Bericht aus Stettin
Der Stettiner Regierungsräsident erstattet am 10. Juli 1935 folgenden Lagebericht für Mai und Juni 1935:
Im Monat Mai haben 26 jüdische Versammlungen stattgefunden, darunter 13 der Zionisten.
Im Monat Juni ließ die Versammlungstätigkeit der Juden erheblich nach. Von insgesamt 7 Versammlungen wurden 5 vom Israelitischen Frauenverein abgehalten. Aus dem Kreise Pyritz ist ein Fall von Zettelverteilung durch einen jüdischen Händler bekannt geworden. Es handelte sich um rote Handzettel, die ohne Angabe des Druckers Auszüge aus einer Rede des Reichswirtschaftsministers enthalten. Es heißt dort, daß Unterscheidungen zwischen arischen und nichtarischen oder nichtreinarischen Firmen innerhalb der Wirtschaft nicht für durchführbar gehalten werden. Weiter, daß eine Unterscheidung mit dem Zwecke der Boykottierung zu erheblichen Schwierigkeiten des wirtschaftlichen Wiederaufbaues führen müßte. Der betreffende Händler hat die Zettel bei Bauern vorgezeigt, um bei ihnen den Eindruck zu erwecken, daß nach den Ausführungen des Reichswirtschaftsministers keine Bedenken bestünden, weiter mit ihm in Geschäftsverbindung zu bleiben.
Die Propagandaaktion der NSDAP gegen die jüdische Gefahr wurde weiter fortgeführt. In Stettin wurden im Monat Mai verschiedentlich Zettel verteilt und an die jüdischen Geschäfte geklebt, die die Inschrift trugen ''Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter''. Es mehren sich allgemein die Fälle, daß insbesondere Zettel an jüdische Geschäfte geklebt und Plakate und Tafeln mit Inschriften wie ''Juden unerwünscht'' aufgestellt werden. Das gilt vor allem für die Badeorte der Ostseeküste und auf Rügen und bedeutet eine verständliche Reaktion der Bevölkerung auf den Zustrom der Juden in die Badeorte, von denen Heringsdorf besonders zu erwähnen ist. Dort sind z.B. Tafeln aufgestellt worden mit der Inschrift ''Deutsche Nichtarier haben zu den Veranstaltungen der Kurverwaltung und zu den Einrichtungen der Gemeinde keinen Zutritt''.
Besonders in Wolgast macht sich in letzter Zeit ein scharfes Vorgehen gegen die Juden bemerkbar. Die in jüdischen Geschäften kaufenden Personen werden, um sie vom Kauf abzuhalten, fotografiert, und den jüdischen Geschäftsleuten werden Hetzplakate an die Fenster geklebt. Dieses Vorgehen wird seit etwa 3 Wochen beobachtet, nachdem in einer Versammlung der PO ein Redner besonders scharf zum Vorgehen gegen die Juden aufgefordert haben soll. Da sich unter den jüdischen Geschäftsleuten auch ein polnischer Staatsangehöriger befindet, ist das polnische Konsulat auf eine Beschwerde dieses Geschäftsmannes bereits bei dem Landrat in Greifswald vorstellig geworden und hat um vorbeugende Maßnahmen zum Schutze des polnischen Staatsangehörigen gebeten. Die nachgeordneten Stellen sind entsprechend der Anordnung des Stellvertreters des Führers - Nr. 63/35 - vom 11. April 1935 mit Weisung versehen worden.
Wenn aus den geschilderten Vorgängen auch zu entnehmen ist, daß in weiten Bevölkerungskreisen die Erkenntnis der jüdischen Gefahr immer mehr wächst, so wird demgegenüber von mehreren Landräten berichtet, daß gerade die Landbevölkerung den Handel mit jüdischen Geschäftsleuten weiter fortsetzt, ja daß sogar eher ein gesteigertes Aufsuchen von jüdischen Geschäften zu beobachten ist. Als Begründung wird hierfür immer wieder angegeben, daß die Auswahl größer und die Waren billiger seien. In der Landwirtschaft befindet sich besonders der Pferdehandel fast ausschließlich in jüdischen Händen. Auch wird berichtet, daß die Kartoffelaufkäufer in der Mehrzahl noch Juden sind. Es wird notwendig sein, daß gerade die Bauernschaften noch in größerem Maße aufklärend wirken, um diesem Übelstand abzuhelfen. Wenn es schon schwierig ist und ständiger Aufklärung und Mühe bedarf, um die Allgemeinheit der Bevölkerung entsprechend zu erziehen und zur Einsicht zu bringen, so muß ein Vorfall, wie er sich im Kreise Randow abgespielt hat, aufs schärfste verurteilt werden. Dort hat ein Amtswalter der Arbeitsfront zum 1. Mai den jüdischen Gastwirt Heymann zum Ausschank von Bier und Verkauf von Schokolade und sonstiger Erfrischungen verpflichtet, was in den Kreisen, denen dieser Vorfall zur Kenntnis gelangt ist, allgemeine Empörung ausgelöst hat.