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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über Sachsenhausen

Vermutlich Januar 1939 verfasste ein Berliner (Rechtsanwalt?) einen Bericht über die Zustände in Sachsenhausen und seine dortigen Erlebnisse in mehrwöchiger Haft, die wohl bis Ende Dezember 1938 währte:

KONZENTRATIONSLAGER SACHSENHAUSEN Ein Tatsachenbericht

Ich saß an dem verhängnisvollen 10. November nachmittags um 5 an meinem Schreibtisch, voll Unruhe wegen der von Mund zu Mund rasch bekanntgewordenen, in einigen Straßen von mir selbst beobachteten Plünderungen jüdischer Geschäfte und der Synagogenbrände, da klingelte es heftig. Draußen standen zwei Herren, deren einer sich als Kriminalbeamter durch Vorzeigen der Marke legitimierte und mir sagte, sie hätten Auftrag, mich zum Polizeipräsidium abzuholen. Auf meine Frage nach dem Grunde konnten oder wollten sie mir nichts Weiteres angeben. Meine Frau und Tochter lagen zufällig krank im Schlafzimmer. Ich bekam die Erlaubnis, es ihnen zu sagen und mir einige Sachen für die Nacht mitzunehmen, da ich nach meiner Kenntnis früherer Verhaftungsmaßnahmen sofort mit einem Verbleiben mindestens über die kommende Nacht hinaus rechnete. Die Beamten blieben vor der Schlafzimmertür stehen, um mein Gespräch kontrollieren zu können. Meine Frau, die begreiflicherweise von der Nachricht aufs äußerste erschreckt war, packte mir etwas Nachtzeug, Wäsche, Strümpfe und einen Pullover ein, ich steckte ferner 20 RM zu mir, dann gingen wir zu dritt fort.

Ich versuchte, etwas über den Grund und das Ziel der Verhaftung herauszubekommen, was jedoch nicht gelang. Die Beamten waren durchaus korrekt, aber zurückhaltend und vielleicht auch selbst über die Einzelheiten ihres Auftrages nicht unterrichtet. Wir sprachen über den Mord in Paris, sie interessierten sich für meine wirtschaftlichen Verhältnisse. Wir fuhren dann mit dem gewöhnlichen Autobus, mitten unter dem Publikum, durchaus unauffällig zum Präsidium, jeder bezahlte für sich. Unterwegs waren große Menschenmengen auf den Straßen, die die geplünderten Geschäfte neugierig betrachteten. Durch das große Tor des Präsidiums betraten wir den Hof, wo schon eine ziemliche Anzahl Menschen stand: eingelieferte Verhaftete, Kriminalbeamte, SS-Leute. Beim Durchgehen durch die Kontrolle meldeten meine Begleiter, wie ich nachher immer wieder beobachtete: Zwei Kriminalbeamte mit einem Juden (oder mit zwei Juden usw.). Gewöhnlich kamen wohl nur ein oder zwei Verhaftete mit ihren Beamten, sodass eine große Zahl Beamter für die Aktion auf-geboten worden sein muss. War der Ton der Beamten durchaus korrekt und ihr Verhalten auf der Straße mir gegenüber ganz unauffällig gewesen, so war der Ton im Hof des Präsidiums ein ganz anderer, militärisch, voll schneidender Schärfe und Hohnes gegenüber den wehrlosen verhafteten Juden. Es herrschte der Lagerton mit seiner ewigen Wiederholung des „Drecksau“, „Judenschwein“ usw., das allen Beteiligten gewiss unvergesslich im Ohr geblieben ist. Es war etwa halb 8 abends geworden. Auf dem Hof standen schon zirka 50-70 Verhaftete, alle Minuten kamen weitere.

Wir wurden, ohne dass über das weiter Geplante etwas verlautbart wurde, in Reihen zu fünf oder zehn nebeneinander aufgestellt. Einige meldeten sich unter Vorlegung von fertigen Auswanderungspapieren, um entlassen zu werden. Außer jemand, der eine fremde Staatsangehörigkeit nachwies, wurde meines Wissens keiner entlassen, auch die Berufung auf Krankheit, Kriegsbeschädigung und dergleichen nützte nichts. Man entdeckte bereits Bekannte und fühlte sich als das Opfer einer umfassenden Aktion. Ich stellte das Vorhandensein von verhältnismäßig vielen Akademikern unter der Schar im Dunklen fest.

Nach vielleicht einer weiteren halben Stunde fuhren große Polizeiautos vor, es wurde Befehl zum Einsteigen gegeben, was angesichts der hohen, nur hinten offenen Wagen - ohne Stufen - ungewandten und älteren Menschen nicht leichtfiel. Ungenügende Geschwindigkeit im Erklettern führte sofort zu energischem Nachhelfen seitens der SS in Wort und Tat. In den Autos musste man stehen (vielleicht waren an den Seiten einige Bänke) und sich aneinander oder an den Wänden halten. Es mögen 40-60 Personen dicht aneinandergedrängt in jedem Auto gefahren sein. Die Wagen fuhren durch das Berliner Zentrum und den Norden. Die Straße stand dicht voller Menschen, die die Wagenfolge beobachteten und teilweise mit Gejohle begrüßten. Je mehr wir uns von Berlin entfernten, desto mehr ahnten wir, was uns bevorstand, dass es nämlich nicht zu einer Vernehmung in ein Gefängnis ging, sondern ins Konzentrationslager. Ich fand im Wagen dicht neben mir stehend einen alten Bekannten, wir drückten uns die Hände und versprachen einander zusammenzuhalten. Ich nahm mir fest vor, alle Kräfte zusammenzunehmen, um durchzuhalten und nicht den Feinden die Freude des „Verreckens“ zu bieten.

Wir kamen um neun zirka in Sachsenhausen vor dem eisernen Lagertor an und wurden dort mit den von nun an üblichen Umgangsformen empfangen, mit dem später eintönig werdenden „Drecksau“, dem selbstverständlichen Du, der Bedrohung mit Stößen, Püffen und Maulschellen, der Verabfol gung dieser Freundlichkeiten, dem Zwang zum schnellen Laufen („Bewegung“, „Bewegung“, klingt es mir noch immer in den Ohren). Wer nicht rasch genug von dem hohen Wagen herunterkam, hatte bereits seinen Stoß weg. Keiner sah den anderen recht im Dunklen, jeder war nach dem das Lagerleben oft beherrschenden Grundsatz des „Sauve qui peut“ [„Rette sich, wer kann.“] darauf bedacht, sich vor einem Zusammenstoß mit den Sklavenaufsehern durch eiliges Laufen möglichst zu schützen. Wie viele bei dieser Gelegenheit Schläge abbekommen haben, weiß ich nicht. Wir hatten es dank der Autofahrt bis vor das Lager besser als viele andere Lagerinsassen, die von auswärts mit der Eisenbahn gekommen und, wie sie uns später erzählten, von der abseits liegenden Bahnstation im Laufschritt bis zum Lager unter Schlägen und Hetzen wie Vieh, ja sicher viel grausamer als das Vieh, getrieben worden waren.

Vom Wagen aus wurden wir durch das eiserne Tor mit der schönen schmiedeeisernen Inschrift, die wir dann täglich lasen, „Arbeit macht frei“, auf den Appellplatz gejagt und dort in Fünferreihen aufgestellt. Damit war für uns der Rest von Freiheit erloschen, den wir bisher in dem großen Konzentrationslager Deutschland noch genossen hatten. Das Lager ist rings von hohen Steinmauern, die von einem Stachelzaun gekrönt sind, und einem vorgelagerten Drahtverhau umgeben. Zaun und Drahtverhau sind, jedenfalls bei Nacht (ob auch bei Tage, weiß ich nicht genau), elektrisch geladen, die geringste Berührung führt zum Tode, und mancher Selbstmordkandidat hat dies Mittel erfolgreich benutzt, wenn er nicht vorher gefasst und dann schwer bestraft wurde. Große Wachttürme unterbrechen die Mauern; dort sind Maschinengewehre eingebaut, deren Posten unablässig das Lager kontrollieren und es nachts mit gewaltigen Scheinwerfern ableuchten, die auch die Baracken gespenstisch wie Tageslicht erhellen. Soweit Außenarbeit - außerhalb der Mauern - verrichtet wird, findet, abgesehen von der Aufsicht durch patrouillierende Posten, ein endloses, sich bei jeder Gelegenheit wiederholendes Abzählen der das Tor verlassenden und wieder zurückkehrenden Häftlinge statt, um jedes Fehlen in kürzester Frist zu entdecken. Fluchtfälle sind deshalb auch außerordentlich selten und enden regelmäßig früher oder später mit der Wiederentdeckung.

Das Gefühl dieses völlig unbestimmten und unbefristeten, von keinerlei Rechtsmittel abhängigen, nur der Willkür überlassenen Abgeschnittenseins von der Außenwelt ist für den, der es nicht erlebt hat, kaum wiederzugeben. Es lastet unaufhörlich wie ein schwerer Alpdruck auf dem Menschen, der zwar hofft, hofft und wieder hofft und doch nicht ahnt, ob und wann jemals die Stunde der Befreiung schlagen mag. Der Verbrecher, der wegen einer bestimmten Tat auf bestimmte Zeit eingesperrt ist, weiß, warum und wie lange er dort sitzt, und er kann die Dauer der Freiheitsentziehung berechnen, der „Schutzhäftling“, der, weil er nichts verbrochen hat, das zur kriminellen Strafe ausreichte, in Schutzhaft ist (Wer wird hier wovor geschützt?), steht einem Nichts gegenüber, mag er als politisch Verurteilter im Anschluss an die Verbüßung dort sein, als politisch Unzuverlässiger, für den selbst das heutige deutsche „Strafrecht“ keine Verurteilung vorsieht, als so genannter Asozialer, der vielleicht vorübergehend keine Arbeit hat und vom lieben Nachbarn oder der Partei denunziert wurde, als Bibelforscher oder als Jude, dem nichts als dieser niemals tilgbare Makel der Geburt anhaftet, der also logisch niemals seinen Verhaftungsgrund beseitigen kann. Draußen hörte man die Züge nach Berlin pfeifen und fahren. Im Lager saßen Tausende und Abertausende Menschen, Juden und Nichtjuden, zusammen ca. 14000 Personen (davon die Hälfte Juden der Novemberaktion), einem sinnlos wütenden Willkürregiment ausgeliefert, das Ganze fast unvorstellbar, inmitten einer Welt, die sich noch vor wenigen Jahren so fortgeschritten dünkte und nun die Verantwortlichen dieses Systems im internationalen Leben durchaus ästimierte, während einst ein einziger Fall solcher Justiztragödie, wie die Dreyfusaffaire, die Welt aufrütteln konnte. Doch ich bin vom Thema der Schilderung des zeitlichen Verlaufs abgekommen.

Wir standen, wie erwähnt, auf dem großen Appellplatz, groß genug, um die 14000 Lagerinsassen, die im Höhepunkt der Judenaktion das Lager umfasste, aufzunehmen. Wir standen und standen. Nach einiger Zeit wurden uns die Aktenmappen, Taschen usw. abgenommen, wir sahen sie, wie bemerkt sei, unversehrt - nur unter Fehlen etwa darin gewesener Esswaren - erst bei der Entlassung wieder. Wiederum nach einiger Zeit wurden wir in das Büro gerufen, um die Personalien zum Vermerk auf Kartothekkarten anzugeben. Der Abend verging, die Nacht kam, und wir standen noch immer, die Nacht verging, der Morgen kam, und wir standen noch immer. Wir sahen auf die große Turmuhr über dem Lagereingang, deren Zeiger immer weiter vorrückte. Die Wintersonne ging auf, es war früh, wir hatten die Nacht durchgewacht, was wir, wenn man es uns einen Tag vorher angekündigt hätte, für unmöglich gehalten hätten. Die Eintönigkeit des Wartens war nur einmal durch einen schrecklichen Vorfall unterbrochen worden: Einer der Neueingelieferten, wie es hieß ein Mathematikprofessor, dessen Nerven nicht standhielten, hatte sofort einen Konflikt mit einem der Aufseher bekommen und war wegen Widersetzlichkeit mit Hieben bestraft worden, die sofort vollzogen wurden. Schauerlich klangen die Schläge und das Wehgeschrei des Unglücklichen, der auf den Bock geschnalltwurde, durch die Nacht, er soll auch weiterhin in vielfache Konflikte geraten sein.

Wir hatten nichts zu essen bekommen, die meisten hatten seit dem letzten Mittagbrot nichts gegessen. Dieser und jener hatte im Stehen ein wenig geschlafen, andere waren ohnmächtig geworden und von Kameraden gestützt worden. Unsere Aufseher, die vor uns standen und kamen und gingen, hatten sich schon erkennbar geschieden in rohe SS-Leute, unsere „Herren“, mit entsprechenden Umgangsformen, und politische Häftlinge, unsere Leidensgefährten, die uns von Anfang an freundlich gegenübertraten und uns Verhaltensmaßregeln gaben, um die bevorstehende schwierige Situation möglichst zu meistern. Diese erlaubten uns denn auch, wenn die anderen gerade nicht zu sehen waren, ein wenig aus der Reihe zu treten und eine Notdurft zu verrichten, mehr war trotz des langen Zeitablaufs nicht möglich. Wir standen noch immer den Vormittag durch. Im Laufe des Vormittags fand die militärische Einkleidung statt. Wir wurden zu diesem Zweck in die Badebaracke des Lagers, jeweils zu zehn, glaube ich, getrieben, jeder kleinste Weg oder Schritt immer wieder im Laufen, bei Vermeidung von Stößen und Püffen. Dort hatten wir zunächst die Schmuck- und Wertsachen sowie das Geld abzugeben (Uhren, Ringe, auch Eheringe, Schlipsnadeln. Manschettenknöpfe usw.), die wir übrigens bei der Entlassung zurückbekamen. Dann mussten wir uns ausziehen und die Zivilsachen abgeben, belassen wurden uns nur Schuhe, Taschentücher und Brille. Es folgte eine flüchtige körperliche Untersuchung durch einen Sanitäter auf Haut-, besonders Geschlechtskrankheiten, die sich in rüden Formen vollzog, dann das Scheren der Haare, eine vielleicht auch hygienisch gedachte Maßnahme, die aber von vielen als schwere Ehrverletzung empfunden wurde, weiter ein kaltes Abbrausen, verstärkt durch ein als Belustigung der SS-Leute und Quälerei gedachtes, kräftiges Insgesichtspritzen aus einem starken Schlauch, umso intensiver, je weniger sich das Opfer zusammennahm und der Situation gewachsen zeigte, schließlich die Einkleidung selbst.

Die Kleidung bestand aus alten und neuen Militär- und Lager-monturen, beginnend mit guten alten Militärstoffen bis zu neuestem Ersatzstoff. Wir bekamen, natürlich nicht individuell angepasst, sondern auf gut Glück, wie die Stücke gerade lagen, eine Mütze, ein paar Strümpfe, Unterhosen, ein Hemd, einen Rock, eine Hose und ein Handtuch. Die Späterkommenden haben zum Teil keine Mützen mehr bekommen, weil es keine mehr gab, und sind wochenlang, manche bis zur Entlassung, ohne Kopfbedeckung herumgelaufen - in dieser Jahreszeit ! Ein Teil hat später, namentlich für die Außenarbeit, Dienstschuhe bekommen. Die Wäsche war zum Teil aus Baumwolle, zum Teil aus Leinen, die Strümpfe wollen, die Kleidung, je nach ihrem Alter, mehr oder weniger wetterfest. Die Mützen waren grau, blau, rot, schwarz, allen Waffengattungen entstammend, die Röcke und Hosen ebenso, zum Teil aus Mannschaffs-, z. T. aus Offiziersbeständen stammend und dann seltsam elegant an diesem Platze aussehend. Die neuen Monturen aus Ersatzstoffen waren blau und grau gestreift und wirkten wie Schlafanzüge. Das ganze machte einen höchst bunten, karnevalsartigen Eindruck, man hätte lachen mögen, wenn es nicht so ernst gewesen wäre, und manchmal hat man auch gelacht, wie denn der Humor, selbst in solcher Lage, ein guter Tröster ist. Mehr an Bekleidung haben wir während des ganzen Aufenthaltes nicht bekommen, einige Glückliche sollen während der schweren Kälteperiode, die am 15. Dezember begann, Handschuhe erhalten haben, die meisten nicht, womit die vielen Erfrierungserscheinungen aus jenen Tagen zusammenhingen.

Die Wäsche und Kleidung entbehrte vielfach der Knöpfe. Das scheint dem, der seine ordnungsmäßig gehaltene Wäsche tagtäglich anzieht, unerheblich, ist es aber durchaus nicht, und zwar aus zwei Gründen: einmal, weil Wäsche und Kleidung, die nicht schließt, den Wind viel stärker durchlässt, sodann weil das Fehlen der Knöpfe eine der beliebtesten Schikanemöglichkeiten bot. Die „Sklavenhalter“ verlangten, dass alle Knöpfe vorhanden seien, öffneten z. B. beim Appell auch stichprobenweise die Röcke, um dies nachzusehen, lieferten aber weder Knöpfe noch Nähzeug, um dem Mangel abzuhelfen. Nun besaßen wohl die Stubenältesten etwas eigenes Nähzeug, das sie opferten (das waren „Politische“!), zauberten auch einige Knöpfe herbei, es war aber viel zu wenig von allem, und so herrschte während der ganzen Zeit ein ewiger Kampf um Nadel, Zwirn und Knöpfe zur Vervollständigung der Kleidung und Wäsche, und es war ein seltsamer Anblick, wenn abends soundso viele um den einen glücklichen Besitzer von Nähzeug und Knöpfen herumsaßen und darauf warteten, heranzukommen. Allmählich lernte man die Lagersitte, von den schmutzigen Hemden und Unterhosen vor der Abgabe die Knöpfe abzureißen, um für die neuen, vermutlich knopflosen Sachen gerüstet zu sein, eine vollkommen sinnlose Angelegenheit, indem jeder bei jedem Wechsel der Wäsche alle Knöpfe neu anzunähen hatte. Hemd, Strümpfe und Handtuch wurden allwöchentlich, die Unterhosen jede zweite Woche gewechselt; in welchem Zustand sich das alles dann befand, danach fragt man lieber nicht, wenn man daran denkt, dass man in Hemd und Unterhosen allnächtlich auf dem noch zu beschreibenden Strohlager lag.

Bei der Einkleidung bekam jeder eine Nummer zum Aufnähen auf den Rock. Wir waren nur noch Nummern, was im Übrigen sein Gutes hatte, weil damit für unsere „Herren“ Name, Beruf usw., kurz, jede Individualität, die nur zu leicht Angriffsflächen geboten hätte, ausgelöscht war. Sie waren ohnehin neugierig genug und fragten oft nach Beruf, Auswanderungsziel und dergleichen. Die Nummer wurde einige Tage später ergänzt durch eine farbige Markierung, die uns als Juden der Novemberaktion kennzeichnete. Alle Lagerinsassen waren gekennzeichnet durch Nummer und Markierung, einen dreieckigen Wimpel bestimmter Farbe, der es der Aufsicht erleichtern sollte, den einzelnen Häftling als zu der einen oder anderen Kategorie gehörig zu erkennen und zu behandeln. Es gab folgende Farben:

a) Rot für die politischen Häftlinge; meist Kommunisten (darunter viele ehemalige Reichstagsabgeordnete), ein kleiner Teil Sozialdemokraten, oppositionelle evangelische Geistliche oder missliebig gewordene Nazis oder sonstige Meckerer, alle in „Schutzhaft“ im Anschluss an eine gerichtliche Verurteilung, die der Gestapo zu gering erschien oder weil irgendein Handeln oder Denken nicht zur Verurteilung ausreichte; viele von diesen waren schon jahrelang in Haft, oft seit 1933, ja sogar manche, die als Kommunisten bereits vor 1933 bestraft waren, noch länger.

b) Grün für die Berufsverbrecher; wohl wirkliche Kriminelle, die nach der Strafverbüßung heute ins Lager kommen, ein gewiss wichtiges Problem aus dem Gebiet der Sicherheitsverwahrung, nur bestimmt nicht in den Formen und mit den Mitteln des deutschen Konzentrationslagers zu lösen. Sie hatten vor der Einführung der grünen Markierung auf den Rücken ihrer Röcke mit großen schwarzen Buchstaben ihre Kennzeichnung „B.V.“ (Berufsverbrecher) aufgemalt bekommen; manche von uns hatten bei der Einkleidung solche Röcke erhalten und liefen nun mit diesem grässlichen B.V. auf dem Rücken herum.

c) Braun für die Asozialen: Asozial waren, neben wirklich asozialen Elementen (Landstreichern, Bettlern), Menschen, die vorübergehend arbeitslos waren oder sich als versteckte Gegner des Regimes um die Teilnahme am Parteileben herumgedrückt hatten oder mehr oder weniger geringfügig vorbestraft waren. Das Vorhandensein einer Vorstrafe war bekanntlich der vorgeschobene Grund für die Inhaftierung der Juden im Juni 1938 (so genannte Juniaktion) gewesen. Damals sind Leute mit harmlosen Vorstrafen (Gewerbe-Steuer- und Verkehrsdelikte aus zum Teil viele Jahre zurückliegenden Zeiten) inhaftiert worden. Ich weiß den Fall eines 67-jährigen Mannes, der wegen einer politischen Bemerkung sich in Strafverfolgung befunden hatte, die Strafe selbst infolge einer Amnestie nicht zu verbüßen brauchte und trotzdem aus diesem Grunde verhaftet wurde. Er starb nach zwei Monaten im Lager an einer Blutvergiftung, kurz bevor er entlassen werden sollte. Die Richtigkeit der Todesursache unterstellt, war dies natürlich eine Folge der vollkommen unzureichenden, auf Vernichtung statt auf Erhaltung gerichteten hygienischen Versorgung der Lager. Diese als „alte Juden“ bezeichneten Häftlinge, deren es im Lager damals noch mehrere Hundert gab, obwohl viele bereits wegen Auswanderung entlassen waren, trugen über dem braunen einen gelben Wimpel, sodass die beiden Dreiecke zusammen den „Mogen Dovid“ ergaben,

d) Die Farben Rosa, Blau, Lila verteilten sich auf die Homosexuellen, die Bibelforscher und die Remigranten (deutsche, arische Rückwanderer, die nicht zuverlässig erschienen); von ihnen wurden die Bibelforscher besonders hart angefasst, indem ihnen harte Beschränkungen im Verkehr mit den anderen Lagerinsassen, im Postverkehr und in der Kantinenbenutzung auferlegt wurden. Sie waren durch nichts in ihrer Überzeugung zu erschüttern und lehnten ihnen zugemutete Verpflichtungen bezüglich der Anerkennung des Vorrangs des Nationalsozialismus vor ihrem Glaubensbekenntnis hartnäckig ab. Die deutschen Konzentrationslager bergen viele echte Märtyrer aus allen möglichen politischen, konfessionellen und anderen Gruppen.

Wir, die Juden der Novemberaktion, bekamen neben der Nummer einen roten und gelben Wimpel, zwei kreuzweise übereinanderzunähende Dreiecke, offenbar das Symbol unserer gleichzeitig politischen und „rassischen“ Minderwertigkeit und Unzuverlässigkeit. Die als „Mogen Dovid“ zusammenzufügende Markierung wurde uns im Laufe der ersten Wochen, zunächst auf die Röcke, später auch auf die Hosen, von dazu abkommandierten Lagerschneidern (dies waren auch Häftlinge) mit der Maschine aufgenäht. Dieses rotgelbe Farbenbild beherrschte dann, dank seiner Massenhaftigkeit (6-7000), das Lager, zumal die noch kräftigen frischen Farben überall hell leuchteten.

Die Einkleidung war die letzte Unterbrechung des dauernden Stehens, das seit dem Abend unserer Einlieferung dauerte. Endlich, es war wohl 4-5 Uhr nachmittags geworden, wurden wir in die uns zugeteilten Baracken geführt, wo wir dann, zirka 24 Stunden nach der Verhaftung, die erste Mahlzeit bekamen, das übliche Eintopfgericht aus dem Napf, wie es vielen von uns aus der Militärzeit her noch in Erinnerung war. Das ganze Warten war natürlich eine beabsichtigte Quälerei gewesen, denn - selbst die technischen Schwierigkeiten einer solchen Massenaufnahme zugegeben - es wäre ohne weiteres möglich gewesen, die Ankömmlinge in den leeren Baracken warten und sich hinlegen zu lassen.

Wir Juden waren in einer Zahl räumlich zusammenhängender Baracken, „Blocks“ genannt, untergebracht, gesondert von den übrigen Lagerinsassen. Um den Lagerappellplatz herum befanden sich wohl 50-60 Baracken, jeweils mehrere hintereinander, in denen die Häftlinge hausten. Weiterhin gab es in dem riesigen Lager Baracken für die Küche, für die Materialien (Bekleidung usw.), für die Büros, die Sanitätsbaracke, die Badebaracke, sodann die natürlich gut ausgestatteten Unterkunftsräume für die wohl weit über 1000 Mann Wachtposten, behagliche, komfortable Häuschen für die Herren SS-Führer in ihren verschiedenen Chargen bis zum Lagerkommandanten aufwärts. Jeder Block bestand aus zwei Flügeln A und B, jeder Flügel aus einem großen Schlafraum und einem Tagesraum, dazwischen lag für beide Teile gemeinsam der Waschraum und die Toilettenanlage. In dem Schlafraum wurden ca. je 140 Mann, buchstäblich wie die Heringe zusammengepresst, einquartiert. Wir lagen auf Stroh, auf dem dünne baumwollene Decken abends ausgebreitet wurden, die bei Tage in einer Ecke aufeinandergeschichtet wurden. Zum Zudecken erhielten wir jeder eine Decke, zeitweilig bekam ein Teil zwei, wenn Decken durch Abgänge überzählig waren und der Raum noch nicht wieder aufgefüllt war. Die Decken waren von sehr verschiedener Qualität, gute und schlechte, dünne und stärkere. Sie wurden abends ausgeteilt und morgens wieder aufgestapelt; da sie nicht individuell vergeben und behalten wurden, entstand unabänderlich ein hygienisch für den Außenstehenden schwer vorstellbarer Kommunismus der Deckenverwendung, an den man sich „nolens volens“ [„Ob man will oder nicht.“] gewöhnen musste.

Wir lagen in fünf Reihen von durchschnittlich 28 Mann, meist Rücken an Rücken, nicht Rücken neben Rücken, sodass jeder Wechsel in der Lage nur möglich war, wenn auch die Nachbarn ihre Lage wechselten oder man sich mühsam erhob und andersherum runterfallen ließ. Als Entlassungen nach einiger Zeit einsetzten, wurde die Belegung zeitweilig dünner, doch wurden die Baracken dann nach einigen Tagen wieder aufgefüllt und mehrere Blocks zusammengelegt, sodass der Pökelzustand wieder eintrat. Im Zustand stärkster Belegung gab es keinerlei Weg durch den Schlafraum, sodass die nicht geringe Zahl derer, die nachts austreten mussten, über die Köpfe und Beine der Schläfer hinweg zur Toilette durchbalancieren musste, was natürlich der Ruhe und dem Schlaf nicht zuträglich war. Wir mussten im Allgemeinen um 7 Uhr schlafen gehen, die meisten legten sich gern früher hin, das Schlafbedürfnis und die Unmöglichkeit anderweitiger Beschäftigung war so groß, dass alle diese doch an spätes Schlafengehen gewöhnten Menschen rasch sich der veränderten Lebensweise anpassten. Wohl um 8 Uhr wurde nach dem unvermeidlichen mehrmaligen Abzählen und Kontrollieren, ob auch alles da sei, dunkel gemacht. Jeder hatte seinen festen Schlafplatz, wie er durch Zufall entstanden war. Die am häufigsten nachts austreten mussten, wurden möglichst an den Ausgang gelegt. Um 5 Uhr früh, später um halb 6, wurde geweckt. Die Nacht dauerte also erheblich länger als im Zivilleben; das vermehrte bei dem Fehlen von Uhren und der Unmöglichkeit zu wissen, wie spät es war, wenn man in der Nacht aufwachte, die quälende Ungewissheit, die man sich nicht vorstellen kann, wenn man auch nachts mit größter Selbstverständlichkeit zur Uhr greift. Zum Schlafen musste man Rock, Hosen und Strümpfe ausziehen, Hemd und Unterhosen anbehalten. Die ausgezogenen Teile bildeten das Kopfkissen, die Stiefel zuunterst, darüber die anderen Stücke. Im Tagesraum waren weitere 15-25 Menschen untergebracht, anfänglich auf der bloßen Erde, später auf Strohsäcken. Die Unterbringung auf dem Strohlager war bei alledem noch angenehmer als die bei einem Teil der Dauerhäftlinge übliche Unterbringung in übereinanderstehenden Militärbetten. Bei diesen gab die beim deutschen Militär stets beliebte Art des „Bettenbauens“, d. h. der schnurgeraden Ausbreitung und des streng rechtwinkligen Ausstopfens von Strohsäcken, Laken, Decken, Kopfkissen, eine bequeme Handhabe zu Schikanen jeglicher Art, [indem] die Vorgesetzten die Betten immer wieder zerstörten und sie neu herrichten ließen. Auf diese Weise wurden die Opfer dieser Behandlung des letzten Restes dienstfreier Zeit beraubt und bis aufs Blut gequält.

Der Waschraum und die Toilette, zwischen den beiden Flügeln des Blockes gelegen, waren an sich hygienisch in Ordnung. Der Waschraum enthielt acht bis zehn Fußbecken und zwei große runde Waschbecken mit je acht Wasserhähnen ringsherum, die Toiletten hatten acht oder zehn Sitze und sechs kleine Becken, alles mit Wasserspülung. Nur waren beide Einrichtungen für 340-350 Personen viel zu knapp, und ihre Benutzung brachte außerordentliche Schwierigkeiten mit sich. Anfänglich war ca. 1 ½ Stunde für Aufstehen, Waschen und Frühstücken vorgesehen, später wurde aus einem unerfindlichen Grunde das Aufstehen erst eine halbe Stunde später erlaubt und drängten sich alle jene Teile entsprechend zusammen.

Zu frühes Aufstehen war streng verboten, aber wehe dem, der nicht sofort, wenn das elektrische Licht, das Zeichen des Weckens, im Schlafraum anging, stand! Wenn es gerade einem der Peiniger gefiel, das Aufstehen zu kontrollieren, hatte solch unglückseliger Mensch sofort seine Maulschellen weg! Eines Tages wurde ein Mann hoch in den 60 Jahren aus solchem Anlass schwer geohrfeigt, obwohl er auf irgendein aus dem Krieg stammendes, ihn behinderndes Leiden hinwies. Es klatschte nur so auf den unglücklichen Menschen! Man fuhr sofort in die Strümpfe, Schuhe, Hosen, nahm den Rock unter den Arm, tat die Mütze in die Hosen oder den Rock und stürmte auf den schmalen Gang los, der vom einen zum anderen Flügel führte und von dem sich Toilette und Waschraum abzweigten. Ein Teil benutzte erst die Toilette, ein anderer erst den Waschraum. In der Toilette „stand“ man vor den Sitzen in vier bis fünf Reihen „an“, so viel der enge Raum nur an Menschen fassen konnte. Da es nun nicht jedermanns Sache ist, sein Bedürfnis vor einer so großen, auf Eile drängenden Öffentlichkeit zu verrichten, ergaben sich allerhand physiologische Schwierigkeiten, anstatt Beschleunigung gerade Verlangsamung, darum umso stärkeres Treiben der anderen, kurz eine gesteigerte Nervosität. Leute mit unregelmäßiger Verdauung litten hier schwer. Das gleiche Gewühl herrschte im Waschraum, das Waschen musste, was an sich berechtigt war, mit bloßem Oberkörper stattfmden. Wehe dem, der gegen diese Anordnung verstieß und dabei von einem der Aufseher betroffen wurde!

Ein schwieriges Problem war, wenigstens in der ersten Zeit, die Sicherung des individuellen Handtuchs. Anfänglich wurden die Handtücher ohne Kennzeichnung an Nägeln im Schlafraum aufgehängt und natürlich vollkommen durcheinandergebracht. Dann wurden kleine Stücke Pappe zum Aufschreiben der Nummer und Bindfaden zum Befestigen verteilt. Trotzdem wurde dieser nicht verschlossene Eigenbesitz eine ganze Weile nicht anerkannt. Wer konnte kontrollieren, ob sich jemand ein fremdes, noch sauberes Handtuch nahm, wenn seines bereits schmutzig, vielleicht zu einem Fußbad benutzt war. Es dauerte lange, bis sich hier die notwendige gegenseitige Rücksicht durchsetzte. Man konnte off Betrachtungen über die Rücksichtslosigkeit auch der doch so aufeinander angewiesenen Juden anstellen. Es ist überhaupt ein sozialpsychologisch interessantes Kapitel, wieweit Notzustände dieser Art den Egoismus oder den Altruismus fördern.

Einmal in der Woche wurde die einzige erfreuliche Lagereinrichtung, die Brausegelegenheit, benutzt. In der Badebaracke waren 100 Brausen angebracht, reihenweise nebeneinander, die ein wirklich schönes heißes Bad ersetzten. Im rasenden Tempo mussten wir uns in dem anstoßenden Kleiderraum ausziehen, dann wurde für je 100 Mann dies Brausebad, für das man ein kleines Stückchen Seife bekam, sieben Minuten lang verabfolgt unter Assistenz freundlicher politischer Häftlinge, die das Bad verwalteten; ebenso schnell musste das Anziehen vonstatten gehen, um dem nächsten Trupp Platz zu machen. Wie die Verhältnisse nun einmal lagen, musste man diese stramme Organisation einsehen, wenn anders die Reinigung allen Häftlingen einmal wöchentlich zuteilwerden sollte.

In das Gebiet der körperlichen Reinigung gehört auch das Haarschneiden und Rasieren. Es wurde streng darauf gesehen, dass die Haare in ganz kurzen Abständen vollkommen geschoren wurden, sowie nach preußischer Militärsitte auf regelmäßiges Rasieren geachtet. Beides geschah umsonst durch dazu abkommandierte Häftlinge, natürlich außerhalb der Dienstzeit. Wer zu lange Haare hatte oder einen zu üppigen Bartwuchs, hatte sofort einen erheblichen Anschnauzer oder Ohrfeigen beim Appell zu gewärtigen.

Wir waren am Donnerstagabend eingeliefert worden, hatten bis Freitagnachmittag gestanden und schliefen nun zum ersten Male in der Nacht zum Sonnabend in dieser modernen Sklaverei. Der Sonnabend und Sonntag waren noch arbeitsfrei, im Übrigen kennt das Konzentrationslager keinen Sonntag, es wird Tag für Tag gearbeitet. An diesen beiden Tagen wurde zum Teil unter dem Befehl der Blockältesten auf den Lagerstraßen zwischen den Baracken exerziert. Innerhalb der „Judenblocks“ durfte man sich im Allgemeinen, soweit der Dienst es zuließ, auf der Straße bewegen. In andere Blocks hineinzugehen war verboten, doch wurde das Verbot nicht genau beachtet. An diesen Tagen kamen noch immer neue Trupps von Juden aus der Provinz im Lager an. Wir sahen immer neue Menschen auf dem Appellplatz stehen, die zum Teil weniger, zum Teil noch länger als wir warten mussten. Das Lager füllte sich rasch mit den Objekten der Aktion.

Die aus der Provinz eingelieferten Leidensgefährten hatten, wie sie uns später erzählten, oft noch viel unangenehmere Tage hinter sich als wir. Sie waren in den kleinen und mittleren Orten nicht in den äußerlich korrekten Formen verhaftet worden wie wir in Berlin, sondern von plündernden SA-Trupps einfach fortgeschleppt worden, aus der Wohnung, nachts aus den Betten, aus dem Büro, vom Bau, wie sie gerade gingen und standen, in Arbeitskleidung, oft ohne Mantel und Hut. Sie waren in zentral gelegene Polizeidirektionen zunächst eingeliefert worden, hatten dort tagelang zugebracht und waren dann in mehrtägiger Eisenbahnfahrt hergekommen, bereits übermüdet, wenig oder nicht gespeist, oft ohne Geld, das ihnen unterwegs abgenommen worden war. So standen sie, Alte und Junge, Männer aus allen Landesteilen auf dem Appellplatz und warteten auf ihre Abfertigung, genau wie wir gewartet hatten. Von ihnen erfuhren wir allmählich die Größe der Katastrophe aus ganz Deutschland, hörten, wie überall die Synagogen niedergebrannt waren, Hab und Gut zertrümmert, auch die Frauen und Kinder aus den Wohnungen gejagt. Manche Trupps mussten zwangsweise Schilder mit sich tragen, die mit Vorliebe den Rabbinern in die Hände gedrückt waren, mit Aufschriften wie: „Die Juden sind unser Unglück“ oder „Wir sind das auserwählte Volk“. Ob die Schilder aus der Heimat mitgebracht oder im Lager aufgezwungen waren, weiß ich nicht, ich glaube, Ersteres war der Fall.

Ein Vorfall an dem sonst leidlichen ersten Sonnabend zeigte uns, wo wir waren. Wir machten in kleinen Trupps Marschübungen, als es einem der SS-Führer einfiel, der gerade des Weges kam, meine Abteilung in der tiefen Kniebeuge im Kreise herum „hüpfen“ zu lassen, eine der beliebtesten Quäl-methoden, wie wir es öfters nachher an Einzelfällen sahen. Er stellte sich in die Mitte, kommandierte und zählte, und wir mussten in Fünferreihen „hüpfen“, immer wieder herum, immer weiter, immer schneller, immer schneller, im Takt, so sehr auch die dessen ungewohnten Glieder schmerzten und zu versagen drohten. Wir pressten uns ängstlich nebeneinander und hintereinander, stützten uns gegenseitig, verkrochen uns vor den Blicken des Peinigers, richteten uns ein wenig hoch, wenn er den einen oder den anderen, der ihm auffiel, besonders auf das Korn nahm und dadurch von der Menge abgelenkt war.

Hier wie stets im Lager waren es dicke, unbeholfene oder besonders „jüdisch“ aussehende Typen, die am meisten zu leiden hatten. Unsere Peiniger kannten scheinbar den Juden nur aus dem „Stürmer“ und dem „Schwarzen Korps“, in deren Jargon sie andauernd redeten und deren Worte zu Taten zu machen sie sorgfältig bemüht waren, und sie stürzten sich auf jeden, der sie an die Bilder dieser Blätter irgendwie erinnerte. Solch ein dicker Mann in mittleren Jahren war unter uns, er kam begreiflicherweise bei dem Hüpfen noch weit schwerer mit als der Durchschnitt, so holte ihn unser Henker aus unserer Mitte heraus und ließ ihn für sich allein „hüpfen“. Da er versagte, bekam er andauernd Stöße ins Gesäß, er winselte wie ein Hund um Mitleid, natürlich ohne Erfolg, fiel um, wurde mit Stößen wieder hochgetrieben, und es ging weiter. Wir glaubten, dass ihm etwas zustoßen würde, aber er war wohl mit dem Herzen in Ordnung, und so hat er anscheinend keine weitere Schädigung von der Quälerei davongetragen. Wie lange das „Hüpfen“ ging, weiß ich nicht, uns schien es endlos, bis unser Peiniger genug hatte und uns entließ. Gott sei Dank hatten wir Glück, und das hat sich an uns nicht wiederholt.

Das war am Sonnabendnachmittag gewesen. Am nächsten Tag, am Sonntagnachmittag, durften wir uns, wie erwähnt, auf den Lagerstraßen, innerhalb der Judenblocks, bewegen, und so gingen wir - es war herrliches mildes Wetter - auf die Suche nach Bekannten.

Wir merkten nun erst von Mund zu Mund, von Angesicht zu Angesicht, den Umfang der Aktion, deren Objekt wir waren. Man entdeckte rasch Bekannte, man stellte fest, aus welchen Landesteilen die Einlieferung nach Sachsenhausen erfolgt war (Nord- und Ostdeutschland, z. T. auch Westdeutschland). Man richtete sich einer am anderen auf. Man sah, dass anscheinend in den Großstädten Berlin und Hamburg die akademischen und höheren kaufmännischen Schichten besonders bedacht waren, während in den kleinen und mittleren Orten die Fortführung fast ausnahmslos, off wirklich ausnahmslos stattgefunden hatte. Zahlreiche frühere Richter, vom Amtsgericht bis zum Reichsgericht, Lehrer jeglicher Kategorie, Rechtsanwälte, viele Ärzte, zugelassene und nicht zugelassene, zahlreiche Rabbiner und andere Kultusbeamte, Großkaufleute und Bankiers, die Funktionäre der jüdischen Gemeinden und Organisationen bis zur Reichsvertretung hinauf, Redakteure der jüdischen Presse, freie Schriftsteller, Künstler, Schauspieler steckten in der seltsam bunten Sklaventracht. Brüder, Väter und Söhne, die von ihrem gegenseitigen Schicksal seit dem Unglückstag des 10. November nichts mehr gewusst hatten, sogar wenn sie am gleichen Orte gewesen waren, entdeckten sich oft mit Hilfe dritter Personen im Lager. Man erfuhr aus dem Munde der leitenden Personen des jüdischen Lebens, dass die Gemeinden und Organisationen durch Verbot und Schließung am Vormittag des 10. November bereits lahmgelegt waren. Man hörte von der gewaltsamen Schließung der Hachscharahstellen und der Inhaftierung der dort gewesenen Jugendlichen. Die gesprochene Zeitung gab sofort ein Bild von der Gesamtsituation der Juden in Deutschland, es entwickelte sich, wie jemand es nannte, eine „Nachrichtenbörse“ mit allerhand Vermutungen über unser weiteres Schicksal, über das Verhalten des Auslandes usw. Die Stimmung schwankte zwischen schwärzestem Pessimismus und gemäßigtem Optimismus in der uns allein interessierenden Frage des „Wie lange?“.

Dabei waren an jenem Tage noch längst nicht alle Juden, die für das Lager bestimmt waren, eingeliefert, noch tagelang kamen die Trupps an, die letzten waren wohl 300, im Lager rasch als „Sudetendeutsche“ bezeichnete, Juden aus dem eben abgetretenen deutschen Gebiete der Tschechoslowakei, vielleicht die unglücklichsten, jedenfalls die unerwartetsten Objekte der Aktion, Menschen, die zum Teil noch einige Wochen vorher in tschechischem Heeresdienst gestanden hatten, die bis März dieses Jahres optionsberechtigt waren und nun binnen vier Wochen einen materiellen und seelischen Zusammenbruch erlebt hatten, der noch über das Schicksal der Österreicher im vorigen Jahre hinausging. Altersmäßig waren so ziemlich alle Gruppen vom 14. Jahr bis (nach zuverlässigster Quelle) zum 82. Jahr, einem „Sudetendeutschen“, vertreten. Der 14-Jährige war mit seinem Vater eingeliefert worden. Die Lagerkartothek, falls sieje zugänglich wird, würde zeigen, wie groß der Prozentsatz der über 60-Jährigen war.

Da die Verhaftungen nicht unter dem für die gerichtliche Inhaftierung maßgeblichen Gesichtspunkt der körperlichen Haftfähigkeit, sondern blindlings erfolgt waren, so waren auch Kranke jeglicher Art eingeliefert worden, Menschen mit schweren inneren Leiden, mit gelähmten Gliedern (Armen und Beinen), geistig zurückgebliebene Personen, sogar ein Zwerg war darunter, mit dem, nach dem Bericht eines glaubwürdigen Zeugen, die rohen SS-Leute einmal Ball spielten, indem sie ihn hin und her warfen. Der Appellplatz bot off ein Bild des Jammers, wenn man - von allem anderen abgesehen - solche kranke und behinderte Menschen sich dorthin schleppen oder geschleppt werden sah. Die Abstellung auf die in Deutschland üblichen rassischen Grundsätze hatte natürlich auch die Inhaftierung vieler Juden im Sinne der Nürnberger Gesetze zur Folge, die anderen Religionsgemeinschaften angehören. So waren auch einige bekannte evangelische Pfarrerjüdischer Rassenzugehörigkeit im Lager.

Eine unserer größten Sorgen von Anfang an war: „Wissen unsere Angehörigen, wo wir sind? Wann werden wir sie benachrichtigen können? Wie mag es ihnen gehen? Was werden wir ihnen schreiben können, um für unsere Freilassung zu wirken?“ Viele von uns wussten aus früheren Aktionen, dass der stärkste Grund zur Freilassung bei den Juden immer der Nachweis der Auswanderung war. Andere erhofften von den in Gang befindlichen Geschäftsarisierungen, der Abwicklung der Anwaltspraxis (das Ende der jüdischen Anwaltschaft stand zum 1. Dezember unmittelbar [bejvor), von der Dispo-nierung der Gelder für die nach wenigen Tagen auch im Lager bekanntgewordene Judenkontribution ihr Heil.

Zu den seelisch zermürbendsten Einrichtungen des Lagers gehört die geradezu teuflische Regelung des beiderseitigen Postverkehrs, vom und zum Lager, zermürbend sowohl für die Häftlinge wie für die Angehörigen, ja vielleicht für Letztere noch mehr, weil der Inhaftierte ja in jeder Minute weiß, wie es ihm geht, dass er „lebt“, die Angehörigen aber jeweils erst nach geraumer Zeit erfahren, dass der Inhaftierte an jenem zurückliegenden Zeitpunkt „noch gelebt hat“. Wir bekamen zum ersten Mal am zweiten Sonntag, zehn Tage nach der Verhaftung (20. November), die Erlaubnis, eine Postkarte nach Hause zu schicken. Nach der Erzählung älterer Häftlinge war das besonders früh, im Allgemeinen bestand zunächst bei Inhaftierungen eine vierwöchige völlige Postsperre. Kameraden, die mit größeren Geldbeträgen eingeliefert waren, hatten das Geld für die Karten, Marken sowie die Anschaffung von Federhaltern, Tinte und Federn zur Verfügung stellen dürfen, sodass niemand vom Schreiben aus diesem Grunde ausgeschlossen war. Die Postkarten waren liniert, die Linien mussten genau beachtet werden. Die Mitteilung von Einzelheiten über das Lager war verboten, ebenso die Bezugnahme auf Bekannte, die man dort getroffen hatte; der Inhalt durfte familiäre, geschäftliche und Auswanderungssachen betreffen. Es hätte wohl auch von selbst niemand gewagt, irgendetwas von seinem inneren Empfinden der Lagerzensur preiszugeben. Es wurde in Gruppen von 15 oder 20 (so viel, wie Federhalter angeschafft waren) geschrieben, die Zeit war genau berechnet, damit jeder herankam. Die Karte enthielt den Vordruck, dass jeweils alle zwei Wochen eine Karte oder ein Brief geschrieben oder empfangen werden durfte. Man kann sich das Gefühl vorstellen, in dem die Karte geschrieben, der Termin des Empfanges und der Antwort abgeschätzt wurde. Die Karten sind, wie man später aus den Antworten ersah, am kommenden Freitag ca., also 15 Tage nach der Verhaftung, in den Händen der Empfänger gewesen. So lange Zeit hatte die Lagerzensur zur Genehmigung gebraucht.

Erstaunlicherweise wurden bereits in der zweiten und dritten Woche einige Postsachen an die Häftlinge ausgeliefert, aber keineswegs alle, die von Angehörigen aufs Geratewohl abgeschickt waren. (In Berlin war inzwischen der Ort des Lagers durchgesickert.) Ebenso hatten einige findige Ehefrauen Notare ins Lager geschickt, um Bankvollmachten und ähnliche Urkunden ausstellen zu lassen und auf diese Weise ein erstes Lebenszeichen zu geben und zu erhalten. Tatsächlich wurden die in Betracht kommenden Häftlinge zu diesen Notaren gelassen. Das wurde nach einiger Zeit meines Wissens dahin ab-geändert, dass nur noch ein einziger Notar aus der Nachbarschaft des Lagers für diese Akte zugelassen wurde. Auch diese kleinen Züge, wie das ausnahmsweise Aushändigen von Postsachen, die noch keine Antwort auf unsere erste Post darstellten, waren in den Augen der übrigen Lagerinsassen besondere Vergünstigungen für uns Juden, wie sie denn uns in Gesprächen bei der Arbeit immer wieder versicherten, unsere, uns schon reichlich barbarisch vorkommende Behandlung sei „sanatoriumsartig“, verglichen mit der Behandlung der Opfer anderer Aktionen, besonders der so genannten „alten Juden“ aus dem Juni 1938!

Die Antworten auf unsere ersten Postkarten vom 20. November, die am 25. November etwa beim Empfänger anlangten, kamen erst vom Ende der folgenden Woche ab (das war der 3. Dezember) ganz allmählich in unsere Hände, obwohl die Angehörigen sicher sofort erwidert hatten. Die Lagerzensur ließ sich Zeit, die 6-7000 Antworten durchzusehen. Der Hauptverteilungstag für Post war der Sonnabend, wenn dies auch - jedenfalls bei uns - nicht streng eingehalten wurde. So geschah es, dass die Verteilung der Antworten auf unsere erste Nachricht sich mehrere Wochen hinzog. Manche, die nach drei bis fünf Wochen entlassen wurden, hatten überhaupt noch keine Antwort ausgehändigt bekommen und verzehrten sich in banger Sorge, was wohl aus den Angehörigen, ihren Wohnungen, ihren Geschäften usw. geworden sein mochte, und sie trösteten sich nur damit, dass es anderen auch so ging, also das Schweigen kein besonders schlechtes Zeichen zu sein brauchte. Übrigens geschah die Auslieferung der Post auch nicht immer vollständig, mir wurde z. B. nur ein Teil eines Briefes ausgehändigt, der andere Teil war abgerissen.

Der 4. Dezember war der zweite Schreibtag, an dem die meisten noch keine Antwort auf ihr erstes Schreiben besaßen. An diesem Tag durfte nach Wahl ein Brief oder eine Karte geschrieben werden, plötzlich wurde, angeblich wegen Zeitmangels, in einigen Blocks nur der eine Flügel zum Schreiben herangelassen, der andere Flügel auf den nächsten Sonntag verlegt, also drei Wochen Abstand. Was machte es den „Herren“ aus, dass solche Anordnung neue Unruhe, neues seelisches Leid für die Betroffenen schuf! War das nicht gerade der Zweck des Lagers und aller einzelnen Maßnahmen? Die Juden im Lager und draußen sollten mürbe gemacht, auswanderungsreif werden, und dieser Zweck ist ja auch wie durch keine frühere Maßnahme erreicht worden. Viele, die schreiben durften, wählten nur eine Karte, in der vielleicht berechtigten Annahme, dass eine Karte schneller die Zensur passierte. Von den Briefen wurde einige Tage danach eine Anzahl als nicht genehmigt zurückgegeben. Warum, wurde nicht gesagt. Den Schreibern war die Gelegenheit eines Lebenszeichens auf diese Weise für eine Schreibperiode abgeschnitten.

Die regelmäßige Beschränkung des Postverkehrs auf eine Nachricht in zwei Wochen in den Lagern hatte die Folge, dass, wenn von mehreren Seiten Post für den gleichen Empfänger eingeht, es reiner Zufall ist, welche Postsache er ausgehändigt bekommt. Irgendein gut gemeinter Brief eines Freundes oder eines Verwandten kann also dem Brief der Ehefrau oder der Kinder zum Schaden gereichen, ein wahrhaft unmenschliches System. Vereinzelt schickten Ehefrauen, die über diesen ganzen langsamen und unzuverlässigen Postverkehr unterrichtet waren, Telegramme mit wichtigen Nachrichten, vielleicht auch um ein Lebenszeichen zu geben. Zunächst wurden die Telegramme rasch ausgehändigt, dann verlangsamten auch sie sich, als man „oben“ wohl merkte, dass die Zahl wuchs, schließlich sind sie anscheinend überhaupt nicht mehr oder auch nicht schneller als andere Postsachen verteilt worden. Der Leser mag diese genaue Schilderung entschuldigen, wenn er sich vorstellt, welche Bedeutung in solcher Lage jedes Lebenszeichen gewinnt. Niemand ahnt im Alltag, was es heißt, Schreiben und Antwort im innerdeutschen Postverkehr erst im Laufe von Wochen austauschen zu können. Aber die Familien, die dies durchgekostet haben, werden es bestimmt nie vergessen.

Die innere Organisation der Baracken war derart, dass jeder Block einem SS-Blockführer unterstand, sozusagen als dem Offizier, die laufende Aufsicht war einem Blockältesten übertragen, der im Tagesraum eines Flügels wohnte, d.h. schlief und einen kleinen Schrank hatte, und hierbei durch einen im Tagesraum des anderen Flügels ebenso wohnenden Stubenältesten unterstützt wurde; beide Älteste waren bei den Juden regelmäßig zwei „Rote“ (d.h., siehe oben, politische Häftlinge); außer ihnen gab es - ebenfalls „Rote“ - einen Blockschreiber und einen oder mehrere Häftlinge als Stubendienst; das waren sozusagen die Feldwebel und Unteroffiziere der Baracke. Sie haben in den meisten Fällen sich bemüht, durch gütiges Zureden, das allerdings manchmal gegenüber unvernünftigen Elementen nicht ausreichte und durch Energie verstärkt werden musste, die schwere Situation, wenigstens in den Baracken, erträglich zu gestalten und Maßnahmen des Blockführers zu vermeiden.

Für das ganze Lagerleben, insbesondere auch für das Leben in der Baracke, galt der alte militärische Grundsatz: Nicht auffallen, nicht erst Konflikte, für die ja der geringste Anlass ausreichte, heraufbeschwören und dies durch Nachexerzieren und sonstige Einzel- sowie Kollektivstrafen büßen müssen. Bald war eine Baracke zu laut - bei 170 Mann musste ein gewisses Geräusch bei noch so leiser Unterhaltung entstehen, außerdem führte die Erregung und Reizbarkeit, dazu die qualvoll fürchterliche Enge und der Mangel an Sitzgelegenheit aus der ganzen Situation heraus zu vielerlei Reibungen untereinander und nervösen Ausbrüchen. Bald waren Essnäpfe und Trinkbecher nicht sauber genug ausgespült - das Reinigungssystem wechselte fortwährend, war auch in den verschiedenen Blocks verschieden, eine Weile musste jeder seine Sachen allein ausspülen, dann wurden weitere Leute unter uns selbst zum Stubendienst auch für solche Reinigungszwecke herangezogen, danach wieder diese Heranziehung verboten. Natürlich sind auch Juden nicht alle Engel, und es gab mehr oder weniger saubere, mehr oder wenige fixe, mehr oder weniger erzogene Elemente, und diese „minderen“ konnten im Handumdrehen mehrstündiges nächtliches Exerzieren oder Am-Tor-Stehen, eine beliebte Strafe für Einzelne wie für größere Abteilungen, verursachen, womöglich - auch dies kam vor -ohne Schuhe, auf bloßen Strümpfen und ohne Rock, oder im bloßen Hemd und Unterhosen. Immer wieder baten die Blockältesten um Vernunft, um uns ein nächtliches Herausgeholtwerden aus dem Schlaf, wie es oft genug vorgekommen ist, zu ersparen. Sie waren der Puffer zwischen Blockführer und uns, und sie hatten natürlich auch nicht Lust, um der unvernünftigen Barackenbelegschaft willen vielleicht selbst mit Strafe belegt zu werden, und beim Nachtexerzieren mussten sie auch mit hinaus.

Mit der neuen Woche ab Montag, den 14. November, begann auch für die Juden das normale Lagerleben, wie es für alle übrigen Lagerinsassen bestand: Appell - Dienst - Appell. Morgens um halb 7, mit dunkler werdender Jahreszeit etwas später, Gesamtappell des ganzen Lagers auf dem großen Appellplatz: Anfänglich mittags der gleiche Gesamtappell mit Ausnahme derjenigen, die entfernte Außenarbeit machten und von Anfang an durcharbeiteten; später, als wegen der Jahreszeit durchgängiger Dienst eingeführt wurde, fielen der Mittagsappell und die Mittagsmahlzeit fort und wurden durch so genannte Zählappelle an den einzelnen Dienststellen ersetzt. Nachmittags um 4 wieder Gesamtappell wie am Morgen, anschließend die warme Mahlzeit. Jedes Mal ein endloses Stehen mit vielem Abzählen, Melden der Zahl an die SS-Blockführer durch die Blockältesten, Weitermelden durch die Blockführer an die Lagerleitung. Zum Appell mussten alle mit, die nicht im Revier lagen, Lahme, Leute mit Fieber, die aber noch nicht fürs Revier reif oder dort noch nicht herangekommen waren, Fußverletzte mussten unter allen Umständen zum Appell mit. Sie wurden von anderen dorthin geschleppt oder getragen, ein trauriger Anblick. Wehe, wenn die Gesamtzahl nicht stimmte! Die alten Insassen erzählten von Fällen, in denen ein Fehler im Zählen oder eine wirkliche Flucht zunächst zum Stehen bis tief in die Nacht geführt hatte, bis der Fehler aufgeklärt oder die Flucht erwiesen war.

Wir hatten mit dem Wetter bis zum 15. Dezember, um dies hier einzuschalten, unglaubliches Glück, als wollte sich der liebe Gott uns wenigstens in dem Punkt als gnädig erweisen. In der ganzen Zeit war die Temperatur in Anbetracht der Jahreszeit noch erträglich, vor allem aber war es trocken, nur an einem Nachmittag und einem Sonntag regnete es bei Tage einige Zeit, im Übrigen nur einige Male in der Nacht. Ängstlich wegen unserer unzureichenden Kleidung sahen wir jeden Tag zum Himmel, der für uns in der Stadt nie solche Bedeutung gehabt hatte, und dankten Gott für diese Gnade. Auch so schon war das Stehen, besonders am kalten Morgen vor Sonnenaufgang und am Nachmittag nach dem Dienst reichlich anstrengend, man fror, durfte die Hände natürlich nicht in die Taschen stecken (die Posten und die Blockführer hatten gute Mäntel und dicke Handschuhe), ohne Ohrfeigen oder andere Strafen zu riskieren, und wartete am Vormittag sehnsüchtig auf die Erwärmung durch Marsch und Arbeit, am Nachmittag auf den Augenblick, in die Baracke zu kommen.

Die Baracken waren anfangs nicht geheizt. Als es kälter wurde, wurden sie am Nachmittag geheizt, in der Nacht ging dann das Feuer aus, frühmorgens wurde es für die Stunden des Aufstehens erneuert. Als einmal in einer Baracke unzulässigerweise auch bei Tage geheizt worden war, war die Folge eine Woche allgemeines Heizverbot, das nachher aber um einen Tag abgekürzt wurde. Die Heizung war auch deswegen wichtig, weil diejenigen, die auf die Benutzung des Taschentuchs Gewicht legten - ein Teil gewöhnte es sich rasch ab -, es am Abend notdürftig mit kaltem Wasser und Seife auswuschen und am Ofen trockneten, sodass um das Ofenrohr ein heftiger Kampf entbrannte. Doch ich bin von der Beschreibung des Appells abgekommen.

Der Nachmittags-Appell wurde öfter durch eine in solchem Lager besonders hohnvolle Einrichtung künstlich verlängert, nämlich durch Singen. Eines Nachmittags wurden wir Neulinge dadurch überrascht, dass am Schluss des Appells auf Befehl der Gesang mehrerer Lieder einsetzte, eines „Sauerländer Marsches“, vom schönen Sauerland handelnd, in das angeblich alle wollen (dabei ist es für Juden sicherlich verboten), sowie zweier sentimentaler Lieder vom „alten Mütterchen“ und vom „Postillon“. Gleich darauf wurde befohlen, dass auch wir Juden diese Lieder zu lernen hätten. Nach dem Abendessen wurde also eine Singestunde eingelegt, in der die Stubenältesten uns diese drei Lieder beizubringen hatten, Text und Musik. Man kann sich denken, mit welchen Gefühlen wir diese Lieder lernten! Dabei wurde uns von unseren Gesangslehrern gesagt, dass das genau so Dienst sei wie alles andere und derjenige, der nicht mitsinge oder den Text nicht auswendig könne, genauso Strafe zu erwarten habe wie derjenige, der sonst der Lagerdisziplin zuwiderhandele. Diese Gesangstunden wiederholten sich mehrfach, und nach einigen Tagen mussten wir Juden beim Appell mitsingen, so sehr wir auch innerlich das Singen als eine krasse Verhöhnung unserer Lage empfanden, in der wir wirklich nicht zum Singen aufgelegt waren. Als der Gesang der Juden eines Tages nicht klappte, wurden die Judenblocks nach dem Essen, das heruntergeschlungen werden musste, zu einer besonderen Singestunde im Freien auf den Appellplatz beordert, eine schikanöse Quälerei, für uns wie für den Kapellmeister (einen Häftling). Aber was sollten wir tun? Wir mussten uns anstrengen und, so sehr wir uns innerlich empörten, mit größter „Liebe“ und „Begeisterung“ singen, nur um nicht eine Verlängerung der Gesangstunde zu provozieren. Die anderen Häftlinge haben das Singen gewiss nicht viel anders als wir empfunden. Es war ein weiteres Glied in der endlosen Kette der Herabwürdigung des Menschen, Gesang in diesem Milieu fürchterlichster Unfreiheit und brutalster Willkür.

Der Appell gab auch sonst stets Gelegenheit zu Schikanen jeglicher Art. Bald klappte das Abzählen in der vorderen Reihe des Blocks nicht - die Gedanken vieler waren gewiss ganz woanders -, bald entdeckte das Auge des Blockführers einen fehlenden Knopf auf den schönen Monturen, bald waren die Haare zu lang, der Bartwuchs zu stark, bald flogen die Mützen nicht schnell genug herunter, wenn das Grußkommando „Mützen ab“ ertönte, das hier das Präsentieren des Gewehrs ersetzte und bis zum Übermaß geübt wurde. Jeder Fehler dieser Art konnte einzelne wie Gesamtstrafen nach sich ziehen, wie sie schon erwähnt sind: Nachexerzieren, Stehen am Tor, Blocksperre (d. h. Ausgehverbot für längere Zeit) oder schallende Ohrfeigen für den schlecht rasierten Kameraden. Oft hatte ich, in dieser großen jüdischen Masse von 6-7000 militärisch angezogenen Menschen stehend, ein seltsames Gefühl.

Ich überlegte, dass das wohl die größte paramilitärische jüdische Formation der ganzen Welt auf einem Fleck sei. Uns fehlten nur die Waffen, die, in modernster Form in der Hand einiger weniger konzentriert, uns zum wehrlosen Objekt der Willkür unserer Peiniger machten. So musste den Potemkinmatrosen zu Mute gewesen sein, nur dass sie Waffen besaßen, mit denen sie ihre Peiniger abschütteln konnten. Und trotzdem gab diese Massenhaftigkeit wohl jedem ein gewisses Gefühl der Sicherheit, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, ganz anders als es sonst Juden als Einzelne in solch feindlicher Umgebung haben werden.

Am ersten regulären Arbeitstag, dem ersten Montag, wurde uns vom Lagerkommandanten eine Ansprache gehalten, merkwürdigerweise unter Verwendung des sonst dort ganz unüblichen Sie. Er eröffnete uns darin, dass das Lager kein Sanatorium, auch kein Gefängnis und kein Zuchthaus sei, sondern eine Erziehungsanstalt eigener Art, dass wir uns allen Lagervorschriften zu fügen hätten, deren Einzelangabe er für unnötig hielt, undjede Verletzung der Lagerordnung schwere Strafen nach sich ziehe. Wir hatten schon genug von der Prügelstrafe auf dem Bock gehört, um nicht zu wissen, um was es ging. Hierbei und bei anderer Gelegenheit wurde uns eingeprägt, dass jeder Wachtposten wie jeder sonstige SS-Mann ganz gleich welchen Alters unser unbedingter Vorgesetzter sei: Das war wichtig, weil manche Posten gewiss nicht mehr als 17-18 Jahre alt waren.

Der Dienst, der nunmehr begann, spielte sich in den verschiedensten Formen ab. Man konnte etwa drei Formen unterscheiden: das Exerzieren im Lager, die Arbeit im und beim Lager in den Handwerksbetrieben und beim Häuser- und Straßenbau und schließlich die entfernte Außenarbeit auf einem Industriewerk. Daneben gab es Abkommandierungen zum Kartoffelschälen, zum Strümpfestopfen, zum Stubendienst usw. Die Zuteilung zu den verschiedenen Formen des Dienstes fand grundsätzlich nach Altersstufen statt, gewiss nicht aus Menschlichkeit, als wegen der Arbeitsleistung, die aus Alten doch nicht in dem Maße herausgeholt werden konnte wie aus Jungen. Dabei wechselten die Altersklassen. Je mehr sich die Abgänge allmählich bemerkbar machten, desto mehr wurden die Altersstufen heraufgesetzt und auch die Älteren zu den schwereren Arbeiten herangezogen. Jeder Block hatte täglich seine bestimmte Zahl zu der schwereren Außenarbeit zu stellen, sodass seine Belegung die Inanspruchnahme auch der Älteren hierfür maßgeblich beeinflusste, mochten diese auch körperlich noch so ungeeignet dazu sein. Zum Exerzieren, das, weil es auf dem Appellplatz stattfand, als eine Art leichter Dienst galt, wurden die über Sechzigjährigen herangezogen, zum Dienst auf dem Industriewerk die unter Fünfundvierzig-jährigen, dazwischen lagen die anderen Arbeiten, doch stand die Altersgrenze mehr und mehr nur auf dem Papier, und man fand Kameraden hoch in den Fünfzigern auf dem Industriewerk.

Das Exerzieren bestand im unermüdlichen Marschieren im Schritt und Laufschritt über den Appellplatz von Y28 ca. bis V24 ca. mit einer halben Stunde Mittagspause im Stehen. Es war derart anstrengend, auch wenn keine besonderen Schikanen hinzukamen, dass die alten Leute sich gern davor drückten und zu dem oft leichteren Dienst im Lager zu kommen versuchten.

Der Arbeitsdienst im und beim Lager fand in der verschiedensten Weise statt. So wurde zum Teil völlig sinnlos Sand im Kreise herumgeschippt. An anderen Stellen wurde der Sand zwecks Bodenplanierung durch Weiterschaufeln in der Kette entfernt und dann in Loren weiterbefördert. Wieder andere Kolonnen hatten gefällte Baumstämme zu sortieren, zu zersägen und zu einer großen Halle zu tragen oder zu fahren, wo die Stämme mittels elektrisch getriebener Schneidemaschinen für die Verwendung als Bauholz beim Häuserbau zurechtgemacht wurden. Das Lager stand ja auf altem Waldboden und war voriges Jahr in schwerer Fronarbeit von Häftlingen so aufgebaut worden, wie wir es vorfanden; aus dieser Aufbauzeit rührten die Stämme her. Andere Kolonnen waren nur mit dem Tragen von Material beschäftigt. Die zubereiteten Stämme wurden vom Holzbearbeitungsplatz zu den Baustellen gebracht, wo für die SS kleine nette Häuser (wie es hieß für Ehepaare) gebaut wurden. Was Transportautos in kürzester Zeit mit ein paar Menschen geschafft hätten, wurde hier durch vielfache Sklavenarbeit - ob billiger, mag sehr zweifelhaft sein - geleistet. Wir trugen große und kleine Balken, eiserne Schienen, Bettstellen, sonstiges Eisengerät. Die Vorarbeiter, „Rote“ und „Braune“, die an der Arbeit genauso wenig interessiert waren wie wir, mussten nur darauf bedacht sein, dass nicht allzu viele Menschen eine Schiene oder einen Balken trugen oder ein Einzelner nicht zu wenig leichte Bretter nahm, damit nicht ein zufällig des Weges kommender SS-Mann oder Posten darauf aufmerksam wurde und seine Willkür an uns ausließ, vielleicht gar den Vorarbeiter deswegen bestrafte. Man versuchte in den Transportkolonnen, deren einer ich mehrere Tage angehörte, die Arbeit möglichst zu strecken, die Wege möglichst auszudehnen. Die Transportarbeit, war sie auch manchmal anstrengend - die ungewohnten Lasten auf den Schultern drückten zunächst tüchtig -, war recht beliebt. Man machte die Wege, ohne dass die verhassten Posten mitgingen, hatte eine gewisse Bewegung bei der Kälte, und mit einigen Märschen innerhalb des weit ausgedehnten Lagers ging die lange Zeit viel schneller hin, als wenn man auf derselben Stelle den ganzen Tag schippte, womöglich unter der Knute eines kontrollierenden, treibenden Postens. Die Transportkolonnen hatten oft Zementsäcke, je ein Zentner, vom Materialplatz zu den Baustellen (15-25 Minuten) zu tragen. Anfänglich musste ein Mann allein einen Sack tragen, das war sehr schwer und von älteren oder schwächeren Menschen kaum zu schaffen, dann wurde stillschweigend erlaubt, dass zwei Mann mittels einer über die Schultern gelegten Trage, eines Brettes, auf das der Sack gelegt wurde, die Arbeit machten, das ging nach einiger Übung ganz gut. Die älteren Lagerinsassen erklärten auch hierbei, dass solche Erleichterung bisher unvorstellbar gewesen wäre, jeder habe immer seinen Sack allein tragen müssen, sei er auch dabei zusammengebrochen, und mancher habe im vergangenen Sommer dran glauben müssen, besonders unter den Juden der Juniaktion. Uns schauderte, wenn wir von ernsten Männern diese Lagertragödien erzählt bekamen. An sich war die Arbeitsleistung in gewissem Sinne ein weit geringeres Problem als die Behandlung, unter der die Arbeit zu leisten war oder sich jeden Augenblick durch das Auftreten eines SS-Mannes oder eines Postens vollziehen konnte.

Wieder andere Kolonnen waren mit Nägeln beschäftigt, d. h., sie hatten aus alten Holzteilen, Brettern, Kisten und dgl. die Nägel zu entfernen, zu sortieren und zu reinigen, um sie wieder gebrauchsfertig zu machen, aber niemand kontrollierte das Ergebnis. Man stand an langen Tischen (im Freien) herum, auf den Tischen standen Kästen mit einer Unmenge Nägel verschiedener Länge und Stärke. Es wurde aber kaum gearbeitet; was sortiert war, wurde am Nachmittag wieder ausgeschüttet, um am nächsten Tag die Arbeit wieder zu beginnen. Während der Arbeit hielt man einige Renommiernägel in der Hand, um, falls ein Posten kam, Arbeit zu markieren, im Übrigen wurde unendlich debattiert, immer wieder über dieselben Dinge: Wie lange noch? Welches sind die Entlassungsgründe? Wie mag es in der Familie, in der Gemeinde ausse-hen? Was tut man zu Hause für die Entlassung? Der Drang nach Freiheit beherrschte jede Unterhaltung, daneben noch die wichtigen Fragen des Essens und Schlafens.

Andere Kolonnen arbeiteten auf dem so genannten Holzhof. Dort wurden Baumstümpfe zu Kleinholz für die Öfen zerkleinert, eine für viele sehr ungewohnte und anstrengende Arbeit. Zugleich wurde das zerkleinerte Holz in riesigen Holzstapeln aufgeschichtet. Diese Stapel wurden immer wieder abgetragen und ein paar Schritte entfernt an einer anderen Stelle neu aufgebaut. Unaufhörlich gingen die hier Arbeitenden mit ein paar Stück Holz unter dem Arm hin und her, im Gänsemarsch, 100-200 m weit. Hinter den Holzstapeln verbargen sie sich wohl auch eine Weile, um dann den eintönigen Gang wieder anzutreten. Dazwischen erschienen bisweilen die Posten und jagten ihre Opfer eine Weile im Laufschritt. Waren sie fort, so begann das alte Lied von neuem. Viele von uns hatten, besonders bei den Naglern und auf dem Holzhof, das Gefühl, dass das Ganze einer Filmaufnahme würdig sei, zumal wenn man sich alle diese Arbeiter für einen Augenblick in ihrer einstigen zivilen Tätigkeit am Krankenbett, vor Gericht, im Laden, auf der Bank usw. vorstellte.

Anderswo wurden Leute beim Wegebau in einer neuen SS-Siedlung beschäftigt. Sie schleppten Straßenbaumaterial heran oder zerklopften Steine, am Straßenrand sitzend (dazu wurden vornehmlich Fuß- und Beinkranke genommen), bei dem kalten Herbstwetter reichlich ungesund, oder stampften den Sand fest, der in Karren von anderen herangebracht wurde. Seltsame Empfindungen beschlichen einen, wenn man bei diesen Arbeiten, die meist aus den Lagermauern herausführten, Berliner Autos oder harmlose Zivilisten sah und überlegte, dass man genau so wie diese Passanten noch kürzlich durch die Straßen gegangen war und nichts getan hatte, das irgendwann und -wo sonst einer Behörde das Recht gegeben hätte, einen einzusperren und den Launen wild gewordener junger Menschen preiszugeben.

Aus den Zimmern der freundlich eingerichteten SS-Blockhäu-ser, an denen wir mitZementsäckenbepacktvorbeizogen, hörten wir Radiomusik, irgendwoher, aus einer anderen Welt. Ein Vogelhaus, das inmitten der einen schon vorhandenen SS-Siedlung stand, trug eine Inschrift mit der Bitte, die Vögel zu schonen. Was waren wir, verglichen mit den Vögeln? In den Augen unserer Peiniger zur Vernichtung bestimmtes Ungeziefer, wie sie es aus der neuen deutschen Bibel „Mein Kampf“ gelernt hatten und allwöchentlich im „Stürmer“ lasen. Bekamen sie auf die Frage nach dem Beruf die Antwort „Kaufmann“ oder „Rechtsanwalt“, so war die Erwiderung sicherlich: „Na, hier kannst du endlich keinen mehr besch...“ oder ähnlich.

Die Arbeit in dem etwa eine halbe Stunde entfernten Industriewerk (Sandschippen, Zementsäckeentladen, Lorenziehen, Schienenlegen) galt mit Recht als die schwerste, zu der jedoch neben jungen mehr und mehr auch ältere Menschen herangezogen wurden. Die jungen Leute, die z.T. von der Hachscha-rah kamen oder die sonst an körperliche Arbeit gewohnt waren, vertrugen sie natürlich weit leichter als die älteren Akademiker und Kaufleute, die dergleichen nie verrichtet hatten. Außerdem ist die Anpassungsfähigkeit des Menschen an neuartige Verhältnisse sehr verschieden. Ich selbst habe dort ca. zehn Tage gearbeitet und hatte Glück. Ich gehörte einer Kolonne an, die bei Planierungsarbeiten Sand schippte, und kam ganz gut mit, wie mir überhaupt das Lager in körperlicher Hinsicht dank einer gesunden Konstitution nicht geschadet hat, was an der Beurteilung der Einrichtung als solcher selbstverständlich nichts ändert. Die meist jüngeren Kameraden, mit denen ich zusammenarbeitete, waren freundlich und halfen auch mal ein wenig. Der Vorarbeiter, ein politisch sehr versierter Kommunist, der zum Menschenverächter geworden war und nur noch auf den Tag der Rache wartete, war mit allem zufrieden, was ihn nicht vor den gelegentlich passierenden Aufsichtspersonen auffallen ließ. Man konnte sich mit ihm über alle politischen Probleme der letzten 20 Jahre gut unterhalten, und es machte ihm Freude, von Zeit zu Zeit revolutionäre Lieder und Gedichte mit Pathos zu deklamieren.

Der aufgehäufte Sand wurde in Loren weiterbefördert. Diese Loren mussten, da eine an sich, glaube ich, vorhandene mechanische Beförderungsmaschine meist entzwei war, von uns gezogen werden. Es wurden also etwa 15-20 Mann an je eine Lore angesetzt, die so auf die primitivste Weise mit Ziehen und Schieben vielleicht 1 km weit vorwärts bewegt und dann umgekippt wurde. Sah man die sechs bis sieben Loren so sich bewegen, so dachte man unwillkürlich an die bildlichen Darstellungen der Galeerensträflinge aus früheren Zeiten, die so ihre Wiederauferstehung feierten. Wie oft wurde hier und bei anderer Gelegenheit der Fronknechtschaft in Ägypten gedacht, wie off wurde das Hagadahwort „Knechte waren wir im Lande Ägypten“ zitiert, das wir alle nie so lebenswahr empfunden hatten. Die mit dem Zementausladen beschäftigten Kameraden hatten hier je einen Sack allein eine Strecke Weges zu schleppen und klagten sehr über brutale Behandlung seitens der Aufsicht, wenn es nicht so schnell ging, wie es verlangt wurde, oder gar ein Sack fallen gelassen wurde.

Das Schlimmste an dieser Außenarbeit aber war nach allgemeiner Ansicht der Weg zur und von der Arbeit. Täglich gingen 3000 Mann zu dieser Arbeit in drei Zügen ä 1000 Mann. Die Züge marschierten in Fünferreihen, im Übrigen waren sie nicht weiter gegliedert. An den Seiten, im Abstand von wenigen Metern, vorn und hinten, gingen Posten, das Gewehr unter dem Arm. Diese machten sich nun ein Vergnügen daraus, im Geschwindschritt zu gehen und dadurch den ganzen Zug allmählich ins Laufen zu bringen. Kam man in den vorderen Reihen noch durch schnelles Gehen mit, so mussten die hinteren abwechselnd auf die Vordermänner laufend aufgehen, dann warten, bis sich die gestaute Menge etwas lockerte und nach kurzem normalem Schritt wieder schnell laufen. Das Ganze war wie eine Ziehharmonika, die sich zusammenzog und wieder öffnete. Die nebenhergehenden Posten aberjagten und trieben die Reihen vorwärts, stießen und pufften, auch mit dem Kolben, wenn eine Reihe nur ein wenig zurückblieb. Das alles begann beim Verlassen des Lagers bereits und ging die ungefähr 20-25 Minuten Weges so weiter, der Rückweg vollzog sich ebenso, beide Märsche oft noch durch den Befehl zum Singen verschönert.

Die Wege waren so eine wilde Jagd durch den märkischen Wald, für alle, die nicht gut bei Atem waren, eine wahre Tortur, bei der so mancher Kamerad zusammengebrochen ist und getragen werden musste. Einige Todesfälle waren die Folge dieser Raserei. Wir kamen uns wie eine Hammelherde vor, wenn wir so zum Lager herauszogen und am Nachmittag heimkehrten, am Toreingang am Lagerkommandanten vorbeiparadierend, die Mütze in der Hand, die Hand an der Hosennaht. Von Gleichschritt war bei dieser Jagd, die an dem staunenden Landstraßenpublikum und Zivilautos sich vorüberbewegte, keine Rede mehr. Das Rennen verschlimmerte die Situation aber nur, die Hintermänner schimpften auf die Vordermänner, alles hatte eine panikartige Angst vor den uns jagenden Posten, keiner mochte an der Außenseite der Fünferreihe gehen, von gegenseitiger Rücksicht war keine Spur, krassester Selbsterhaltungstrieb kennzeichnete das Ganze. Am schlimmsten waren die letzten Reihen des Zuges dran, so-dass bei dem Antreten am Nachmittag nach Arbeitsschluss sofort ein wilder Kampf um die vorderen Plätze des Zuges einsetzte. Dieser Weg zu und von der Arbeitsstelle wird allen unvergesslich bleiben.

Zu den primitiven und zugleich quälerischen Arbeitsmethoden, die das Lager kennzeichneten, gehörte auch das so genannte Sandlaufen. Da nicht genug Schippen da waren, wurden manchmal die Röcke ausgezogen und umgekehrt - die Rückenseite vorn - angezogen, zwei Mann mit Schippen an einen Sandhaufen als Ausgangspunkt gestellt, die Übrigen mussten im Laufschritt an diesen zwei vorbeilaufen und dabei die Röcke vorn mit den Händen als Beutel hochheben, sodass ihnen eine tüchtige Schippe voll Sand eingefüllt werden konnte, den sie dann einige hundert Meter entfernt entleerten. Das ersparte die Verwendung von Schippen und die Arbeit in der Kette zugleich, war aber, wenn es längere Zeit und im Laufschritt stattfand, sehr anstrengend und eine bequeme Gelegenheit zum Quälen.

Der Arbeitsdienst fand - im Gegensatz zu der scharfen Trennung von Juden und Nichtjuden in den Baracken - oft gemischt statt. Die Arbeitskommandos waren teilweise, nicht immer, aus allen Arten von Lagerinsassen zusammengesetzt, und so konnte man bei dieser Gelegenheit interessante Bekanntschaften und Studien machen. Die Verteilung der Blocks auf die verschiedenen Arbeitsstellen erfolgte jeden Morgen auf dem Appellplatz und wurde andauernd abgeändert, sodass man nie genau wusste, ob man auf die Arbeitsstelle des Vortags zurückkehrte. Das hing wohl von den Anforderungen der technischen Leiter der einzelnen Betriebsabteilungen (ebenfalls SS-Leute) ab. Wirtschaftlich gesehen war sicherlich kein Bedürfnis und keine Verwendungsmöglichkeit für die riesige Lagerbelegschaft, aber das war ja auch nicht der entscheidende Gesichtspunkt für diese Erziehungsanstalt eigener Art, um mit den erwähnten Worten des Lagerkommandanten zu sprechen.

Mehrfach habe ich in dieser Darstellung der Posten gedacht, weil sie mit uns während der Arbeit ständig in Berührung kamen. Dies waren blutjunge Kerle, von vielleicht 17 Jahren aufwärts, die anscheinend besonders darauf dressiert waren, uns Häftlinge, die wir doch vielfach ihre Väter und Großväter hätten sein können, zu quälen. Sie patrouillierten im Lager herum und begleiteten uns auf dem Weg zur und von der Arbeit im Industriewerk, wie ich dies vorhin beschrieben habe. Wir mussten vor ihnen strammstehen, die Mütze herunterreißen, wenn sie uns ansprachen, und in militärischer Form antworten. Sie waren stets neugierig, was diese Juden wohl im Zivilberuf waren, und fragten uns tüchtig aus. Ein Lagerwitz sagte, dass jemand als seinen Beruf Syndikus angegeben und dies auf die Frage, was es sei, als Volkswirt bezeichnet habe, worauf die Antwort kam: „Sag doch gleich, dass du Schankwirt bist.“ Man fragte sich bei ihrem Anblick immer wieder, was da für eine Jugend heranwächst, ohne jeden Respekt vor dem Alter, ohne die geringste menschliche Regung, Sadisten, die in die Sicherungsverwahrung gehören, statt hier Unschuldige nach Belieben peinigen zu dürfen.

Die Verpflegung im Lager bestand morgens meist aus einer Gries- oder Magermilch- oder einer anderen Suppe, einem warmen Eintopfgericht nach dem Dienst um 5 Uhr etwa (Kohl oder anderes Gemüse, sehr oft Walfischfleisch), einem halben, später einem Drittel Kommissbrot täglich sowie einem morgens zur Verteilung gelangenden Stück Leberwurst oder Sülze oder Margarine, gedacht als Aufstrich auf das Brot für das Frühstück während der Arbeitszeit beim Zählappell (um Vm). Die Verpflegung war nicht gerade schlecht, aber doch quantitativ wie qualitativ für Menschen, die im Freien körperliche Arbeit verrichten, unzureichend. Die Kürzung der Brotration war wohl die Folge davon gewesen, dass wir Juden anfänglich sehr viel Brot hatten liegen lassen, weil wir nicht genügend hungrig waren. Als dann der Appetit begreiflicherweise bei der Arbeit im Freien wuchs, war die Kürzung erfolgt, und es blieb nun auch keine Krume mehr übrig. Wie unzureichend die Ernährung ist, merkte man an dem Hunger der älteren Insassen, die sich wie wilde Tiere auf jedes Stückchen Brot stürzten, das sie am Boden sahen. Immer wieder kamen sie bei der Arbeit, besonders in der ersten Zeit, als wir noch reichlicher versorgt waren, zu uns und bettelten um Brot, obwohl dies streng verboten war (ebenso wie das Abgeben von Brot). Noch schlimmer war der Fettmangel. Die oben genannten Aufstrichmittel waren viel zu gering und viel zu wenig fetthaltig. Die Widerstandskraft all derer, die längere Zeit im Lager waren, hatte ganz außerordentlich nachgelassen.

Infolge dieser Ernährungsmängel spielte die Frage der Zukaufsmöglichkeit und -berechtigung aus der Kantine eine große Rolle. An sich war vorgesehen, dass jeder 15 RM pro Woche geschickt bekommen und dafür in der Kantine einkaufen könne. Indessen stand das, wenigstens für die Zeit meiner Anwesenheit, zum Teil auf dem Papier, und auch sonst gab es nach den Erzählungen der alten Insassen häufig Unterbrechungen in Gestalt von strafweisen Kantinensperren. Der Kassenapparat war wohl dem Ansturm einer so großen Zahl relativ zahlungsfähiger Häftlinge nicht gewachsen, und so dauerte es zunächst ca. 14 Tage, bis wir von unserem mitgebrachten, uns bei der Einlieferung abgenommenen Gelde 15 RM ausgezahlt bekamen. Jeden Tag kamen mehrere Hundert von uns zur Auszahlung, aus irgendeinem mir unbekannten Grunde trat dann eine Stockung in der Auszahlung ein, und eine Anzahl Kameraden fiel bei der Auszahlung ganz aus. Die Einkaufsgelegenheit bedeutete eine wesentliche Erleichterung in all der Not. Man kann sich schwer vorstellen, welche Rolle das Essen plötzlich auch bei Menschen spielte, die sonst keineswegs auf das Essen solch Gewicht legten. Die Stimmung hob sich geradezu bei der Idee, etwas Abwechselung in die Ernährung bringen zu können, z.B. Schokolade, Margarine, Butter, Wurst, Schinken, Käse, Milch, Bonbons, Kuchen, Weißbrot usw. zur Verfügung zu haben. Anfänglich bestand für die Judenblocks Rauchverbot, das fiel, glaube ich, mit der Auszahlung des Kantinengeldes und wurde von den Rauchern als Erlösung empfunden.

Die Kantine war gut und vielseitig versorgt, die Preise waren regulär. Interessant war zu beobachten, in welcher Reihenfolge die Einzelnen neben Eß- und Rauchwaren ihre Bedürfnisse befriedigten. Einer kaufte zuerst Toilettenpapier, ein anderer einen Rasierpinsel, den der Friseur nur für ihn verwenden sollte, ein anderer Taschentücher, ein Vierter eine Zahnbürste. Ein technisch schwieriges Problem, an dem herumexperimentiert wurde, war die Regelung des Einkaufs. Ein Einzeleinkauf in der in einem Keller untergebrachten Kantine durch so viel Menschen war unmöglich, es war ja höchstens eine Stunde zwischen Nachmittagsessen und Schlafengehen für den Einkauf frei, und auch die fiel häufig fort z. B. durch das Brausebad, durch Ausgabe neuer Wäsche, durch Straf-exerzieren, durch Annähen von Knöpfen. So gab es zeitweilig Einkäufer für jeden Block, die auf Bestellung für den ganzen Block einkauften, oder die Bestellung ging über die Tischältesten, die später eingesetzt wurden, um die Essensverteilung besser zu organisieren. Daneben erfolgte der Einzeleinkauf in der Kantine mit vielem Anstehen daselbst.

Gleichzeitig mit der ersten Geldauszahlung wurde uns von den Stubenältesten in höherem Auftrag „nahegelegt“, die allein zugelassenen Nazizeitungen „freiwillig“ zu abonnieren, und zwar möglichst mehrere Exemplare in jedem Block (Angriff, Völkischer Beobachter, Schwarzes Korps, wohl auch Stürmer). Zugelassen waren noch die Illustrierte und, glaube ich, eine naturwissenschaftliche Zeitschrift. Notgedrungen bestellten wir die Zeitungen, die vor allem auch dem Mangel an Toilettenpapier Abhilfe leisten sollten. Die Auszahlung der weiteren Kantinengelder funktionierte gar nicht, obwohl die Angehörigen meist pünktlich Geld eingezahlt hatten. Die nächste Auszahlung fand nicht nach zwei, sondern nach vier Wochen statt; die von [zu] Hause eingegangenen Gelder waren im Allgemeinen noch nicht verbucht, sodass nur der Rest des mitgebrachten Geldes zur Auszahlung gelangte. Inzwischen hatten die meisten die ersten 15 RM längst ausgegeben, manchmal auch weiterverborgt (was übrigens verboten war), waren also über die Stockung des Apparats sehr enttäuscht. Die nicht ausgezahlten Gelder sind übrigens ordnungsgemäß bei der Entlassung ausgezahlt oder später zurückgeschickt worden. In diesem Punkt war nichts zu beanstanden, manchmal ist eben die bürokratische Ordnung stärker sogar als aller Plünderungs wille.

Die Auszahlung der Kantinengelder hatte allerhand interessante Gemeinschaftsprobleme zur Entstehung gebracht. Es gab Kameraden, die sofort und gern Geld oder gekaufte Sachen abgaben oder liehen, es gab aber auch Egoisten, die alles für sich verbrauchten, ja am liebsten vor den Augen anderer ihre Genüsse verzehrten. Wer regelmäßig im Lager 15 RM zugesandt und auch ausbezahlt bekommt und dafür einkaufen kann, kann damit den Mangel der Lagerverpflegung natürlich ausgleichen. Aber wie wenige von den regulären Insassen konnten von ihren Angehörigen auf solche Hilfe rechnen? Die meisten waren schon froh, wenn sie von Zeit zu Zeit den Teil eines solchen Betrages erhielten. Es gab viele, die nie etwas geschickt bekamen und wie die wilden Tiere mit gierigen Augen auf der Lauer waren, wenn einer der bessergestellten Kameraden ein Stückchen Wurst oder ein wenig Schokolade aus der Tasche zog, ob vielleicht etwas für sie abfiele. Sie bettelten um die Erlaubnis, einen Zug aus der Zigarette zu tun. Im Lagerjargon hießen Zigarettenstummel „Kippen“. Wie viele gab es nicht, die sich auf jede Kippe am Wege gierig stürzten und sie an sich rissen, nur um sich den geliebten, so entbehrten Tabakgenuss zu verschaffen. Hier konnte man sehen, wie Not und Entbehrung Menschen tierisch machen, wie alle Hygiene aufhört und keiner mehr sich daran stößt, dass die eine Zigarette von Mund zu Mund geht.

Über den Gesundheitszustand im Lager kann ich schwer ein Urteil fällen. Es gab, besonders unter den älteren Insassen, sehr, sehr viele, die Hautkrankheiten hatten, Geschwüre jeglicher Art, Furunkeln u. dgl., offenbar die Folge mangelnder Hygiene und verminderter Widerstandkraft (Fettmangel!). Offene Wunden, die bei solcher Arbeit durch Risse, kleine Verletzungen, Abschürfungen leicht entstehen, heilten nur sehr langsam. Die scharfe Frostperiode nach dem 15. Dezember hatte die schon vorher auftretenden Erfrierungserscheinungen an den Gliedmaßen vervielfacht. Alle diese Erkrankungen wurden im Revier behandelt, in dem Häftlinge den Dienst versahen. Diese waren, wie ich immer wieder hörte, sehr freundlich und wirklich darauf bedacht, den Kameraden zu helfen. Nur war es infolge des massenhaften Andranges außerordentlich schwer, zum Revier zu gelangen, man musste viele Stunden, ja off auch mehrere Tage vor der Revierbaracke warten, bis man herankam. Das Revier war für alle Krankheiten erste Instanz, auch für Fieber, Grippe, Darmerkrankungen, Asthma, Nieren und Lunge. Der Weg zum Arzt führte über das Revier, und der Arzt stand in dem Ruf, Juden nicht behandeln zu wollen. Wer ihm nach seiner Ansicht zu Unrecht vorgeführt wurde, riskierte eine Strafe. Ich habe erfreulicherweise weder Revier noch Arzt kennengelernt und kann aus eigenem Erleben da nichts berichten.

Der Instanzenzug war für alle Krankheiten, die [ein] solch[es] Verfahren nicht vertrugen, verhängnisvoll. Mancher, der hätte gerettet werden können, verdankte ihm sein vorzeitiges Ende. Kranksein bedeutete im Lager leicht das Schlimmste. Auch der Fiebernde musste zum Appell frühmorgens, musste stundenlang vor der Krankenbaracke auf seine Abfertigung warten und riskierte, doch nicht heranzukommen. Leider kennt man ja die Zahl der Todesopfer nicht, die die Folge der unzureichenden ärztlichen Versorgung von Häftlingen waren, die ohne Rücksicht auf Haftfähigkeit verhaftet worden sind. In Sachsenhausen sind sicherem Vernehmen nach in den ersten vier bis fünf Wochen ca. 60 Menschen gestorben, später soll infolge der Kälte diese Zahl relativ gestiegen sein. In diesem Zusammenhang sei noch einer Lagereinrichtung gedacht. Es gab (siehe oben) Hunderte von Kranken, die wegen Hauterkrankung oder Verletzung der Glieder mit umfangreichen, dicken Verbänden herumliefen und buchstäblich keinen Arbeitsdienst machen konnten, weil sie eben nichts anfassen konnten. Diese waren nun nicht etwa vom Dienst befreit, sondern bildeten das so genannte „Schleichkommando“, d.h., sie mussten während der Dienstzeit ununterbrochen in Fünferreihen hintereinander durch eine große Sandmulde dicht an der Lagermauer (das so genannte „Loch“) marschieren („schleichen“). Das sollte offenbar die Neigung, sich vom Dienst zu drücken, dämpfen. So zog denn diese Kolonne, die an die Bilder vom napoleonischen Rückzug aus Russland erinnerte, unermüdlich dahin, lauter Männer mit verbundenem Kopf, Armen und Händen, Beinen und Füßen. Ein bejammernswerter Anblick!

Es ließe sich noch viel vom Konzentrationslager Sachsenhausen berichten, von seinen Menschen, seinen Einrichtungen, seinen Methoden, den Menschen zu demütigen, zu verrohen, zu erniedrigen. Wir Juden der Novemberaktion waren ja nur relativ kurze Zeit darin, wir sollten wohl auswanderungsreif gemacht werden und dies Beispiel auf die anderen alle wirken, die nicht verhaftet waren. Dieses Ziel ist auch erreicht worden. Trotzdem kam uns die Zeit wie eine Ewigkeit vor. Als unsere Entlassungen in größerer Zahl täglich stattfanden, wurden sie uns allabendlich in dem Schlafsaal bekanntgegeben. Die so Aufgerufenen mussten am nächsten Morgen frisch rasiert (darauf wurde bis zum Schluss Gewicht gelegt) zu der umständlichen Entlassungsprozedur (Einkleidung in Zivil, Entgegennahme der Wertsachen) antreten. Wie wartetejeder am Abend gespannt darauf, ob er wohl diesmal das große Los gezogen hätte, wie glänzten die Gesichter der Verlesenen, manche weinten vor Erregung, wenn sie verlesen wurden und nun wussten, dass die Sklaverei nur noch einen Tag dauerte! Und dann kamen die Bestellungen der Zurückbleibenden an die Weggehenden, die Grüße an die Familie, die Aufträge, doch alles zu tun, um zu helfen (notieren durfte man nichts, also man musste Adressen und Telefonnummern auswendig lernen).

Bis zum Verlassen des Lagers spürte man noch die eiserne Faust, die auf einem lag. Bereits in Zivil (eigene Sachen, welch kostbares Gefühl!) musste man noch stundenlang mit dem Hut in der Hand stehen und warten, bis alles recht umständlich abgewickelt war. Auch da noch ließen die SS-Führer gar zu gern ihre Willkür an den Häftlingen aus, ließen sie unter Umständen Laufschritt und Kniebeugen machen und ohrfeigten sie. Zum Schluss noch ein schriftliches Gelöbnis, nichts gegen den nationalsozialistischen Staat zu tun. Dann wurden wir von einem Posten bis zum Lagerausgang geführt, einem Schlagbaum, der auf die allgemeine Straße ging, und durften uns nun frei bewegen. Welch ein Empfinden! Was kümmerte es uns, dass unsere im Lager entlausten Sachen entsetzlich aussahen und man uns für Vagabunden halten mochte. Wir waren frei, wie jeder andere dort auf der Straße, niemand würde uns jetzt nach Belieben beschimpfen, ohrfeigen, kommandieren. Wir waren frei, selbst in diesem Deutschland, in dem sich die jüdische Lage in den Wochen unserer Abwesenheit katastrophal verschlechtert hatte. Die Leute auf der Straße und in der Bahn nach Berlin, die täglich solche Lagerinsassen nach Hause fahren sahen, blickten uns an, sie schämten sich wohl ein wenig dessen, was hier vor sich ging. Und man hörte in diesen Wochen viel Geschichten von Ariern, die auf den Berliner Bahnhöfen den an ihrem Aufzug und ihren geschorenen Köpfen erkennbaren Juden behilflich waren und ein wenig gutmachen wollten, was eine Staatsregierung hier nicht etwa nur duldete, sondern einrichtete, förderte und belohnte.

Furchtbar ist die Vorstellung, dass Tausende und Abertausende von Menschen der verschiedensten Art unter dem verschiedensten Vorwand, aber alle ohne Richterspruch, allein durch das dunkle Walten einer unkontrollierten Geheimpolizei, in solchen Lagern nun seit Jahren schmachten. Nicht Nationalsozialisten werden dort erzogen, sondern Menschenverächter, Verzweifelte voller Rachegefühle, gebrochene Existenzen, und die so genannte zivilisierte Menschheit nimmt dies, wie so vieles andere Unrecht, untätig hin.

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