Der Regierungspräsident berichtet aus Hannover
Der Regierungspräsident Hannover erstattet am 4. Oktober 1935 folgenden Bericht für den September 1935:
Wenn auch die gesamtpolitische Lage sich in den letzten Monaten ruhig und ohne größere innerpolitische Spannungen weiterentwickelt hat und wenngleich der glänzende Verlauf des Reichsparteitages und der Aufbau der Armee dem nationalsozialistischen Staat neuen Aufschwung gegeben hat, so hat es doch den Eindruck, daß die Zahl der Unzufriedenen sei es aus politischen Gründen (Vorgehen gegen den Stahlhelm, kirchenpolitische und religiös-weltanschauliche Gegensätze, Einzelaktionen gegen das Judentum), sei es aus wirtschaftspolitischen Gründen (Lohn- und Preisfrage), eher zugenommen hat.
Judenfragen
Die letzten Monate standen im Zeichen eines verschärften Kampfes gegen das Judentum. Abgesehen von den zahlreichen Einzelaktionen, die sich im August insbesondere und im Monat September nur noch vereinzelt gegen Juden und solche Personen, die sich mit Juden geschäftlich oder im sonstigen Verkehr eingelassen hatte, ereigneten, kam die judengegnerische Propaganda in der Öffentlichkeit dadurch zum Ausdruck, daß in fast allen größeren Orten Schilder angebracht wurden, die in mehr oder weniger scharfen Worten darauf hinweisen, daß Juden unerwünscht sind. Soweit die genannten Schilder auf den Fernverkehrsstraßen, die zahlreich von Ausländern befahren werden, angebracht sind, habe ich die Bedenken, daß sie unsern Gegnern im Ausland bequeme Unterlagen geben, um den Boykott gegen Deutschland zu verschärfen. Daß die Bevölkerung, insbesondere auf dem Lande, nicht überall mit dieser Art Propaganda einverstanden ist, sieht man aus einem Fall im Kreise Nienburg, wo die Schilder einige Tage nach der Aufstellung mit Brettern übernagelt wurden, auf denen geschrieben war:
''Wer ehrlich is, un ohne Schien, schall üsk herzlich willkommen sin'' und:
''Kick nich nah en sin Näs, kick lever nah sin Sinn und glöw du mi, manch Arier reckt nich nahn Juden hin''.
Nach der neuen Gesetzgebung in der Judenfrage und nach dem Verbot aller Einzelaktionen wird vielfach die Frage aufgeworfen, ob diese Warnungstafeln nicht allgemein wieder zu entfernen wären.
Ferner ist man in fast allen größeren Gemeinden dazu übergegangen, Stürmer -Kästen anzubringen. In mehreren Gemeinden hat man in diesen Kästen auch die Namen solcher Personen veröffentlicht, die beim Juden gekauft oder mit ihm Geschäfte gemacht haben. In manchen Gemeinden wurde auch fortgesetzt eine Kontrolle durch Posten oder Fotografen darüber ausgeübt, wer Judengeschäfte betritt. Wer für die Stürmer-Kästen und die Aushänge verantwortlich ist, läßt sich nicht feststellen. Die darin angeprangerten Namen sind manchmal ohne nähere Angaben von den ''Freunden des Stürmers'' unterschrieben. Die Veröffentlichung von Namen in den Stürmer-Kästen hat zur Folge gehabt, daß vor den Wohnungen einzelner Personen, die im Stürmer-Kasten genannt waren, Demonstrationen stattfanden. Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob nicht bei Anprangerung von Personen in Stürmer-Kästen, soweit dies nicht überhaupt auf Grund der ergangenen Erlasse zu verbieten wäre, in Zukunft verlangt werden muß, daß die Namen derjenigen, die für die Bekanntmachung verantwortlich sind, angegeben werden müssen. Wenn man Denunzierungen ohne Namensnennungen als verwerflich in den Papierkorb wirft, so muß auch erwartet werden, daß diejenigen, die andere anprangern, sich verantwortlich nennen, schon damit derjenige, der in seiner Ehre getroffen ist, bei etwa vorgekommenen ungerechtfertigtem Angriff den Verletzer seiner Ehre zur Rechenschaft ziehen kann. Auch scheint es mir im Interesse der Staatsautorität nicht angebracht, daß Beamte, wie es im Kreise Grafschaft Hoya geschehen ist, im Stürmer-Kasten wegen Einkaufs beim Juden angeprangert werden. Es wäre wünschenswert gewesen, daß sich die zuständige Parteileitung in einem solchen Falle an die vorgesetzte Dienstbehörde des Beamten wendet, damit auf diesem Wege das Weitere veranlaßt werden kann. Man hört in der Bevölkerung auch Klagen darüber, daß im ''Stürmer'' oft Dinge behandelt würden, die jedenfalls nicht für Kinder und Jugendliche bestimmt sind. Der Erfolg ist, daß vor den Stürmer-Kästen 12-16jährige Kinder stehen und dort lesen, was ihnen zu Haus nicht gesagt wird. Es ist erforderlich, das Blatt so herauszugeben, daß es nicht ohne weiteres jedem unreifen Kinde verständlich ist.
Aus mehreren Kreisen wird mir berichtet, daß die Stimmung auf dem Lande nicht zuletzt dadurch, ungünstig beeinflußt worden sei, daß ein zu scharfes Vorgehen in der Judenfrage nicht verstanden werde, man hört Äußerungen, daß es wohl durchaus richtig sei, den jüdischen Einfluß, namentlich den der großen kapitalkräftigen Juden, zu brechen, daß aber die Art und Weise des Vorgehens gegen die kleinen Juden auf dem Lande nicht berechtigt und zum Teil ungerecht sei. Es ist aufgefallen, daß Kreise, die sich mit dem Gedanken der Einzelaktionen nicht befreunden konnten - vor allem frühere Angehörige der SPD und KPD - nun erst recht beim Juden kaufen.
Bei der Durchführung der Aktionen in der Judenfrage hat sich als besonders peinlich ergeben, daß zwischen den Parteidienststellen und den Behörden keine genügende Fühlung bestand. Bei den örtlichen Stellen der Bewegung bestand zweifellos die Auffassung, daß Einzelaktionen erwünscht seien, wenn auch parteiamtlich Einzelaktionen als unerwünscht bezeichnet worden waren. Regelmäßig haben sich die Vorfälle überall so abgespielt, daß der Anprangerung von Personen, die mit Juden Geschäfte gemacht hatten, Demonstrationen vor den Häusern folgten und daß polizeilicherseits die Betroffenen zu ihrem Schutz in Sicherheitsverwahrung genommen werden mußten. Um den Behörden und der Polizei so schwierige Situationen, wie sie in vielen Fällen in den vergangenen Monaten entstanden sind, in Zukunft zu ersparen, ist es dringend erwünscht, gleichartige Fälle vorher genau mit den höheren Regierungsstellen durchzusprechen, um das Maß der Verschärfung des Kampfes genau und im einzelnen festzulegen. Es ist unhaltbar, daß die Partei (politische Leitung, SA , SS , HJ ) eine scharfe Kampflinie einhält, während für die Staatsorgane durch Geheim-Erlaß schärfstes Einschreiten gegen Zusammenrottungen verfügt wird. Daß keine Übereinstimmung zwischen Regierungs- und Parteiinstanzen über die Durchführung bestand, schloß man im Lande auch daraus, daß Reichsbankpräsident Dr. Schacht in seiner Königsberger Rede die Einzelaktionen scharf verurteilte, daß aber gerade die NS-Presse die hierauf sich beziehenden Stellen wegließ oder verkürzte. Es ist in der Bevölkerung auch mit Verwunderung darüber gesprochen worden, daß unter den in den Zeitungen veröffentlichten Prospekten der neuen Reichsanleihe eine Anzahl jüdischer Firmen als Mitglieder des emittierenden Konsortiums zeichneten. Das tumultarische Vorgehen gegen jüdische Kinobesitzer und Geschäftsinhaber in Hannover (Mitte August), das in der Stadt eine ziemliche Unruhe hervorgerufen hat, mußte den guten Ruf, den die Stadt Hannover im Auslande genießt und den für die Wirtschaft so wichtigen Fremdenverkehr empfindlich schädigen. Mir ist berichtet worden, daß die Ansammlungen vor den Läden an der Georgstraße in Hannover, wo die Käufer vom Betreten der jüdischen Geschäfte mit teilweise recht drastischen Mitteln abgehalten und die Schaufenster mit unflätigen Plakaten beklebt wurden, von Ausländern (Holländern und Dänen) fotografiert worden sind.