Der Regierungspräsident berichtet aus Oppeln
Der Regierungspräsident Oppeln erstattet folgenden undatierten Bericht für August und September 1935:
Mit Genugtuung wurden die im Reichstag in Nürnberg beschlossenen Gesetze begrüßt. [...] Auch die Bestimmungen zum Schutze des deutschen Blutes haben bei allen deutsch gesonnenen Staatsbürgern Zustimmung gefunden, umsomehr, als der Schutz der jüdischen Minderheit durch das Genfer Abkommen im ehemaligen Abstimmungsgebiet den jüdischen Charakter besonders deutlich hervortreten läßt. Daß die Judengesetze im oberschlesischen Abstimmungsgebiet auf die jüdische Minderheit zunächst nicht werden angewandt werden können, dürfte von allen nationalsozialistisch gesonnenen Volksgenossen als untragbarer Zustand empfunden werden. (…)
Der durch die nationalsozialistische Bewegung geweckte Kampf gegen das Judentum führt immer wieder zu Disziplinlosigkeiten von seiten übereifriger Volksgenossen. Da die Exekutivorgane strikte Anweisung haben, irgendwelche Einzelaktionen unter allen Umständen zu verhindern und da die Beamten diese Weisung auch wiederholt in der Praxis durchführen mußten, so hat sich im oberschlesischen Industriegebiet innerhalb der SA eine gewisse polizeifeindliche Stimmung breitgemacht, die bereits zu Bedrohungen von Polizeibeamten geführt hat. Derartige Vorkommnisse werden mit den schärfsten Mitteln unterbunden und verfolgt. (…)
Juden und Freimaurer
Das Judentum verhielt sich in der Berichtszeit im allgemeinen zurückhaltend und abwartend, aber zähe in seiner Zielrichtung. Die Tatsache, daß die Juden sich als Minderheit betrachten dürfen und den Schutz des Genfer Abkommens genießen, veranlaßt allerdings einzelne Juden, immer wieder mit besonderer Dreistigkeit ihre Ansprüche anzumelden.
In dem ländlichen Teil des Regierungsbezirks sind eine Reihe jüdischer Landarbeiter und Lehrlinge bei Bauern in Stellung. Ferner sind einige Umschulungslager bezw. Schulungsheime vorhanden. Der Sinn dieser Einrichtungen besteht angeblich darin, junge Juden im landwirtschaftlichen Beruf auszubilden, um ihnen die Einwanderung in Palästina und anderen Ländern zu ermöglichen. Die Betätigung dieser Juden hat teilweise zu Mißstimmung geführt. Einerseits ersetzen die jüdischen Landarbeiter oft eine volle Arbeitskraft, ferner machen sich die sonstigen unangenehmen Begleiterscheinungen der Anwesenheit von Juden bemerkbar. Juden versuchen deutsche Volksgenossen durch Veranstaltung von Zechen an sich heranzuziehen, auch nähern sie sich deutschblütigen Mädchen. Unverständlich ist auch, daß deutsche Bauern sich bereit erklären konnten, diese Juden bei sich aufzunehmen. Es handelt sich bei diesen Juden nicht etwa um Ortsansässige sondern um von auswärts Zuziehende. Ich werde diese Angelegenheit genauestens verfolgen und, soweit überhaupt möglich, die erforderlichen Maßnahmen ergreifen.
Da der Jude sich im ehemaligen Abstimmungsgebiet vollkommen ungehindert bewegen und betätigen kann, werden immer wieder Fälle bekannt, in denen der volkszersetzende Einfluß dieser Rasse deutlich wird. Sexuelle Vergehen, verbunden mit Abtreibungen, sowie wirtschaftliche Vormachtstellung jüdischer Wirtschaftskreise sind hier zu erwähnen. Da der antisemitischen Aufklärungsarbeit im Abstimmungsgebiet die Hände gebunden sind, läßt sich eine Verringerung des Kundenkreises der jüdischen Geschäfte nicht feststellen. Auch gerade innerhalb der Bauernschaft ist hier immer wieder eine bedauerliche Instinktlosigkeit zu beobachten. Hinzu kommt die in dogmatisch eingestellten Bevölkerungskreisen verbreitete Ansicht, daß die Juden das auserwählte Volk Gottes seien. Trotz der Verbote des öffentlichen Boykotts und der Einzelausschreitungen werden immer wieder Maßnahmen gegen Juden bekannt. Diese Maßnahmen gehen durchweg von Angehörigen der SA und der HJ aus. So wurden vereinzelt Fensterscheiben zertrümmert und Judenkunden photographiert und angeprangert. Trotz größter Wachsamkeit der Polizeiorgane lassen sich derartige vereinzelte Vorkommnisse nicht gänzlich unterbinden. Die Folge davon sind entsprechende Beschwerden, in denen der Sachverhalt in lügnerischer Weise aufgebauscht und übertrieben wird.
Eine besondere Bedeutung kommt dem Judentum im oberschlesischen Industriegebiet zu. Hier ist die wirtschaftliche Stellung des Juden besonders stark. Bezeichnend ist aus hier die Tatsache, daß die Juden es durchsetzen konnten, bei der Entgegennahme der NSV -Gutscheine für den Feierschichtenausgleich berücksichtigt zu werden.
Auch die neuen Nürnberger Gesetze , die das Reichsbürgerrecht und den Schutz des deutschen Blutes betreffen, werden sich unter der Geltung des Genfer Abkommens nicht durchführen lassen.
Hinsichtlich der Judenfrage ist das Gesamtbild im Regierungsbezirk Oppeln daher äußerst unerfreulich, zumal da die Aufgabe der Behörden, die Bestimmungen des Genfer Abkommens durchzuführen und zwar auch gegenüber den Betätigungsversuchen durchaus nationalsozialistisch gesonnener, aber nicht über die nötige Disziplin verfügender Kreise denkbar unerfreulich und undankbar ist. (…)
NSDAP und ihre Gliederungen
Im oberschlesischen Industriegebiet ist das Verhältnis zwischen der staatlichen Polizeiverwaltung einerseits und der SA andererseits nicht so, wie es sein sollte. Der Grund hierfür ist m. E. in der mangelnden Disziplin der dortigen SA zu suchen. Der pflichtgemäßen Diensttätigkeit der Schutzpolizei wird nicht das genügende Verständnis entgegengebracht. Man will offenbar nicht einsehen, daß die Polizei nur ihre Pflicht tut, wenn sie Judenausschreitungen unterbindet und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. [...]
Selbst der Erlaß des Herrn Oberpräsidenten und Gauleiters gegen die Judenausschreitungen erfährt nicht durchweg die erforderliche Achtung. So äußerte ein alter SA-Angehöriger in einer Schankwirtschaft, die jetzige Regierung mache es genauso wie die alte in der Abstimmungszeit, man solle der SA, die revolutionär eingestellt bleibe, nur 24 Stunden geben, dann sei die Judenfrage in Deutschland an einem Tage gelöst.