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Chronik und Quellen
1935
September 1935

Bericht aus Minden und Lippe

Aus dem Regierungsbezirk Minden, dem Land Lippe und dem Kreis Hameln-Pyrmont liegt für den Zeitraum vom 6. August bis zum 2. September 1935 folgender Bericht vor:

Der Monat August, auf den die Berichte sich beziehen, ist Ferien-und Erntemonat. [...] In diesem Jahre griffen Ereignisse, die bereits im Juli und früher ihren Anfang nehmen und in der Luft lagen, in die Berichtszeit hinein. Es herrschen vor und nehmen das Hauptinteresse in Anspruch:

Das Vorgehen gegen den Stahlhelm, der Kampf gegen den politischen Katholizismus, der Kampf gegen die Juden.

Gerade der Kampf gegen die Juden griff in einem Maße um sich, der ernstliche Schritte nötig machte, um ihn in disziplinierte Formen zu leiten. (…)

 

Leinen- und Wäscheindustrie

Die Leinen- und Wäscheindustrie war im großen und ganzen ganz leidlich beschäftigt, so daß einzelne Werke sogar zu Erweiterungen schreiten konnten (Bielefeld, Seidensticker). In den letzten Wochen häuften sich allerdings Klagen über mangelnden Auftragseingang. Erteilte Aufträge werden annulliert von jüdischen Firmen. Jüdische Firmen versenden zurzeit Schreiben an die Wäsche- und Seidenfabrikanten, in welchen sie Aufträge infolge des Mangels an Absatz durch die Propaganda gegen die Juden zurückziehen und gleichzeitig erklären, daß es ihnen leider nicht möglich sei, pünktlich Zahlung zu leisten oder die Möglichkeit der Zahlung für absehbare Zeit zu übersehen. Infolgedessen sind eine ganze Anzahl Firmen in ihren Dispositionsmöglichkeiten gehemmt und sehen der weiteren Entwicklung mit Unruhe entgegen. Von verschiedenen Bielefelder Firmen wird versucht jüdische Geschäfte aufzukaufen, um eine Basis für Absatz zu haben. Eine Bielefelder Firma (Reckmann u. Sohn) hat die Absicht, einen jüdischen Textilkonzern mit 20 Geschäften in Berlin zu erwerben. (…)

 

Überführung von Judengeschäften in andere Hände

In Kreisen der Wirtschaft wird viel darüber diskutiert, wie die jetzt bestehenden jüdischen Geschäfte weiterhin zu verwenden sind, wenn man die Juden ausschließe. Die dahin gemachten Vorschläge gehen meistens darauf hinaus, die jüdischen Geschäfte vollkommen zu zerschlagen und den Verband des Einzelhandels zu verpflichten, die frei werdenden Arbeitskräfte, Arbeiter und Angestellten zu übernehmen, da ihnen ja auch mit dem Zerschlagen der jüdischen Geschäfte der Umsatz, der in einer Stadt doch immerhin annähernd gleich bliebe, zufiele. Derartige Erwägungen wurden in Bielefeld in Bezug auf das Kaufhaus Alsberg gepflogen und auch in anderen Städten. Ein anderer Vorschlag geht dahin, die Firmen an sich bestehen zu lassen, aber aus den Angestellten und Arbeitern eine Gesellschaft zu bilden, welche dieses Geschäft weiterführt. Das wäre dann gleichzeitig eine wahre sozialistische Tat. An sich erscheint die Frage in Anbetracht des Vorgehens gegen die Juden und der beabsichtigten Auflösung jüdischer Firmen durch ihre Inhaber im hiesigen Bezirke akut.

 

Presse (…)

Inhaltlich standen in der Presse die Fragen des Stahlhelms und die Judenfrage , sowie die katholische Kirche und Devisenvergehen im Vordergrund, wobei örtliche Vorkommnisse genügend Stoff gaben. Teilweise nahmen sonst harmlose Blättchen den Charakter einer Sensationspresse an und behandelten örtliche Fragen der Rassenschande mit einer Ausführlichkeit, die der des Stürmers oder der früheren Sensationspresse durchaus nicht nachstand. Besonders hervor tat sich hierin die Lippische Staatszeitung in Detmold, die eine Reihe von Juden und Mädchen, die mit Juden verkehrten, mit großer Aufmachung anprangerten. Die größeren Blätter des Bezirkes hielten sich im allgemeinen von jeder sensationellen Aufmachung fern. (…)

Der wiedererschienene ''Stahlhelm'' benutzt die Gelegenheit seines Wiedererscheinens dazu, um auch seinerseits die allgemeine Bewegung gegen die Juden mitzumachen, was man bisher bei ihnen nicht gewöhnt war und in seinen Leserkreisen (die Zeitung ist hier sehr verbreitet) mit Erstaunen zur Kenntnis nimmt. Bezüglich der Aufnahme jüdischer Inserate schlug sich die NS-Presse mit einigen bürgerlichen Zeitungen herum (Herford, Detmold). Jüdische Inserate sind sehr selten in der Presse des Bezirks geworden.

Neu tauchen im Bezirk auf: die ''Jüdische Allgemeine Zeitung'' (früher jüdisch-liberale Ztg.) und die ''Jüdische Rundschau '', beide in Berlin erscheinend, als Lektüre ausgeprägt jüdischen Charakters und für Juden. (…)

 

Juden

Etwas verspätet kam hier im Bezirke die Aktion gegen die Juden zum Ausbruch. Nachdem es zuerst den Anschein hatte, als ob die Aktion gegen die Juden hier nur an einigen wenigen Punkten zum Ausbruch kommen würde, kam etwa um die Mitte des Monats diese Aktion zur vollen Auswirkung. Sie ging von Lippe aus in der Hauptsache, nachdem kurz vorher in Höxter die Käufer, welche aus dem Kaufhaus Löwenstein herauskamen, fotografiert und angeprangert waren. In Lippe waren in der Lippischen Staatszeitung einige Fälle von Rassenschande veröffentlicht worden. Es schlossen sich an die Fälle, in denen die Anprangerung von Volksgenossen, die bei Juden gekauft hatten, vorgenommen wurde, und schließlich kamen Errichtungen von Stürmerkästen und Tafeln mit der Aufschrift ''Juden unerwünscht'' oder ähnlicher Aufschrift Verbote von Zuzug von Juden, Verbot des Erwerbs von Grundeigentum von Juden und ähnliche Sachen durch Gemeinderatsbeschlüsse herbeigeführt, hervor. In Höxter wurden Käufer, die aus dem Kaufhaus Löwenstein herauskamen, fotografiert. In Detmold wurde der Jude [N.N.a] als Rassenschänder in der Zeitung gebrandmarkt. In Alverdissen hat der Gemeinderat Beschlüsse gegen Juden und Judenknechte gefaßt folgenden Inhalts:

§ 1: Juden und Jüdinnen dürfen innerhalb des Gemeindegebiets keine Gebäude und Grundstücke erwerben.
§ 2: Weiterem Zuzug von Juden und Jüdinnen nach Alverdissen wird nicht stattgegeben.
§ 3: Juden wird jeglicher Handel auf hiesigen Märkten untersagt.
§ 4: Juden haben auf Vergünstigungen, die seitens der Gemeinde gewährt werden, keinen Anspruch.
§ 5: Bauern, Handwerker, Geschäftsleute und andere Volksgenossen, die noch mit Juden Verkehr pflegen oder Juden und ihre Anhänger unterstützen, werden bei Vergebung von Gemeindearbeit oder Gemeindelieferung ausgeschlossen.
§ 6: Desgl. können Volksgenossen, die den Verkehr oder Handel mit Juden noch nicht einstellen können, auf Unterstützung und Befürwortung von Gesuchen von Eingaben an staatliche oder andere Stellen nicht rechnen.
§ 7: Diese Bekanntmachung tritt mit dem der Bekanntmachung folgenden Tage in Kraft.

Ähnliche Beschlüsse in ähnlicher Fassung werden auch in Lemgo und anderen Orten durch die Gemeinderäte gefaßt.

In Bösingfeld wurde der Viehhändler und Jude Katz aus Silixen sowie ein Stättebesitzer in Schutzhaft genommen. In Oeynhausen sollte ein Stürmerkasten am Rathaus errichtet werden, was zu Angriffen gegen den Bürgermeister, der dieses nicht dulden wollte, führte.

In Versmold wurde ein Jude in Schutzhaft genommen.

In Bielefeld wurden Juden aus dem Restaurant Biedermeier, in dem sie als Keglerverein tagten, bei ihrer Keglertätigkeit gestört und rausgeschmissen.

In Bielefeld wurden am 24.8. zwei Juden auf dem Alten Markte verhauen.

In Bielefeld wurde am 29.8. ein junger Mann, der als Angestellter bei der Firma das Schaufenster fotografieren wollte, verhauen. - Am 30. August wurden in Bielefeld Käufer des Kaufhauses Alsberg und der Epa fotografiert.

In Lübbecke wurden Fensterscheiben beschmiert und beschädigt und dieses danach durch den Kreisleiter als Provokation bezeichnet, die von staatsfeindlichen Elementen gemacht sei, um der NSDAP etwas anzuhängen. In den Westfälischen Neuesten Nachrichten vom 21.8.1935 wurde das veröffentlicht. Es stellte sich nachher heraus, daß Parteigenossen die Täter waren, die ihrem Kreisleiter nicht die Wahrheit gesagt hatten.

In Verfolg der Judenaktion wurden am 24.8. in Bielefeld zwei Holländer verprügelt.

In Silixen wurde der Pg . [N.N.b] wegen Verkehrs mit einer Jüdin verhaftet.

In Tatenhausen verbot der Kreisleiter das Lokal [N.N.c], daß die Tochter des Inhabers mit dem Juden [N.N.d] verkehrte.

In Bielefeld wurden zwei Juden Hirschfeld in Haft genommen.

In Steinheim i.W. führten die Juden Klage darüber, daß das dort errichtete Transparent durch Umbauten vergrößert sei und das der Stürmerkasten mit Blumenkästen geschmückt sei, die man vom Balkon des Juden Herzfeld weggenommen habe.

Dieses ist nur ein kleiner Teil vorgekommener Fälle, die um ein Vielfaches vermehrt werden könnten. Ein Teil stellte sich als nicht stichhaltig oder sehr sehr weit zurückliegend heraus.

Die Getreidejuden wurden aus dem Reichsnährstand ausgeschaltet. Bei der Getreidebörse in Paderborn fanden sich die Juden vollkommen isoliert. Sie fanden weder Käufer noch Verkäufer und standen nachher in einer Ecke zusammen und weinten.

Der Umsatz der jüdischen Geschäfte ist ganz gewaltig zurückgegangen, so daß eine ganze Reihe von Juden nicht mehr glauben, ihre Geschäfte aufrecht erhalten zu können. In allen Branchen erhalten Fabrikanten und Lieferanten Zuschriften, in denen Aufträge annulliert werden und in denen angekündigt wird, man könne infolge des gewaltigen Geschäftsrückganges in absehbarer Zeit nicht zahlen. Die Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben zeitweilig dürften nicht ausbleiben. Die Juden selbst leben zurzeit außerordentlich zurückgezogen. In ihren Zeitungen: ''Jüdische Allgemeine Zeitung'' und ''Jüdische Rundschau '' wird immer wieder zur Zurückhaltung ermahnt. Interessant ist, daß die Ausreise nach Palästina nicht empfohlen wird, da dieses die Familie, Kind und Kindeskinder ruinieren würde (Jüd. Allgem. Ztg.) Man hofft in jüdischen Kreisen immer noch, daß das Vorgehen gegen die Juden nicht von Dauer sein werde, allerdings wurde in der Paderborner Getreidebörse von Juden gesagt, man habe bisher nicht geglaubt, daß es mit dem Vorgehen gegen die Juden schlimm werden würde; man sehe aber doch jetzt ein, daß die Lage ernst sei.

Der Reichsredner Pg . Münchmeyer erschien und redete in Minden, Oeynhausen, Bielefeld, Salzuflen, Lemgo und Detmold in sehr stark besuchten Versammlungen. In Oeynhausen zog er neben Juden, Reaktion und die katholische Kirche auch gegen den dortigen Bürgermeister Stusberg vom Leder, der ihm gerade gegenübergesetzt war und zum Gaudium seiner Gemeindemitglieder sich abkanzeln lassen mußte. Diese Angelegenheit dürfte noch ein Nachspiel haben. Nach seiner Oeynhauser Rede waren die Reden in den anderen Städten auf eine erheblich mildere Tonart gestimmt. In den nächsten Tagen wird Münchmeyer in Paderborn reden.

Zurzeit ist die Aktion gegen die Juden im Abflauen begriffen, dem durch Befehl der Gauleitung und Brigadebefehl 65, betr. Einzelaktionen , noch nachgeholfen wurde.

Bei allen diesen Fällen bemühte sich die SA -Führung, besonders der Führer Brigade 65, die SA-Männer in der Hand und sie von Einzelaktionen fernzuhalten. Ein Verfahren dem durch strenge Strafen (Ausschluß, Degradierung, Schutzhaft) Nachdruck verschafft wurde. Der Erlaß des entsprechenden Brigadebefehls (s. Anlage) erfolgte bereits zwei Tage vor dem Erlaß eines entsprechenden Gaubefehls.

In Lage i.L. wurden in einer Nacht 24 Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof eingestürzt. Die Ermittlungen ergaben, daß das durch SS-Männer geschehen war.

Das Abblasen der Aktion gegen die Juden wurde von Parteigenossen, SA- und SS -Männern und Führern nicht verstanden und murrend aufgenommen. Nachdem jahrelang gepredigt worden ist, wie man die Juden behandeln wolle, ist jetzt die Enttäuschung da und der Pg . und SA-Mann ist verwirrt.

Die wirtschaftliche Seite der Angelegenheit ist bedenklich. Einstellung von Aufträgen und Zahlungen werden täglich von jüdischen Firmen ihren Lieferanten ins Haus geschickt unter Hinweis auf die Unmöglichkeit, den Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten. Das hat Aussicht auf die Kündigung für die Arbeiterschaft zur Folge, die dann auch von dieser Aktion durchaus nicht immer erbaut ist. Die Leinen- und Wäscheindustrie, sowie die Seidenweberei, werden im Bezirk am meisten getroffen.

Eine Anzahl Juden beabsichtigen, ihre Geschäfte aufzugeben. Über die Art, wie man solche Geschäfte weiterführen könne, etwa in Form einer GmbH, bestehend aus der Belegschaft, wurde vielfach diskutiert. Die Umsätze in den jüdischen Geschäften sind katastrophal zurückgegangen. Die (größtenteils arischen) sehen dieser Entwicklung mit Sorge entgegen.

 

SA, SS, NSKK (…)

In Bielefeld wurden am 24.8. Parteigenossen, welche eine SA-Fahne nicht grüßten, durch aus dem Zuge herauslaufende SA-Männer geschlagen; später auch zwei Holländer, von denen der eine einen größeren Auftrag in Bielefeld geben wollte. Auch hier wurde sehr scharf durchgegriffen und die Schuldigen bestraft. Dem Bemühen des stellvertretenden Standartenführers gelang es, die Holländer zu versöhnen und den Zwischenfall beizulegen. Der erst in Frage gestellte große Auftrag wurde der Firma Fischer & Krecke erteilt.

Der Brigadeführer hatte überall das größte Interesse daran, Einzelaktionen, die sich in der Judenfrage hier und da ergaben, zu unterbinden und die daran Beteiligten zur Disziplin anzuhalten und zu bestrafen. In einem Falle in Bösingfeld, in welchem ein Gendarm den Auftrag hatte, ein über die Straße gespanntes Transparent mit beleidigenden Aufschriften zu entfernen, wurde ein SA-Mann der dem Gendarm Schwierigkeiten macht, ohne weiteres wegen Disziplinarwidrigkeit ausgeschlossen. So ist festzustellen, daß in der Brigade 65 von sich aus alle getan worden ist, um gelegentlich der Judenaktion sich nicht die Führung aus der Hand nehmen zu lassen.

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