Bericht des SD-Oberabschnitts Nord II 112
Ohne Datum berichtet der Sicherheitsdienst des SD-Oberabschnitts Nord für das Jahr 1937 aus Stettin:
Die Lage in sachlicher Hinsicht
Die verschiedenen Versammlungsverbote für die jüdischen Vereinigungen und die Auflösung der Bne-Briss Logen haben die Lage der Juden in Deutschland im Jahre 1937 dauernd verändert. Das Verbot der Judenlogen hat die geistigen Mittelpunkte der Juden zwangsweise verlagert. Es wurde den führenden Juden erneut klar, daß der Kampf gegen sie in keiner Weise abgeflaut ist. Die geistig führenden Juden, die meistens neben ihrem Logenamt noch Ämter in den verschiedensten jüdischen Vereinigungen inne hatten und meistens Zionisten waren, zogen nach der Auflösung der U.O.B.B.-Logen die Konsequenzen und wanderten nach ''Erez Israel '' aus.
Im Laufe des Jahres ging aber infolge der Unruhen in Palästina die Auswanderung der Juden nach dort zurück. Es traten dafür als neues Auswanderungsziel die USA und einige südamerikanische Länder mehr in Erscheinung.
Um die Auswanderungsmöglichkeiten dem Bedürfnis nach Auswanderung besser anpassen zu können, wurde am Ende des Jahres eine Zentralstelle für jüdische Auswanderung geschaffen. Bestärkt wurde die Auswanderungsfreudigkeit in einem besonderen Falle dadurch, daß man sämtlichen Juden den Wandergewerbeschein entzog. Aus staatspolizeilichen Erwägungen heraus wurde nämlich den Juden in den Grenzgebieten die politische Zuverlässigkeit abgesprochen. Als natürliche Folge davon wanderten darauf verschiedene Juden aus.
Die Auswanderungsfreudigkeit hat im letzten Halbjahr abgenommen. Dies ist sehr wahrscheinlich eine unmittelbare Folge des judenfreundlichen Verhaltens breiter Schichten unserer Volksgenossen und der damit eng verbundenen Steigerung der Umsätze in jüdischen Geschäften.
Allgemein ist die Judenfrage im Bereich des SS-Oberabschnittes Nord nur noch eine wirtschaftliche Frage. Die Judengeschäfte in den Mittel- und Großstädten konnten ihre Umsätze vergrößern, während die Geschäfte in den Kleinstädten meistens in arische Hände übergingen.
Innerhalb der Judenschaft ist die Stimmung abwartend und zum größeren Teil nicht besonders gut. Allgemein befürchten die Juden, daß neue einschneidende Maßnahmen, besonders auf wirtschaftlichem Gebiet gegen sie bevorstehen. Teilweise traten Juden auch wieder, wenn sie sich durch irgendeine staatliche Stelle gedeckt oder beschützt fühlten, frech mit Forderungen hervor, was im Frühjahr mehrere Verhaftungen zur Folge hatte.
Die Stimmung in der Bevölkerung über die Judenfrage ist sehr verschieden. Allgemein wurde festgestellt, daß die Landbevölkerung zu wenig über die Judenfrage aufgeklärt ist und deshalb sie nicht ernst zu nehmen gewillt ist. Wenn man auch, besonders auf dem flachen Lande, den Juden instinktmäßig ablehnt, so schließt das doch nicht aus, daß die Landbevölkerung den Juden wirtschaftlich unterstützt, sei es wegen der günstigen Abzahlungsbedingungen oder aus alter Gewohnheit.
Die Zahl der Juden ist durch Ab- und Auswanderung kleiner geworden. Wirtschaftlich schwache Juden haben große Einbußen erlitten, während es den wirtschaftlich besser gestellten Juden gelang, die Umsätze ihrer Geschäfte zu halten oder gar zu vergrößern.
Die Lage in regionaler Hinsicht
Allgemein nimmt die Judenfrage im Bereich des Oberabschnittes Nord eine weniger wichtige Stelle ein, weil der Prozentsatz des jüdischen Bevölkerungsanteils sehr gering ist. In Mecklenburg tritt das Judentum nur an drei Stellen stärker in Erscheinung und zwar in Rostock, Schwerin und Parchim. Vorherrschend ist hier die zionistische Richtung mit der Ausnahme, daß naturgemäß die alteingesessene Gruppe in Parchim mehr assimilatorischen Charakter trägt. Die Auswanderung in diesem Gebiet richtet sich nach Südamerika. In Vorpommern einschließlich Stettin nimmt der jüdische Bevölkerungsanteil zu. Der prozentuale Anteil beträgt auch hier nur 0,26 Prozent. Von diesen ca. 3.100 Juden entfallen allein auf Stettin ca. 60 Prozent. Das sind 0,71 Prozent, also 2 1/2 mal so viel wie der Gesamtdurchschnitt.
Stärker sind dann die Juden in Ostpommern und in der Grenzmark-Posen vertreten. Es ist überhaupt ein Zunehmen des jüdischen Bevölkerungsanteils von Westen nach Osten zu bemerken. Von einem jüdischen Gemeinschaftsleben kann fast nur in Stettin gesprochen werden, da die anderen örtlichen Judengemeinden zu klein sind, um ein regelrechtes jüdisches Gemeinschaftsleben führen zu können.
Programmatische Veränderungen
Veränderungen programmatischer Art wurden nicht festgestellt. Bei den jüdischen Geschäften wurde eine besondere Tarnungsmethode angewandt, die eventuell als eine richtungsweisende Änderung anzusehen ist. Arische Kunden betreten die jüdischen Geschäfte durch Hintertüren, oder aber ein Jude nimmt sogar zu diesem Zweck einen Umbau seines Hauses vor.
Organisatorische Veränderungen
Die einschneidenste Veränderung brachte die Auflösung der Bne-Briss Logen. Hierdurch sind viele einflußreiche Juden in ihrem Auswanderungsplan bestärkt worden. Die Leiter und geistigen Führer der Juden Stettins und Ostpommerns sind nach Palästina ausgewandert. Durch die vorübergehenden Versammlungsverbote und Auflösungen kleinerer jüdischer Vereinigungen sind diese Organisationen auf eine geringere Mitgliederzahl herabgesunken, sodaß vielfach von einem organischen Zusammenhalt kaum noch gesprochen werden kann.
Allgemein ist die Betätigung der jüdischen Organisationen auf ein Mindestmaß herabgesunken, was auf die inneren und äußeren Schwierigkeiten zurückzuführen ist.
Kampfmethoden
Eine besondere jüdische Propaganda wurde nicht beobachtet. Ebenso kann von einer Zersetzungstätigkeit kaum gesprochen werden. Soweit es der Jude verstanden hat, Nichtjuden für seine wirtschaftlichen Belange einzuspannen, ist ihm die Gesinnung des Einzelnen zu Hilfe gekommen. Soweit es sich hier um Staatsstellen handelt, die sich für den Juden einsetzten, waren es meist frühere Demokraten und Freimaurer , also Liberalisten.
Inländische Gegner
Durch die liberalistische Einstellung der Freimaurer ergaben sich Zusammenhänge mit den allgemeinen Belangen des Judentums, die sich in verschiedenen Gerichtsurteilen oder in der Aufrechterhaltung des privaten Verkehrs zeigten.
Der katholische Bevölkerungsteil und die Anhänger der Bekenntnisfront unterstützten die Juden nicht nur geistig, sondern auch materiell. In besonders starkem Maße ist dies bei der katholischen Landbevölkerung der Fall, die eine Gehässigkeit gegen die Juden als nichtchristlich verdammt.
Eine Verbindung konnte sowohl zur Links- als auch zur Rechtsbewegung festgestellt werden. Hierbei spielt auch wieder die ideenmäßige Verbindung zum Liberalismus eine Rolle. Die Verbindungen traten in einigen Einzelfällen in Erscheinung. Während die Verbindungen zur Linksbewegung von Juden gesucht werden, hält der Reaktionär die Verbindung zur Rechtsbewegung aufrecht. Hierbei spielt der Zusammenhang zwischen Reaktionären und Bekenntnisfront eine besondere Rolle.
Kulturelles Leben
Das kulturelle Leben der Juden wirkte sich nicht besonders stark aus. Die Veranstaltungen des jüdischen Kulturbundes belebten das jüdische Kunstleben nur wenig. Trotzdem waren seine Veranstaltungen immer sehr gut besucht. Der Bund trat mit allen Arten des Kunstlebens, Musik, Theater, Dichterabenden usw. hervor.
Gemeinschaftsleben
Im Gemeinschaftsleben spielt der Jude immer noch eine große Rolle. Die Haltung der Volksgenossen gab dauernd zu Klagen Anlaß. Selbst Parteigenossen und ihre Angehörigen kauften noch immer beim Juden, Angehörige von NS-Gliederungen unterhielten familiären Verkehr mit Juden und liberalistisch ausgerichtete Richter bezeichnen Juden als Volksgenossen. Ein Regierungspräsident setzte sich dafür ein, daß in seinem Bezirk antijüdische Schilder von der Straße entfernt wurden.
Immer wieder muß berichtet werden, daß die Landbevölkerung dem Judenproblem noch heute verständnislos und unaufgeklärt gegenübersteht. Besonders in Landstädten kauft der Bauer und Landarbeiter noch heute beim Juden.
Wirtschaftsleben
Die jüdischen Geschäfte sind an Markttagen besonders in Landstädten überfüllt. Der Jude paßt sich durch sein Entgegenkommen in der Zahlungsweise diesen Kreisen an. Es ist daher auch der Umsatz der jüdischen Geschäfte allgemein größer als im Vorjahr. Wohl wurden einig kleinere Judengeschäfte an Nichtjuden verkauft, doch waren das meistens nur unbedeutende Geschäfte. Trotz des zahlenmäßigen Rückganges der jüdischen Geschäfte ist aber ihre Position nicht erschüttert.
Jüdische Ärzte wurden besonders wegen ihrer individuellen Behandlung teilweise bevorzugt.
Auf den Jahrmärkten wurde ein bedeutender Anteil der Händler als Juden vermerkt. Sehr oft waren sogar bis 50% der Händler Juden. Man half sich in einigen Städten durch die Einrichtung sogenannter Judengassen, wodurch den Juden ein gutes Geschäft sehr erschwert wurde. In einer Kleinstadt Mecklenburgs wurde auch der Einkauf in jüdischen Geschäften von der Stadtverwaltung für Angestellte und Unterstützte verhindert.
Abschließend muß festgestellt werden, daß der jüdische Einfluß auf die Wirtschaft nach wie vor sehr groß ist.
Gegenarbeit anderer Gruppen (Antisemitismus)
Die Aufklärung in der Judenfrage ist sehr gering. Verschiedentlich äußerte sich in Einzelfällen die Stimmung der Bevölkerung gegen die Juden. In einem Falle ging ein Kreisleiter zu weit bei einer Einzelaktion gegen Juden und mußte versetzt werden.
Allgemein ist die antisemitische Propaganda bis auf die Verbreitung des Stürmers hier ziemlich eingeschlafen.