Bericht über Sachsenhausen
Rabbiner Dr. Nussbaum aus Berlin verfasste folgenden undatierten Bericht über die Zustände in Sachsenhausen, insbesondere über die aus dem Lager Esterwegen im Emsland übernommene Quälerei des „Rollens“ in den Oder-Havel-Kanal:
Aus zahlreichen zuverlässigen Berichten ist mir der Zustand in den verschiedenen Lagern genauestens bekannt, obwohl ich nicht verhaftet war. Ich setze voraus, dass die Misshandlungen und Drangsalierungen, denen die verhafteten Juden in den Konzentrationslagern ausgesetzt waren, bekannt sind, und will nur darauf hinweisen, dass aus einem an der holländischen Grenze in Esterwegen2 gelegenen Lager SS-Leute nach Sachsenhausen abkommandiert waren, um den dortigen SS-Leuten die Strafe des sog. Rollens beizubringen. Der Unterricht wurde ihnen an den im Lager befindlichen Juden erteilt. In der Nähe des Lagers wurde der Oderkanal gebaut, und an den Rand entlang wurden in Haft befindliche Juden gelegt, und zwar parallel zum Rande. Die SS-Leute nahmen an dieser Reihe Juden Aufstellung, marschierten vor und stießen sie mit den Füßen in den Kanal. Die Juden mussten dann innerhalb 20 Sekunden wieder oben am Ufer sein. Wenn sie später kamen, traten ihnen die SS-Leute auf die Füße und stießen sie wieder in den Kanal zurück. Keiner blieb unverletzt, die verletzten und blutenden Menschen wurden dann auf einen Haufen gelegt, der - wie mir zuverlässig bestätigt wurde - oft eineinhalb Meter hoch war. Die Leute setzten sich dann ruhig in ihren Park, der bei dem Lager war, aßen Bananen und ergötzten sich offenbar an dem Schauspiel.
Die übereinstimmenden Berichte über diese Vorgänge haben in mir den Eindruck erweckt, dass es sich um pathologischerotische Entladungen bei den jungen SS-Leuten gehandelt hat. Im Ganzen waren 3000 SS-Leute in Sachsenhausen.
Wenn der Befehl ausgegeben wurde, dass man nachmittags ins Wasser gehen sollte, wusste man gleich, dass es sich um das „Rollen“ handelte, es verbreitete sich dann eine furchtbare Panik. Eines Sonntagnachmittags wurde den Gefangenen in Sachsenhausen gesagt, sie hätten einen freien Nachmittag und sollten sich in der Nähe des Appellplatzes unterhalten, Karten spielen oder sonst etwas machen. Als sie erfreut dieser Erlaubnis entsprachen und sich zwanglos in Gruppen auf dem Platz niedergelassen hatten, erschienen ca. 50 Journalisten, denen dieses Bild humaner Behandlung im Konzentrationslager vorgeführt wurde. Gleichzeitig wurde von einem benachbarten Turm aus der ganze Platz gefilmt.
Eines Tages wurden die sämtlichen 18000 Gefangenen aufgestellt, sie sollten vor dem Kommandanten des Lagers singen; die jüdischen Gefangenen haben es nicht getan, trotzdem sie geschlagen wurden.
Als bei dem Liede „Das Wandern ist des Müllers Lust“ die Stelle kam „Die Steine selbst, so schwer sie sind“, weinten die jüdischen Gefangenen so sehr, dass ein SS-Mann, der dabeistand, sich umdrehte und selbst weinte.
In der ersten Woche mussten die Gefangenen in Sachsenhausen täglich sieben Stunden Dauerlauf machen, später mussten sie am Kanal arbeiten und im Walde.
Einem Rabbiner aus Bremen wurde in Sachsenhausen von einem SS-Mann befohlen, er solle einen jüdischen Spruch auf Hebräisch hersagen und ihn dann übersetzen. Als er darauf sagte: „Es schläft und schlummert nicht der Gott Israels“, wurde er geprügelt und gezwungen, eine Predigt über den Talmud zu halten.
Neben dem Appellplatz, wo fast täglich Gefangene nackt ausgepeitscht wurden, war ein Park für die SS-Leute, in dem sie gemütlich an Tischen saßen, tranken und rauchten. Der Lagerkommandant, der ein Tierliebhaber war, hatte hier einen kleinen zoologischen Garten angelegt und an einer Holzwand eine Reihe von Käfigen mit Vögeln, die er besonders liebte, angebracht. Darüber war ein großes Plakat mit den drei Worten:
Bitte nicht quälen!
Unmittelbar neben dem Schauplatz täglicher rohester Menschquälerei!
Die SS-Leute sind alle in Ordensburgen ausgebildet und meines Erachtens niemals für den Krieg, sondern nur für feige Misshandlungen Wehrloser geeignet.