Der Landrat berichtet aus Minden
Der Landrat des Kreises Minden erstattet am 1. September 1935 folgenden Bericht für August 1935:
In den Kreisen der minderbemittelten Bevölkerung wird immer wieder darauf hingewiesen, daß zwar das Lohnniveau ziffermäßig gehalten sei, das Realeinkommen jedoch infolge der Preissteigerungen zurückgegangen sei. In diesem Zusammenhang gestatte ich mir, nochmals auf die in früheren Lageberichten bereits erörterte außerordentlich schlechte Wirtschaftslage der Tabakarbeiter aufmerksam zu machen. [...] Gelegentlich einer Besprechung in Rothenuffeln wurde mir von dem Bürgermeister erklärt, daß man es den Zigarrenarbeitern z.B. gar nicht verübeln könne, wenn sie gelegentlich ihres Aufenthaltes in der Stadt Einkäufe in den meist jüdischen Einheitspreisgeschäften tätigten; denn gerade diese müßten mit Rücksicht auf ihren sehr geringen Verdienst mit jedem Pfennig rechnen und den Vorteil, in Einheitspreisgeschäften billiger einzukaufen, wahrnehmen selbst wenn sie als Mitglieder der NSDAP den entgegenstehenden Weisungen ihres Führers und der Reichsregierung gern folgen würden. (…)
Nach dem Bericht des Bürgermeisters in Bad Oeynhausen ist von seiten ausländischer Kurgäste mehrfach Klage darüber geführt worden, daß durch Propagandaumzüge der NS-Formationen und durch Sprechchöre von Lastwagen aus die Ruhe in der Badestadt gestört wurde. Mehrfach hätten derartige Umzüge in den Mittagsstunden begonnen und erst in den späten Abendstunden aufgehört. Die ausländischen Gäste, und zwar Nichtjuden hätten erklärt, daß sie in einem Badeort, der 33 RM Kurtaxe erhebe, Ruhe und Erholung verlangten. M.E. müßte deshalb auf alle Formationen dahin eingewirkt werden, daß in Heilbädern die erwähnte laute Propaganda während der Kurzeit unterbleibt. (…)
Juden und Freimaurer
Über den allgemeinen Rahmen hinausgehende Sonderaktionen gegen Juden und jüdische Geschäfte sind nicht zur Durchführung gekommen. Nach einer Mitteilung des Leiters der hiesigen Synagogengemeinde sind in der Synagoge an der Kampstraße einige Scheiben eines bunten Glasfensters zerschlagen worden. Die Täter konnten nicht ermittelt werden, der Leiter der Gemeinde stellt sich aber selbst auf den Standpunkt, daß der Schaden sehr wahrscheinlich durch spielende Kinder herbeigeführt worden sei. Weiterhin dürfte nur noch erwähnenswert sein, daß einem auswärtigen Schiffer, der während seines Aufenthaltes in Minden das jüdische Einheitspreisgeschäft Pfingst am Wesertor aufgesucht hat, beim Verlassen des Ladengeschäftes von zwei Mindener Parteigenossen das Parteiabzeichen gewaltsam abgenommen worden ist. Der so gemaßregelte Parteigenosse hat sich darauf berufen, er habe nicht gewußt, daß der Inhaber des Einheitspreisgeschäftes Jude war.