Am ersten regulären Arbeitstag, dem ersten Montag, wurde uns vom Lagerkommandanten eine Ansprache gehalten, merkwürdigerweise unter Verwendung des sonst dort ganz unüblichen Sie. Er eröffnete uns darin, dass das Lager kein Sanatorium, auch kein Gefängnis und kein Zuchthaus sei, sondern eine Erziehungsanstalt eigener Art, dass wir uns allen Lagervorschriften zu fügen hätten, deren Einzelangabe er für unnötig hielt, undjede Verletzung der Lagerordnung schwere Strafen nach sich ziehe. Wir hatten schon genug von der Prügelstrafe auf dem Bock gehört, um nicht zu wissen, um was es ging. Hierbei und bei anderer Gelegenheit wurde uns eingeprägt, dass jeder Wachtposten wie jeder sonstige SS-Mann ganz gleich welchen Alters unser unbedingter Vorgesetzter sei: Das war wichtig, weil manche Posten gewiss nicht mehr als 17-18 Jahre alt waren.
Der Dienst, der nunmehr begann, spielte sich in den verschiedensten Formen ab. Man konnte etwa drei Formen unterscheiden: das Exerzieren im Lager, die Arbeit im und beim Lager in den Handwerksbetrieben und beim Häuser- und Straßenbau und schließlich die entfernte Außenarbeit auf einem Industriewerk. Daneben gab es Abkommandierungen zum Kartoffelschälen, zum Strümpfestopfen, zum Stubendienst usw. Die Zuteilung zu den verschiedenen Formen des Dienstes fand grundsätzlich nach Altersstufen statt, gewiss nicht aus Menschlichkeit, als wegen der Arbeitsleistung, die aus Alten doch nicht in dem Maße herausgeholt werden konnte wie aus Jungen. Dabei wechselten die Altersklassen. Je mehr sich die Abgänge allmählich bemerkbar machten, desto mehr wurden die Altersstufen heraufgesetzt und auch die Älteren zu den schwereren Arbeiten herangezogen. Jeder Block hatte täglich seine bestimmte Zahl zu der schwereren Außenarbeit zu stellen, sodass seine Belegung die Inanspruchnahme auch der Älteren hierfür maßgeblich beeinflusste, mochten diese auch körperlich noch so ungeeignet dazu sein. Zum Exerzieren, das, weil es auf dem Appellplatz stattfand, als eine Art leichter Dienst galt, wurden die über Sechzigjährigen herangezogen, zum Dienst auf dem Industriewerk die unter Fünfundvierzig-jährigen, dazwischen lagen die anderen Arbeiten, doch stand die Altersgrenze mehr und mehr nur auf dem Papier, und man fand Kameraden hoch in den Fünfzigern auf dem Industriewerk.
Das Exerzieren bestand im unermüdlichen Marschieren im Schritt und Laufschritt über den Appellplatz von Y28 ca. bis V24 ca. mit einer halben Stunde Mittagspause im Stehen. Es war derart anstrengend, auch wenn keine besonderen Schikanen hinzukamen, dass die alten Leute sich gern davor drückten und zu dem oft leichteren Dienst im Lager zu kommen versuchten.
Der Arbeitsdienst im und beim Lager fand in der verschiedensten Weise statt. So wurde zum Teil völlig sinnlos Sand im Kreise herumgeschippt. An anderen Stellen wurde der Sand zwecks Bodenplanierung durch Weiterschaufeln in der Kette entfernt und dann in Loren weiterbefördert. Wieder andere Kolonnen hatten gefällte Baumstämme zu sortieren, zu zersägen und zu einer großen Halle zu tragen oder zu fahren, wo die Stämme mittels elektrisch getriebener Schneidemaschinen für die Verwendung als Bauholz beim Häuserbau zurechtgemacht wurden. Das Lager stand ja auf altem Waldboden und war voriges Jahr in schwerer Fronarbeit von Häftlingen so aufgebaut worden, wie wir es vorfanden; aus dieser Aufbauzeit rührten die Stämme her. Andere Kolonnen waren nur mit dem Tragen von Material beschäftigt. Die zubereiteten Stämme wurden vom Holzbearbeitungsplatz zu den Baustellen gebracht, wo für die SS kleine nette Häuser (wie es hieß für Ehepaare) gebaut wurden. Was Transportautos in kürzester Zeit mit ein paar Menschen geschafft hätten, wurde hier durch vielfache Sklavenarbeit - ob billiger, mag sehr zweifelhaft sein - geleistet. Wir trugen große und kleine Balken, eiserne Schienen, Bettstellen, sonstiges Eisengerät. Die Vorarbeiter, „Rote“ und „Braune“, die an der Arbeit genauso wenig interessiert waren wie wir, mussten nur darauf bedacht sein, dass nicht allzu viele Menschen eine Schiene oder einen Balken trugen oder ein Einzelner nicht zu wenig leichte Bretter nahm, damit nicht ein zufällig des Weges kommender SS-Mann oder Posten darauf aufmerksam wurde und seine Willkür an uns ausließ, vielleicht gar den Vorarbeiter deswegen bestrafte. Man versuchte in den Transportkolonnen, deren einer ich mehrere Tage angehörte, die Arbeit möglichst zu strecken, die Wege möglichst auszudehnen. Die Transportarbeit, war sie auch manchmal anstrengend - die ungewohnten Lasten auf den Schultern drückten zunächst tüchtig -, war recht beliebt. Man machte die Wege, ohne dass die verhassten Posten mitgingen, hatte eine gewisse Bewegung bei der Kälte, und mit einigen Märschen innerhalb des weit ausgedehnten Lagers ging die lange Zeit viel schneller hin, als wenn man auf derselben Stelle den ganzen Tag schippte, womöglich unter der Knute eines kontrollierenden, treibenden Postens. Die Transportkolonnen hatten oft Zementsäcke, je ein Zentner, vom Materialplatz zu den Baustellen (15-25 Minuten) zu tragen. Anfänglich musste ein Mann allein einen Sack tragen, das war sehr schwer und von älteren oder schwächeren Menschen kaum zu schaffen, dann wurde stillschweigend erlaubt, dass zwei Mann mittels einer über die Schultern gelegten Trage, eines Brettes, auf das der Sack gelegt wurde, die Arbeit machten, das ging nach einiger Übung ganz gut. Die älteren Lagerinsassen erklärten auch hierbei, dass solche Erleichterung bisher unvorstellbar gewesen wäre, jeder habe immer seinen Sack allein tragen müssen, sei er auch dabei zusammengebrochen, und mancher habe im vergangenen Sommer dran glauben müssen, besonders unter den Juden der Juniaktion. Uns schauderte, wenn wir von ernsten Männern diese Lagertragödien erzählt bekamen. An sich war die Arbeitsleistung in gewissem Sinne ein weit geringeres Problem als die Behandlung, unter der die Arbeit zu leisten war oder sich jeden Augenblick durch das Auftreten eines SS-Mannes oder eines Postens vollziehen konnte.
Wieder andere Kolonnen waren mit Nägeln beschäftigt, d. h., sie hatten aus alten Holzteilen, Brettern, Kisten und dgl. die Nägel zu entfernen, zu sortieren und zu reinigen, um sie wieder gebrauchsfertig zu machen, aber niemand kontrollierte das Ergebnis. Man stand an langen Tischen (im Freien) herum, auf den Tischen standen Kästen mit einer Unmenge Nägel verschiedener Länge und Stärke. Es wurde aber kaum gearbeitet; was sortiert war, wurde am Nachmittag wieder ausgeschüttet, um am nächsten Tag die Arbeit wieder zu beginnen. Während der Arbeit hielt man einige Renommiernägel in der Hand, um, falls ein Posten kam, Arbeit zu markieren, im Übrigen wurde unendlich debattiert, immer wieder über dieselben Dinge: Wie lange noch? Welches sind die Entlassungsgründe? Wie mag es in der Familie, in der Gemeinde ausse-hen? Was tut man zu Hause für die Entlassung? Der Drang nach Freiheit beherrschte jede Unterhaltung, daneben noch die wichtigen Fragen des Essens und Schlafens.
Andere Kolonnen arbeiteten auf dem so genannten Holzhof. Dort wurden Baumstümpfe zu Kleinholz für die Öfen zerkleinert, eine für viele sehr ungewohnte und anstrengende Arbeit. Zugleich wurde das zerkleinerte Holz in riesigen Holzstapeln aufgeschichtet. Diese Stapel wurden immer wieder abgetragen und ein paar Schritte entfernt an einer anderen Stelle neu aufgebaut. Unaufhörlich gingen die hier Arbeitenden mit ein paar Stück Holz unter dem Arm hin und her, im Gänsemarsch, 100-200 m weit. Hinter den Holzstapeln verbargen sie sich wohl auch eine Weile, um dann den eintönigen Gang wieder anzutreten. Dazwischen erschienen bisweilen die Posten und jagten ihre Opfer eine Weile im Laufschritt. Waren sie fort, so begann das alte Lied von neuem. Viele von uns hatten, besonders bei den Naglern und auf dem Holzhof, das Gefühl, dass das Ganze einer Filmaufnahme würdig sei, zumal wenn man sich alle diese Arbeiter für einen Augenblick in ihrer einstigen zivilen Tätigkeit am Krankenbett, vor Gericht, im Laden, auf der Bank usw. vorstellte.
Anderswo wurden Leute beim Wegebau in einer neuen SS-Siedlung beschäftigt. Sie schleppten Straßenbaumaterial heran oder zerklopften Steine, am Straßenrand sitzend (dazu wurden vornehmlich Fuß- und Beinkranke genommen), bei dem kalten Herbstwetter reichlich ungesund, oder stampften den Sand fest, der in Karren von anderen herangebracht wurde. Seltsame Empfindungen beschlichen einen, wenn man bei diesen Arbeiten, die meist aus den Lagermauern herausführten, Berliner Autos oder harmlose Zivilisten sah und überlegte, dass man genau so wie diese Passanten noch kürzlich durch die Straßen gegangen war und nichts getan hatte, das irgendwann und -wo sonst einer Behörde das Recht gegeben hätte, einen einzusperren und den Launen wild gewordener junger Menschen preiszugeben.
Aus den Zimmern der freundlich eingerichteten SS-Blockhäu-ser, an denen wir mitZementsäckenbepacktvorbeizogen, hörten wir Radiomusik, irgendwoher, aus einer anderen Welt. Ein Vogelhaus, das inmitten der einen schon vorhandenen SS-Siedlung stand, trug eine Inschrift mit der Bitte, die Vögel zu schonen. Was waren wir, verglichen mit den Vögeln? In den Augen unserer Peiniger zur Vernichtung bestimmtes Ungeziefer, wie sie es aus der neuen deutschen Bibel „Mein Kampf“ gelernt hatten und allwöchentlich im „Stürmer“ lasen. Bekamen sie auf die Frage nach dem Beruf die Antwort „Kaufmann“ oder „Rechtsanwalt“, so war die Erwiderung sicherlich: „Na, hier kannst du endlich keinen mehr besch...“ oder ähnlich.
Die Arbeit in dem etwa eine halbe Stunde entfernten Industriewerk (Sandschippen, Zementsäckeentladen, Lorenziehen, Schienenlegen) galt mit Recht als die schwerste, zu der jedoch neben jungen mehr und mehr auch ältere Menschen herangezogen wurden. Die jungen Leute, die z.T. von der Hachscha-rah kamen oder die sonst an körperliche Arbeit gewohnt waren, vertrugen sie natürlich weit leichter als die älteren Akademiker und Kaufleute, die dergleichen nie verrichtet hatten. Außerdem ist die Anpassungsfähigkeit des Menschen an neuartige Verhältnisse sehr verschieden. Ich selbst habe dort ca. zehn Tage gearbeitet und hatte Glück. Ich gehörte einer Kolonne an, die bei Planierungsarbeiten Sand schippte, und kam ganz gut mit, wie mir überhaupt das Lager in körperlicher Hinsicht dank einer gesunden Konstitution nicht geschadet hat, was an der Beurteilung der Einrichtung als solcher selbstverständlich nichts ändert. Die meist jüngeren Kameraden, mit denen ich zusammenarbeitete, waren freundlich und halfen auch mal ein wenig. Der Vorarbeiter, ein politisch sehr versierter Kommunist, der zum Menschenverächter geworden war und nur noch auf den Tag der Rache wartete, war mit allem zufrieden, was ihn nicht vor den gelegentlich passierenden Aufsichtspersonen auffallen ließ. Man konnte sich mit ihm über alle politischen Probleme der letzten 20 Jahre gut unterhalten, und es machte ihm Freude, von Zeit zu Zeit revolutionäre Lieder und Gedichte mit Pathos zu deklamieren.
Der aufgehäufte Sand wurde in Loren weiterbefördert. Diese Loren mussten, da eine an sich, glaube ich, vorhandene mechanische Beförderungsmaschine meist entzwei war, von uns gezogen werden. Es wurden also etwa 15-20 Mann an je eine Lore angesetzt, die so auf die primitivste Weise mit Ziehen und Schieben vielleicht 1 km weit vorwärts bewegt und dann umgekippt wurde. Sah man die sechs bis sieben Loren so sich bewegen, so dachte man unwillkürlich an die bildlichen Darstellungen der Galeerensträflinge aus früheren Zeiten, die so ihre Wiederauferstehung feierten. Wie oft wurde hier und bei anderer Gelegenheit der Fronknechtschaft in Ägypten gedacht, wie off wurde das Hagadahwort „Knechte waren wir im Lande Ägypten“ zitiert, das wir alle nie so lebenswahr empfunden hatten. Die mit dem Zementausladen beschäftigten Kameraden hatten hier je einen Sack allein eine Strecke Weges zu schleppen und klagten sehr über brutale Behandlung seitens der Aufsicht, wenn es nicht so schnell ging, wie es verlangt wurde, oder gar ein Sack fallen gelassen wurde.
Das Schlimmste an dieser Außenarbeit aber war nach allgemeiner Ansicht der Weg zur und von der Arbeit. Täglich gingen 3000 Mann zu dieser Arbeit in drei Zügen ä 1000 Mann. Die Züge marschierten in Fünferreihen, im Übrigen waren sie nicht weiter gegliedert. An den Seiten, im Abstand von wenigen Metern, vorn und hinten, gingen Posten, das Gewehr unter dem Arm. Diese machten sich nun ein Vergnügen daraus, im Geschwindschritt zu gehen und dadurch den ganzen Zug allmählich ins Laufen zu bringen. Kam man in den vorderen Reihen noch durch schnelles Gehen mit, so mussten die hinteren abwechselnd auf die Vordermänner laufend aufgehen, dann warten, bis sich die gestaute Menge etwas lockerte und nach kurzem normalem Schritt wieder schnell laufen. Das Ganze war wie eine Ziehharmonika, die sich zusammenzog und wieder öffnete. Die nebenhergehenden Posten aberjagten und trieben die Reihen vorwärts, stießen und pufften, auch mit dem Kolben, wenn eine Reihe nur ein wenig zurückblieb. Das alles begann beim Verlassen des Lagers bereits und ging die ungefähr 20-25 Minuten Weges so weiter, der Rückweg vollzog sich ebenso, beide Märsche oft noch durch den Befehl zum Singen verschönert.
Die Wege waren so eine wilde Jagd durch den märkischen Wald, für alle, die nicht gut bei Atem waren, eine wahre Tortur, bei der so mancher Kamerad zusammengebrochen ist und getragen werden musste. Einige Todesfälle waren die Folge dieser Raserei. Wir kamen uns wie eine Hammelherde vor, wenn wir so zum Lager herauszogen und am Nachmittag heimkehrten, am Toreingang am Lagerkommandanten vorbeiparadierend, die Mütze in der Hand, die Hand an der Hosennaht. Von Gleichschritt war bei dieser Jagd, die an dem staunenden Landstraßenpublikum und Zivilautos sich vorüberbewegte, keine Rede mehr. Das Rennen verschlimmerte die Situation aber nur, die Hintermänner schimpften auf die Vordermänner, alles hatte eine panikartige Angst vor den uns jagenden Posten, keiner mochte an der Außenseite der Fünferreihe gehen, von gegenseitiger Rücksicht war keine Spur, krassester Selbsterhaltungstrieb kennzeichnete das Ganze. Am schlimmsten waren die letzten Reihen des Zuges dran, so-dass bei dem Antreten am Nachmittag nach Arbeitsschluss sofort ein wilder Kampf um die vorderen Plätze des Zuges einsetzte. Dieser Weg zu und von der Arbeitsstelle wird allen unvergesslich bleiben.
Zu den primitiven und zugleich quälerischen Arbeitsmethoden, die das Lager kennzeichneten, gehörte auch das so genannte Sandlaufen. Da nicht genug Schippen da waren, wurden manchmal die Röcke ausgezogen und umgekehrt - die Rückenseite vorn - angezogen, zwei Mann mit Schippen an einen Sandhaufen als Ausgangspunkt gestellt, die Übrigen mussten im Laufschritt an diesen zwei vorbeilaufen und dabei die Röcke vorn mit den Händen als Beutel hochheben, sodass ihnen eine tüchtige Schippe voll Sand eingefüllt werden konnte, den sie dann einige hundert Meter entfernt entleerten. Das ersparte die Verwendung von Schippen und die Arbeit in der Kette zugleich, war aber, wenn es längere Zeit und im Laufschritt stattfand, sehr anstrengend und eine bequeme Gelegenheit zum Quälen.
Der Arbeitsdienst fand - im Gegensatz zu der scharfen Trennung von Juden und Nichtjuden in den Baracken - oft gemischt statt. Die Arbeitskommandos waren teilweise, nicht immer, aus allen Arten von Lagerinsassen zusammengesetzt, und so konnte man bei dieser Gelegenheit interessante Bekanntschaften und Studien machen. Die Verteilung der Blocks auf die verschiedenen Arbeitsstellen erfolgte jeden Morgen auf dem Appellplatz und wurde andauernd abgeändert, sodass man nie genau wusste, ob man auf die Arbeitsstelle des Vortags zurückkehrte. Das hing wohl von den Anforderungen der technischen Leiter der einzelnen Betriebsabteilungen (ebenfalls SS-Leute) ab. Wirtschaftlich gesehen war sicherlich kein Bedürfnis und keine Verwendungsmöglichkeit für die riesige Lagerbelegschaft, aber das war ja auch nicht der entscheidende Gesichtspunkt für diese Erziehungsanstalt eigener Art, um mit den erwähnten Worten des Lagerkommandanten zu sprechen.
Mehrfach habe ich in dieser Darstellung der Posten gedacht, weil sie mit uns während der Arbeit ständig in Berührung kamen. Dies waren blutjunge Kerle, von vielleicht 17 Jahren aufwärts, die anscheinend besonders darauf dressiert waren, uns Häftlinge, die wir doch vielfach ihre Väter und Großväter hätten sein können, zu quälen. Sie patrouillierten im Lager herum und begleiteten uns auf dem Weg zur und von der Arbeit im Industriewerk, wie ich dies vorhin beschrieben habe. Wir mussten vor ihnen strammstehen, die Mütze herunterreißen, wenn sie uns ansprachen, und in militärischer Form antworten. Sie waren stets neugierig, was diese Juden wohl im Zivilberuf waren, und fragten uns tüchtig aus. Ein Lagerwitz sagte, dass jemand als seinen Beruf Syndikus angegeben und dies auf die Frage, was es sei, als Volkswirt bezeichnet habe, worauf die Antwort kam: „Sag doch gleich, dass du Schankwirt bist.“ Man fragte sich bei ihrem Anblick immer wieder, was da für eine Jugend heranwächst, ohne jeden Respekt vor dem Alter, ohne die geringste menschliche Regung, Sadisten, die in die Sicherungsverwahrung gehören, statt hier Unschuldige nach Belieben peinigen zu dürfen.
Die Verpflegung im Lager bestand morgens meist aus einer Gries- oder Magermilch- oder einer anderen Suppe, einem warmen Eintopfgericht nach dem Dienst um 5 Uhr etwa (Kohl oder anderes Gemüse, sehr oft Walfischfleisch), einem halben, später einem Drittel Kommissbrot täglich sowie einem morgens zur Verteilung gelangenden Stück Leberwurst oder Sülze oder Margarine, gedacht als Aufstrich auf das Brot für das Frühstück während der Arbeitszeit beim Zählappell (um Vm). Die Verpflegung war nicht gerade schlecht, aber doch quantitativ wie qualitativ für Menschen, die im Freien körperliche Arbeit verrichten, unzureichend. Die Kürzung der Brotration war wohl die Folge davon gewesen, dass wir Juden anfänglich sehr viel Brot hatten liegen lassen, weil wir nicht genügend hungrig waren. Als dann der Appetit begreiflicherweise bei der Arbeit im Freien wuchs, war die Kürzung erfolgt, und es blieb nun auch keine Krume mehr übrig. Wie unzureichend die Ernährung ist, merkte man an dem Hunger der älteren Insassen, die sich wie wilde Tiere auf jedes Stückchen Brot stürzten, das sie am Boden sahen. Immer wieder kamen sie bei der Arbeit, besonders in der ersten Zeit, als wir noch reichlicher versorgt waren, zu uns und bettelten um Brot, obwohl dies streng verboten war (ebenso wie das Abgeben von Brot). Noch schlimmer war der Fettmangel. Die oben genannten Aufstrichmittel waren viel zu gering und viel zu wenig fetthaltig. Die Widerstandskraft all derer, die längere Zeit im Lager waren, hatte ganz außerordentlich nachgelassen.
Infolge dieser Ernährungsmängel spielte die Frage der Zukaufsmöglichkeit und -berechtigung aus der Kantine eine große Rolle. An sich war vorgesehen, dass jeder 15 RM pro Woche geschickt bekommen und dafür in der Kantine einkaufen könne. Indessen stand das, wenigstens für die Zeit meiner Anwesenheit, zum Teil auf dem Papier, und auch sonst gab es nach den Erzählungen der alten Insassen häufig Unterbrechungen in Gestalt von strafweisen Kantinensperren. Der Kassenapparat war wohl dem Ansturm einer so großen Zahl relativ zahlungsfähiger Häftlinge nicht gewachsen, und so dauerte es zunächst ca. 14 Tage, bis wir von unserem mitgebrachten, uns bei der Einlieferung abgenommenen Gelde 15 RM ausgezahlt bekamen. Jeden Tag kamen mehrere Hundert von uns zur Auszahlung, aus irgendeinem mir unbekannten Grunde trat dann eine Stockung in der Auszahlung ein, und eine Anzahl Kameraden fiel bei der Auszahlung ganz aus. Die Einkaufsgelegenheit bedeutete eine wesentliche Erleichterung in all der Not. Man kann sich schwer vorstellen, welche Rolle das Essen plötzlich auch bei Menschen spielte, die sonst keineswegs auf das Essen solch Gewicht legten. Die Stimmung hob sich geradezu bei der Idee, etwas Abwechselung in die Ernährung bringen zu können, z.B. Schokolade, Margarine, Butter, Wurst, Schinken, Käse, Milch, Bonbons, Kuchen, Weißbrot usw. zur Verfügung zu haben. Anfänglich bestand für die Judenblocks Rauchverbot, das fiel, glaube ich, mit der Auszahlung des Kantinengeldes und wurde von den Rauchern als Erlösung empfunden.
Die Kantine war gut und vielseitig versorgt, die Preise waren regulär. Interessant war zu beobachten, in welcher Reihenfolge die Einzelnen neben Eß- und Rauchwaren ihre Bedürfnisse befriedigten. Einer kaufte zuerst Toilettenpapier, ein anderer einen Rasierpinsel, den der Friseur nur für ihn verwenden sollte, ein anderer Taschentücher, ein Vierter eine Zahnbürste. Ein technisch schwieriges Problem, an dem herumexperimentiert wurde, war die Regelung des Einkaufs. Ein Einzeleinkauf in der in einem Keller untergebrachten Kantine durch so viel Menschen war unmöglich, es war ja höchstens eine Stunde zwischen Nachmittagsessen und Schlafengehen für den Einkauf frei, und auch die fiel häufig fort z. B. durch das Brausebad, durch Ausgabe neuer Wäsche, durch Straf-exerzieren, durch Annähen von Knöpfen. So gab es zeitweilig Einkäufer für jeden Block, die auf Bestellung für den ganzen Block einkauften, oder die Bestellung ging über die Tischältesten, die später eingesetzt wurden, um die Essensverteilung besser zu organisieren. Daneben erfolgte der Einzeleinkauf in der Kantine mit vielem Anstehen daselbst.
Gleichzeitig mit der ersten Geldauszahlung wurde uns von den Stubenältesten in höherem Auftrag „nahegelegt“, die allein zugelassenen Nazizeitungen „freiwillig“ zu abonnieren, und zwar möglichst mehrere Exemplare in jedem Block (Angriff, Völkischer Beobachter, Schwarzes Korps, wohl auch Stürmer). Zugelassen waren noch die Illustrierte und, glaube ich, eine naturwissenschaftliche Zeitschrift. Notgedrungen bestellten wir die Zeitungen, die vor allem auch dem Mangel an Toilettenpapier Abhilfe leisten sollten. Die Auszahlung der weiteren Kantinengelder funktionierte gar nicht, obwohl die Angehörigen meist pünktlich Geld eingezahlt hatten. Die nächste Auszahlung fand nicht nach zwei, sondern nach vier Wochen statt; die von [zu] Hause eingegangenen Gelder waren im Allgemeinen noch nicht verbucht, sodass nur der Rest des mitgebrachten Geldes zur Auszahlung gelangte. Inzwischen hatten die meisten die ersten 15 RM längst ausgegeben, manchmal auch weiterverborgt (was übrigens verboten war), waren also über die Stockung des Apparats sehr enttäuscht. Die nicht ausgezahlten Gelder sind übrigens ordnungsgemäß bei der Entlassung ausgezahlt oder später zurückgeschickt worden. In diesem Punkt war nichts zu beanstanden, manchmal ist eben die bürokratische Ordnung stärker sogar als aller Plünderungs wille.
Die Auszahlung der Kantinengelder hatte allerhand interessante Gemeinschaftsprobleme zur Entstehung gebracht. Es gab Kameraden, die sofort und gern Geld oder gekaufte Sachen abgaben oder liehen, es gab aber auch Egoisten, die alles für sich verbrauchten, ja am liebsten vor den Augen anderer ihre Genüsse verzehrten. Wer regelmäßig im Lager 15 RM zugesandt und auch ausbezahlt bekommt und dafür einkaufen kann, kann damit den Mangel der Lagerverpflegung natürlich ausgleichen. Aber wie wenige von den regulären Insassen konnten von ihren Angehörigen auf solche Hilfe rechnen? Die meisten waren schon froh, wenn sie von Zeit zu Zeit den Teil eines solchen Betrages erhielten. Es gab viele, die nie etwas geschickt bekamen und wie die wilden Tiere mit gierigen Augen auf der Lauer waren, wenn einer der bessergestellten Kameraden ein Stückchen Wurst oder ein wenig Schokolade aus der Tasche zog, ob vielleicht etwas für sie abfiele. Sie bettelten um die Erlaubnis, einen Zug aus der Zigarette zu tun. Im Lagerjargon hießen Zigarettenstummel „Kippen“. Wie viele gab es nicht, die sich auf jede Kippe am Wege gierig stürzten und sie an sich rissen, nur um sich den geliebten, so entbehrten Tabakgenuss zu verschaffen. Hier konnte man sehen, wie Not und Entbehrung Menschen tierisch machen, wie alle Hygiene aufhört und keiner mehr sich daran stößt, dass die eine Zigarette von Mund zu Mund geht.
Über den Gesundheitszustand im Lager kann ich schwer ein Urteil fällen. Es gab, besonders unter den älteren Insassen, sehr, sehr viele, die Hautkrankheiten hatten, Geschwüre jeglicher Art, Furunkeln u. dgl., offenbar die Folge mangelnder Hygiene und verminderter Widerstandkraft (Fettmangel!). Offene Wunden, die bei solcher Arbeit durch Risse, kleine Verletzungen, Abschürfungen leicht entstehen, heilten nur sehr langsam. Die scharfe Frostperiode nach dem 15. Dezember hatte die schon vorher auftretenden Erfrierungserscheinungen an den Gliedmaßen vervielfacht. Alle diese Erkrankungen wurden im Revier behandelt, in dem Häftlinge den Dienst versahen. Diese waren, wie ich immer wieder hörte, sehr freundlich und wirklich darauf bedacht, den Kameraden zu helfen. Nur war es infolge des massenhaften Andranges außerordentlich schwer, zum Revier zu gelangen, man musste viele Stunden, ja off auch mehrere Tage vor der Revierbaracke warten, bis man herankam. Das Revier war für alle Krankheiten erste Instanz, auch für Fieber, Grippe, Darmerkrankungen, Asthma, Nieren und Lunge. Der Weg zum Arzt führte über das Revier, und der Arzt stand in dem Ruf, Juden nicht behandeln zu wollen. Wer ihm nach seiner Ansicht zu Unrecht vorgeführt wurde, riskierte eine Strafe. Ich habe erfreulicherweise weder Revier noch Arzt kennengelernt und kann aus eigenem Erleben da nichts berichten.
Der Instanzenzug war für alle Krankheiten, die [ein] solch[es] Verfahren nicht vertrugen, verhängnisvoll. Mancher, der hätte gerettet werden können, verdankte ihm sein vorzeitiges Ende. Kranksein bedeutete im Lager leicht das Schlimmste. Auch der Fiebernde musste zum Appell frühmorgens, musste stundenlang vor der Krankenbaracke auf seine Abfertigung warten und riskierte, doch nicht heranzukommen. Leider kennt man ja die Zahl der Todesopfer nicht, die die Folge der unzureichenden ärztlichen Versorgung von Häftlingen waren, die ohne Rücksicht auf Haftfähigkeit verhaftet worden sind. In Sachsenhausen sind sicherem Vernehmen nach in den ersten vier bis fünf Wochen ca. 60 Menschen gestorben, später soll infolge der Kälte diese Zahl relativ gestiegen sein. In diesem Zusammenhang sei noch einer Lagereinrichtung gedacht. Es gab (siehe oben) Hunderte von Kranken, die wegen Hauterkrankung oder Verletzung der Glieder mit umfangreichen, dicken Verbänden herumliefen und buchstäblich keinen Arbeitsdienst machen konnten, weil sie eben nichts anfassen konnten. Diese waren nun nicht etwa vom Dienst befreit, sondern bildeten das so genannte „Schleichkommando“, d.h., sie mussten während der Dienstzeit ununterbrochen in Fünferreihen hintereinander durch eine große Sandmulde dicht an der Lagermauer (das so genannte „Loch“) marschieren („schleichen“). Das sollte offenbar die Neigung, sich vom Dienst zu drücken, dämpfen. So zog denn diese Kolonne, die an die Bilder vom napoleonischen Rückzug aus Russland erinnerte, unermüdlich dahin, lauter Männer mit verbundenem Kopf, Armen und Händen, Beinen und Füßen. Ein bejammernswerter Anblick!
Es ließe sich noch viel vom Konzentrationslager Sachsenhausen berichten, von seinen Menschen, seinen Einrichtungen, seinen Methoden, den Menschen zu demütigen, zu verrohen, zu erniedrigen. Wir Juden der Novemberaktion waren ja nur relativ kurze Zeit darin, wir sollten wohl auswanderungsreif gemacht werden und dies Beispiel auf die anderen alle wirken, die nicht verhaftet waren. Dieses Ziel ist auch erreicht worden. Trotzdem kam uns die Zeit wie eine Ewigkeit vor. Als unsere Entlassungen in größerer Zahl täglich stattfanden, wurden sie uns allabendlich in dem Schlafsaal bekanntgegeben. Die so Aufgerufenen mussten am nächsten Morgen frisch rasiert (darauf wurde bis zum Schluss Gewicht gelegt) zu der umständlichen Entlassungsprozedur (Einkleidung in Zivil, Entgegennahme der Wertsachen) antreten. Wie wartetejeder am Abend gespannt darauf, ob er wohl diesmal das große Los gezogen hätte, wie glänzten die Gesichter der Verlesenen, manche weinten vor Erregung, wenn sie verlesen wurden und nun wussten, dass die Sklaverei nur noch einen Tag dauerte! Und dann kamen die Bestellungen der Zurückbleibenden an die Weggehenden, die Grüße an die Familie, die Aufträge, doch alles zu tun, um zu helfen (notieren durfte man nichts, also man musste Adressen und Telefonnummern auswendig lernen).
Bis zum Verlassen des Lagers spürte man noch die eiserne Faust, die auf einem lag. Bereits in Zivil (eigene Sachen, welch kostbares Gefühl!) musste man noch stundenlang mit dem Hut in der Hand stehen und warten, bis alles recht umständlich abgewickelt war. Auch da noch ließen die SS-Führer gar zu gern ihre Willkür an den Häftlingen aus, ließen sie unter Umständen Laufschritt und Kniebeugen machen und ohrfeigten sie. Zum Schluss noch ein schriftliches Gelöbnis, nichts gegen den nationalsozialistischen Staat zu tun. Dann wurden wir von einem Posten bis zum Lagerausgang geführt, einem Schlagbaum, der auf die allgemeine Straße ging, und durften uns nun frei bewegen. Welch ein Empfinden! Was kümmerte es uns, dass unsere im Lager entlausten Sachen entsetzlich aussahen und man uns für Vagabunden halten mochte. Wir waren frei, wie jeder andere dort auf der Straße, niemand würde uns jetzt nach Belieben beschimpfen, ohrfeigen, kommandieren. Wir waren frei, selbst in diesem Deutschland, in dem sich die jüdische Lage in den Wochen unserer Abwesenheit katastrophal verschlechtert hatte. Die Leute auf der Straße und in der Bahn nach Berlin, die täglich solche Lagerinsassen nach Hause fahren sahen, blickten uns an, sie schämten sich wohl ein wenig dessen, was hier vor sich ging. Und man hörte in diesen Wochen viel Geschichten von Ariern, die auf den Berliner Bahnhöfen den an ihrem Aufzug und ihren geschorenen Köpfen erkennbaren Juden behilflich waren und ein wenig gutmachen wollten, was eine Staatsregierung hier nicht etwa nur duldete, sondern einrichtete, förderte und belohnte.
Furchtbar ist die Vorstellung, dass Tausende und Abertausende von Menschen der verschiedensten Art unter dem verschiedensten Vorwand, aber alle ohne Richterspruch, allein durch das dunkle Walten einer unkontrollierten Geheimpolizei, in solchen Lagern nun seit Jahren schmachten. Nicht Nationalsozialisten werden dort erzogen, sondern Menschenverächter, Verzweifelte voller Rachegefühle, gebrochene Existenzen, und die so genannte zivilisierte Menschheit nimmt dies, wie so vieles andere Unrecht, untätig hin.