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Chronik und Quellen
1935
Juni 1935

Bericht aus Wiesbaden

Der Regierungsräsident Wiesbaden erstattet am 1. Juli 1935 folgenden Lagebericht für Mai und Juni 1935:

Der bereits in den früheren Lageberichten erwähnte starke Einfluß des jüdischen Handels in landwirtschaftlichen Kreisen ist unverändert geblieben. Es wird von den Landwirten darüber Klage geführt, daß im arischen Handel keine Roggenkleie zu erhalten sei, während jüdische Händler in der Lage seien, mit Kleie und anderen Kraftfuttermitteln zu handeln. Die politische Leitung der Partei und die Bauernschaften versuchen selbstverständlich, diesem Übel entgegenzutreten. Die Bauern scheuen sich daher vielfach, angesichts der Öffentlichkeit mit den Juden zu handeln und schließen Ein- und Verkäufe nachts ab, manchmal sogar außerhalb der Ortschaften auf der Landstraße. Die Juden selbst werden teilweise sehr anmaßend. Auf einem Viehmarkt ist es vorgekommen, daß ein Jude von rückwärts einem SA -Sturmführer, der einen Streit schlichten wollte, ohne persönliche Veranlassung mit dem Stock einen Hieb über den Kopf versetzt hat.

Besondere Schwierigkeiten bereitet z.B. die Frage der ''nichtarischen '' Lehrer, die auf Grund der Ausnahmebestimmungen des Berufsbeamtengesetzes als Frontkämpfer u.a. im Dienst geblieben sind. Die nationalsozialistischen Eltern weigern sich, ihre Kinder in die von diesen Lehrern geführten Klassen zu schicken. Andererseits ist die Schulbehörde an die gesetzlichen Bestimmungen gebunden und müßte ''von Rechts wegen'' die jüdischen Lehrer schützen und gegen die nationalsozialistischen Eltern mit Strafen vorgehen. So unhaltbar diese Lage ist, so wenig befriedigend sind die bisher erörterten Lösungsversuche, wie die Bildung jüdischer Klassen oder jüdischer Schulen, die von der Gemeinde zu erhalten wären. Eine Lösung könnte darin gefunden werden, wenn der Staat die jüdischen Lehrer auf gesetzlichem Wege an die anerkannten jüdischen Privatschulen versetzte.

Der Jude Max Stein, von Beruf Bankangestellter, amerikanischer Staatsangehöriger, wurde in Mensfelden, wo er zum Besuch seiner Eltern weilte, von einem Reichsbahnarbeiter, der Mitglied der NSDAP ist bedroht. Stein gab zum Ausdruck, daß er diese Angelegenheit dem amerikanischen Konsulat melden werde. Es wurde Strafanzeige gefertigt und der Amtsanwaltschaft Limburg/ Lahn zugeleitet.

Über diesen Vorfall wurde bereits berichtet.

Die boykottähnlichen Abwehrmaßnahmen gegen den wirtschaftlichen Einfluß des Judentums haben sich abgesehen von den nachbenannten Fällen, in diesem Berichtsabschnitt im allgemeinen im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten gehalten.

Am 16. Juni 1935 sammelte sich anläßlich des Reichshandwerkstages in Frankfurt am Main vor dem Automatenrestaurant ''Tiroler Hof'' in der Kaiserstraße eine größere Menschenmenge an, die gegen den Inhaber des Lokals eine drohende Haltung einnahmen, da derselbe Jude ist. Die sofort nach dort entsandten Polizeibeamten zerstreuten die Menschenmenge ohne besondere Schwierigkeiten. Bald darauf erschien abermals ein neuer Trupp Handwerker unter Führung von 2 unbekannt gebliebenen Personen und versuchte unter Druck der sich angesammelten Menschenmenge die Schließung des Lokals zu erzwingen. Hierbei wurde eine Person vorläufig festgenommen. Dank der Vermittlung des Reichseinheitsverbandes der Wirtsinnung unter Führung des Parteigenossen Schultheis entschloß sich der Geschäftsführer des Automatenrestaurantes, das Lokal vorübergehend zu schließen. Dadurch wurden weitere Zwischenfälle vermieden. Am nächsten Tage konnte der Betrieb wieder geöffnet werden.

Ferner sind hier aus Homburg und Braunfels je 1 Fall bekanntgeworden, in dem Posten vor jüdischen Geschäften aufgestellt waren, um die Kunden zu photographieren. Aus Homburg wurde mir berichtet, daß diese Maßnahme im Einvernehmen mit der Partei erfolgt sei und sich nur gegen Parteigenossen richte. Gleichwohl habe ich, da es sich um eine in der Öffentlichkeit erfolgte individuelle Belästigung des Publikums handelte, das weitere Photographieren vor den jüdischen Geschäften untersagt. Es ist anzunehmen, daß die vor kurzem erfolgte Anordnung des Stellvertreters des Führers zur Wahrung der Disziplin an die Parteigenossen eine weitere Beruhigung und Unterbindung von Terrorakten gegen Juden zur Folge haben wird.

Das starke Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit wird besonders störend empfunden. Dies zeigte sich besonders in dem im Frankfurter Vorort gelegenen ''Brentano Bad'', das von zahlreichen Juden besucht wird. Dort fanden sich 150 Jugendliche, vermutlich Hitlerjugendangehörige [als] Badebesucher ein und forderten in Sprechchören die Juden auf, das Bad zu verlassen, außerdem hatten sie kleine Holzschilder angefertigt, auf denen stand: ''Jude raus'', ''Jude pack deine Koffer'' und ''Hebräer heraus'' usw. Diese Holzstückchen schwammen im Wasser. Das von der Badeverwaltung herbeigerufene Überfallkommando sorgte gemeinsam mit den Beamten des zuständigen Polizei-Reviers für Ordnung.

In verschiedenen kleineren Gemeinden des hiesigen Regierungsbezirks befinden sich jetzt Schilder in den Straßen mit den Aufschriften ''Juden sind unerwünscht'' usw. Da der Herr Reichsminister des Innern vor kurzem anordnete, daß solche Schilder nur dann polizeilich zu entfernen seien, wenn sie an Wegweisern und Richtungsschildern angebracht seien, habe ich gegen die Anbringung dieser Schilder nichts unternommen.

Im ganzen herrscht immer noch, wie ich bereits in meinem vorhergehenden Lagebericht ausführte, eine Willkür in der Verwendung von Schildern und Bezeichnungen, die sowohl arische von nichtarischen Geschäften unterscheiden sollen als auch besonders gegen Juden gerichtet sind. Es wäre erwünscht, die antijüdische Propaganda noch mehr wie bisher unter bestimmte Richtlinien zu stellen und mit der Weisung zur Innehaltung der Disziplin an sämtl. Parteidienststellen zu verknüpfen.

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