langsam weitere Fälle folgen werden.
Organisatorische Veränderungen
Die Salo-Adler-Loge Nr. 875 des UOBB in Schneidemühl hat sich aufgelöst.
Im Saargebiet befinden sich kleinere, ländliche jüdische Gemeinden in Liquidation, während z.B. in Zeven bei Bremen noch eine neue Synagoge eingeweiht werden kann.
Der Gruppenverband der ''Agudas Jisroel '' in Deutschland, der bisher in Frankfurt a/M. seinen Sitz hatte, wurde Anfang März dieses Jahres nach Fürthe verlegt.
Der 'Ort'-Verband hat in Berlin eine ''Jüdische Lehranstalt für gewerbliche Ausbildung'' errichtet, die Anfang April dieses Jahres eröffnet wird.
In Nürnberg ist eine Bezirksstelle für Berufsausbildung gegründet worden, die eine Ausbildung in jüdischen Kollektivstätten ermöglicht.
Kampfmethoden
Die kulturellen Veranstaltungen sind in einigen Teilen des Reiches derart zahlreich geworden, daß sich die Staatspolizeistellen veranlaßt sahen, verschiedene Veranstaltungen zu verbieten bzw. aufzulösen. Teilweise mußte in derartiger Form auch gegen sportliche Veranstaltungen eingeschritten werden. In diesem Zusammenhang ereignete sich in Arnsberg/Westfalen folgender Vorfall: Eine Abordnung führender Juden erklärte der Stapo , daß sie sich beschwerdeführend an den Reichssportführer wenden wolle.
Jüdische Kaufhäuser versuchen durch auffallende soziale Maßnahmen das Vertrauen ihrer Angestellten zu halten.
Im Kreise Alfeld/Leine ist ein jüdischer Tierarzt auf Vorschlag des Vorsitzenden der Schweinekasse zum Kassenarzt mit 95% Mehrheit gewählt worden. Ein arischer Tierarzt, der Ehrenzeichenträger ist, wurde aus dem Grund abgelehnt, weil er angeblich fachlich nicht auf der Höhe sei.
Der Volljude Joffé aus Stuttgart, dem es gelungen ist, sich in Parteiuniform schon seit Jahren bei der DAF als Zellenwalter zu betätigen, wurde festgenommen.
Aus Pirmasens/Pfalz wird gemeldet, daß dort neuerdings zu den regelmäßigen Kameradschaftsabenden des ''Reichsbund jüdischer Frontsoldaten'' die Ehefrauen der Mitglieder eingeladen werden, also eine Umgehung der Verfügung des Gestapa vom 5.7.1936 , wonach die Arbeit des ''Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten'' ausschließlich auf die Betreuung jüdischer Kriegsopfer beschränkt ist.
Gegenüber den ersten beiden Monaten dieses Jahres ist eine verstärkte Tätigkeit des ''Jüdischen Centralvereins'', besonders in Oberschlesien, festzustellen.
In Berlin sind innerhalb der zionistischen Gruppen aus rein propagandistischen Gründen Bestrebungen im Gange mit dem Ziel, die bisherige Kampfstellung untereinander aufzugeben und sich zu einer einheitlichen Arbeitsgemeinschaft zusammenzuschließen. Es muß angenommen werden, daß die treibende Kraft zu dieser Aktion der Leiter der ''Staatszionistischen Organisation'', Georg Karesky , ist, der damit beweist, daß er in Deutschland dieselbe Politik vertritt wie der Leiter der ''Neuzionistischen Organisation'', Wladimir Jabotinsky, in seiner neuzionistischen Weltpolitik. (Siehe auch unter B I (3)).
Die Aufführung des neuen Palästina-Films ''Hatikwah'', von dem sich die Zionisten einen großen propagandistischen und finanziellen Erfolg erhofften, wurde von den zuständigen Staatsstellen verboten.
Die gesamte jüdische Presse beginnt bereits mit der ''Stimmungmache'' für den XX. Zionistenkongreß , der im August dieses Jahres in der Schweiz stattfinden soll.
Beziehungen zu anderen Gegnern
Juden
Aus dem Westen des Reiches wird über wachsenden Einfluß assimilatorischer Kreise im Jüdischen Kulturbund berichtet.
Die im Lagebericht vom 1.3.1937 aus dem Kreise Sensburg/Ostpreußen gebrachte Meldung über Fühlungnahme einzelner Juden mit Angehörigen religiöser Sekten hat sich als unrichtig erwiesen. Es handelt sich um rein geschäftliche Verbindungen.
Im Regierungsbezirk Potsdam wurden Anfang März dieses Jahres zwei Juden festgenommen, die als Leiter illegaler Gruppen der SPD tätig waren.
Verhältnis zu den einzelnen Lebensgebieten
Kulturelles Leben.
Es fällt immer wieder auf, daß sich Assimilantenkreise Kulturschöpfungen hervorragender Art zu eigen machen. Neuerdings wird sogar dazu übergegangen, solche Werke ins Hebräische zu übertragen.
Vereinzelt spielen die Juden auch heute noch im Gemeinschaftsleben eine Rolle. Die Landwirtschaft des Juden Bloch in Chinow, Kreis Lauenburg, gilt noch heute bei der Kreisbauernschaft Lauenburg als Musterwirtschaft und laut Rundschreiben der Landesbauernschaft Pommern als amtliche Saatzuchtverteilungsstelle. Sehr bezeichnend ist, daß dieser Bloch, der nie Soldat war, am Heldengedenktag 1933 eine Rede für die Gefallenen des Weltkrieges hielt. Er war von seinem Förster, der damals den Kriegerverein führte, dazu aufgefordert worden.
Die NSV hat ihre Bedingungen für die Aufnahme von Mitgliedern dahin geändert, daß grundsätzlich jeder unbescholtene deutsche Staatsbürger Mitglied werden kann, der das 18. Lebensjahr vollendet hat und der nach seiner Abstammung die Voraussetzung für den Erwerb des vorläufigen Reichsbürgerrechts erfüllt. Mischlinge und jüdische Versippte, die Reichsbürger sind, können daher aufgenommen werden.
Der jüdische Einfluß in der deutschen Wirtschaft ist nach wie vor stark, besonders in der Großindustrie und im Großhandel.
Während in Ostpreußen, Pommern, Mecklenburg, in der Provinz Sachsen und im Rheinland der jüdische Einfluß im Vieh- und Getreidehandel nicht nachgelassen hat, werden in Schlesien und Württemberg die Juden aus diesen Handelszweigen allmählich ausgeschieden.
In letzter Zeit macht sich in verschiedenen Gegenden des Reiches, so z.B. im Saargebiet, in Anhalt und in Harburg-Wilhelmsburg, ein Aufgeben des stehenden Gewerbes bemerkbar. In diesen Gegenden versuchen Juden mit Wandergewerbescheinen und Legitimationskarten ihre Waren entweder in ihren Wohnungen anzubieten oder durch Hausiererhandel abzusetzen.
Ausland
Die Bemühungen der Danziger Synagogengemeinde um die Versorgung mit Koscherfleisch haben Erfolg gehabt. Trotz aller Manöver des Leiters des Danziger Vieh- und Fleischversorgungsverbandes mußte den Juden auf Grund der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten Möglichkeit zur Handhabung ihrer Religionsvorschriften das Recht zugebilligt werden, aus Polen rituell geschlachtetes Fleisch einzuführen.
Der bereits in früheren Lageberichten erwähnte jüdische Reiseverkehr ins Ausland nimmt zu. So werden die holländische und belgische Grenze in der Hauptsache von Vertretern aus der Getreidebranche passiert. Ein ähnlich starker Verkehr besteht über die tschechisch-sächsische Grenze, hier besonders von jüdischen Textilreisenden.
In den ''Mitteilungsblättern des ''Schild''-Landesverbandes Oberschlesien'' werden Gemeinschaftsfahrten nach Polen empfohlen, welche vom Reisebüro ''Polbis''/Beuthen OS veranstaltet werden. Dieses Büro ist mit polnischem Gelde errichtet und vermittelt in der Hauptsache Wallfahrten nach Czenstochau und Krakau.
Gegnerarbeit anderer Gruppen (Antisemitismus)
Aus allen Teilen des Reiches wird übereinstimmend berichtet, daß die Aufklärungsarbeit über die Judenfrage durch Vorträge und Versammlungen allgemein nachgelassen hat.
Interessant ist, daß die bayrische Unterrichtsverwaltung für ihren Bereich angeordnet hat, daß vom Schuljahr 1937/38 ab der Unterricht im Hebräischen an höheren Lehranstalten auch als Wahlfach in Fortfall kommt.