Bericht über Ulm und Dachau
Anfang Dezember 1938 (zwischen 27.11. und 19.12.) berichtet ein Mann aus Süddeutschland über mehrere Wochen Haft in Dachau, die Misshandlung beim Pogrom Festgenommener in der Pfalz und in Ulm sowie die furchtbaren Vorkommnisse im Wiener Sonderzug nach Dachau:
Die Verhaftungen erfolgten bei uns durch Beamte der Polizei oder Gestapo, und zwar ohne jede persönliche Belästigung. Wir wurden in die Polizeigefängnisse der einzelnen Orte gebracht. Einen Tag nach unserer Verhaftung wurde uns eröffnet, wir befinden uns in vorläufiger Schutzhaft. Näheres könne nicht mitgeteilt werden. Die Listen der zu Verhaftenden müssen mindestens von vor drei viertel Jahren zusammengestellt sein, denn es stehen Leute darauf, die bereits tot oder ausgewandert waren. Auch ich wurde nach einem Beruf verhaftet, den ich bereits seit nahezu drei viertel Jahren nicht mehr ausübe.
Nachdem wir ein bis zwei Nächte im Gefängnis verbracht hatten, wurden wir durch einen Autoomnibus abgeholt und unter Bewachung von Schutzpolizei und SA, die sich während der Fahrt vollständig korrekt verhielt, nach Dachau gebracht. Diese Schilderung gilt für die Gruppenteile der süddeutschen Plätze mit Ausnahme der Pfalz und der Stadt Ulm an der Donau, wo die Leute vor ihrer Einlieferung durch SA und SS furchtbar zugerichtet wurden. Zum Teil wurden sie so sehr geprügelt, dass dies ihre Rettung wurde, denn sie mussten ins Krankenhaus überführt werden und blieben dadurch vorläufig vor dem Konzentrationslager bewahrt. Bei der Einlieferung ins Lager hatten die Leute Pech, die von ihren Frauen und Müttern ins Gefängnis Pakete geschickt bekommen hatten. Vor dem Eingang des Lagers, d. h. vor dem Autobus, hatte sich SS postiert. Diesen jungen SS-Männern wurden vom Begleitpersonal die Pakete übergeben. Die SS war mit Ruten bewaffnet. Nun wurde jeder Name aufgerufen. Der Einzelne musste sein Paket gegen kräftige Rutenhiebe abholen. Vom Glück begünstigt waren also die, die vollkommen ohne jeden Ballast im Lager ankamen.
Vom Zeitpunkt unserer Ankunft, ca. 4 Uhr mittags, bis abends etwa 10 Uhr mussten wir stehen. Dann kamen wir in den sog. Schubraum, in dem wir, d. h. ca. 3000 Menschen, in zwei größeren Zimmern die Nacht wie Vieh aufeinanderliegend verbrachten. Am nächsten Tage standen wir von morgens bis nachmittags, natürlich ohne Essen zu bekommen, auf den Gängen des Lagers, kamen dann in den Aufnahmeraum, in dem die Personalien, eventuelle Vorstrafen, frühere Parteizugehörigkeit etc. aufgenommen wurden. Dann kamen wir in den Waschraum, wurden vollständig ausgezogen, und unsere Effekten wurden in einem Sack aufbewahrt.
Eine hässliche Szene spielte sich vor dem Arzt ab. Der Reihe nach musste jeder Einzelne vor dem Arzt antreten, um Auskunft über frühere Krankheiten und dergl. zu geben. Der Schreiber, der seitlich vom Arzt saß, ein junger SS-Mann, war mit einer Rute und einem spitzen Gegenstand versehen, die er seitlich in den nackten Körper eindrückte bzw. einschlug. Die dadurch verursachten Wunden waren derart, dass sie nach zweieinhalb Wochen zum Teil noch deutlich sichtbar waren. Das Schlimmste dabei waren die seelischen Qualen, da jeder wusste: Jetzt dauert es noch fünf oder zehn Minuten, dann wirst du genauso gemartert wie deine Vorgänger. Der junge SS-Mann machte jedoch bei dieser Quälerei die feinsten Nuancen. Z. B. Leute mit schlankem, sportlichem Körper kamen mit leichten Hieben davon, während stärkere Leute schlimmer malträtiert wurden.
Sonst war der Tag der Einlieferung nur mit Ohrfeigen, Fußtritten und Rutenschlägen unterbrochen. Es wurde uns jedoch von älteren Gefangenen gleich mitgeteilt, dies gehöre zur Einlieferung, um in die Lagerdisziplin eingeführt zu werden. Sobald man eingekleidet sei, sei das Schlimmste vorüber.
Mit uns eingeliefert wurden die Leute aus dem berühmten Wiener Sonderzug. Einige hundert Männer aus Wien wurden von rechtzeitig dorthin beorderten SS-Leuten aus Nürnberg abgeholt. Sie waren im Ganzen vier Tage ohne Nahrung und fuhren in dem Sonderzug 14 Stunden. Dabei mussten sie während der Dunkelheit unbeweglich und ohne sich zu rühren in das elektrische Licht des Waggons blicken. Durch den Schmerz, den dies in den Augen verursacht, hielt das keiner auf die Dauer aus. Sobald sie aber wegblickten oder sich bewegten, bezogen sie furchtbare Prügel durch die SS-Bewachung. Damit nicht genug, wurden sie gezwungen, sich gegenseitig zu hauen. Wenn dies nicht kräftig genug geschah, half die SS nach. Die Leute kamen mit vier Toten in Dachau an, und zwar ist der jüngste Teilnehmer der Fahrt und drei ältere, die sehr jüdisch aussahen, totgeschlagen worden.
Während und kurz nach der Einlieferung in Dachau sind zwei weitere Teilnehmer der Fahrt verstorben. Die Leute hatten zum Teil keine menschlichen Gesichter mehr, sondern das Gesicht war eine einzige Masse rohen Fleisches. Von den Augen waren beide oder eins in manchen Gesichtern nicht mehr zu sehen. Mit blauen Stellen im Gesicht war fast jeder Wiener versehen. Die Leute hatten solchen Hunger, dass wir ihnen von dem aus dem Gefängnis geretteten Schwarzbrot etwas ab-gaben. Unglücklicherweise sah dies von weitem ein SS-Sturm-führer, der freilich nicht wusste, um welche Gruppe es sich handelte und welche Plagen diese Leute schon hinter sich hat ten, und er verurteilte dann die Wiener Gruppe zu einem Straf-exerzieren während dieses ganzen Nachmittags, das hauptsächlich aus unzähligen Kniebeugen bestand. Man kann sich vorstellen, wie viele dabei, nach dem, was sie schon vorher mitgemacht hatten, vollständig zusammengebrochen sind. Abends kamen wir in unsere Baracken, und zwar wurden in diesen Tagen 15-16 Blocks mit je 800-830 Juden besetzt. Es ergab sich also in Dachau eine Zahl von 12-13000 jüdischen Gefangenen. Daneben waren ca. 4-5000 arische Gefangene da. Man rechnete für Buchenwald bei Weimar sowie Oranienburg eine weit größere Anzahl Häftlinge als in Dachau. Wir schätzten die Zahl der gefangenen Juden in ganz Deutschland auf mindestens 80000.
Unsere Sträflingskleidung war viele Monate vorher, hauptsächlich durch die Schneiderei des Lagers selbst, fertiggestellt worden. Die Kleidung bestand aus einem dünnen Hemd sowie einer dünnen blau-weiß gestreiften Hose und Joppe, während die übrigen Gefangenen anständige warme Kleidung hatten. Diese Leidensgefährten sagten uns allerdings, es sei nicht direkt Absicht gewesen, uns so frieren zu lassen, sondern man hätte mit unserer Einlieferung bereits auf Frühjahr oder Sommer gerechnet. Ich hatte das Pech, unter den etwa 8000 Gefangenen zu sein, für die die Sträflingskleidung ausreichte. Die 4000 Juden, die zuletzt kamen, durften ihre Zivilkleidung behalten, da die Lagerleitung mit derart starkem Andrang anscheinend doch nicht gerechnet hatte. Diese Leidensgenossen wurden von uns natürlich als sehr glücklich gepriesen. Sie sind wenigstens nicht derart verfroren wie wir, besonders an den zwei Tagen, an denen die Temperatur unter Null sank, und an den Tagen, an denen wir im strömenden Regen standen.
Mit Ausnahme des Sonntags, wo um 6 Uhr geweckt wurde, war um 5 Uhr morgens Wecken. Die Nacht hatten wir auf Pritschen verbracht, die mit Stroh belegt waren. Das Stroh war aber so dünn und verlor sich von Tag zu Tag mehr, sodass wir am Ende meiner Gefangenschaft bereits auf dem blanken Holz gelegen haben. Wir lagen so eng aneinander, dass bei jeder Bewegung der Nachbar gestört wurde.
Zu unserer direkten Aufsicht waren frühere Gefangene bestellt, und zwar meistens solche mit rotem Abzeichen, d. h. frühere politische Gegner. An diesen Leuten konnte man interessante Beobachtungen machen. Innerlich standen sie auf unserer Seite, andererseits hatte man ihnen klargemacht, sie würden ihre eigene Entlassung fördern, wenn sie uns richtig „hochnehmen“. Somit wechselte die Behandlung von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde. Einmal waren diese Aufseher sehr nett zu uns, dann wieder mussten wir wegen einer Kleinigkeit 100 Kniebeugen machen oder auf den Fingerspitzen kriechen oder in der Kniebeuge hüpfen und was dergleichen Scherze mehr sind. Wir selbst hatten natürlich als Abzeichen ein gelbes „Mogen Dovid“ auf den ja in den jüdischen Nationalfarben gehaltenen Sträflingsanzügen. Die anderen Gefangenengruppen, die jeweils durch verschiedenfarbige Abzeichen kenntlich waren, bestanden außer den politischen Häftlingen aus Gewohnheitsverbrechern, Arbeitsscheuen und sog. Remigranten, d. h. Leuten, die aus dem Ausland zurückgekommen waren und in den Lagern auf den neuen Staat eingeschult werden sollten. Unter den politischen Häftlingen befand sich die beste Gesellschaft, z. B. frühere sozialdemokratische Abgeordnete sowie österreichische Minister; auch der Bürgermeister von Wien, Schmitz, der öfters mit anderen eine schwere Straßenwalze schieben musste. Die politischen Gefangenen bauten gerade neue Baracken für die SS.
Wir selbst mussten nicht arbeiten, sondern nur stehen und exerzieren. Das Stehen war bei der dünnen Kleidung und rauen Witterung das Gefährlichste von allem. Dies geschah täglich dreimal (samstags und sonntags nur zweimal) auf dem sog. Appellplatz. Hier musste man antreten morgens von etwa 6-8 Uhr, mittags von 1-3, abends wieder von 6-8, und zwar in Reih und Glied, nach den einzelnen Blocks geordnet. Schlimm war es, wenn die Kontrolle nicht gleich stimmte. Einmal kam es vor, dass ein Mann zuviel gezählt wurde, und wir mussten statt zwei Stunden fünf Stunden stehen. Einmal wurden uns durch den Lautsprecher verschiedene belanglose Mitteilungen gemacht, was ebenfalls etwa fünf Stunden dauerte. Und einen Samstagmittag sind wir ebenfalls aus nichtigen Gründen sechs Stunden gestanden.
Jeden Tag kamen neue Gegenbefehle, die die anderen aufhoben. Es wurde also einen Tag verordnet, die kranken und alten Leute dürften in der Baracke bleiben, die man sonst nur von abends bis morgens und manchmal zum Esseneinnehmen betreten durfte. An einem anderen Tag wurde aber die Bestimmung wieder aufgehoben, und die alten und kranken Leute mussten ebenfalls marschieren. Es befanden sich unter uns zahlreiche Leute von 65, 70 und 75 Jahren.
Nach der Einkleidung wurden von der SS nur noch selten Leute angerührt, und zwar nur dann, wenn sie schlecht im Glied standen oder sich sonst irgendwie nach Ansicht der SS undiszipliniert benahmen. Sonst mussten wir die Auswahl der Ruinierten und Sterbenden unter uns selbst treffen, d.h., es wurde niemand direkt totgeschlagen, sondern die schwächsten Körper fielen dieser Lagerordnung zuerst zum Opfer, dann die nächstschwächsten etc. Es ist klar, dass daher die meisten Todesfälle sich unter den älteren Leuten ereigneten. Wir zählten in den ersten zweieinhalb Wochen ca. 50-55 Tote. An einem Tag, etwa zwei Wochen nach der Einlieferung, wurden vom Arzt als Höchstzahl an einem Tag elf Tote angegeben. Einige Gefangene haben die Nerven verloren und gingen nachts aus der Baracke heraus. Es war uns rechtzeitig mitgeteilt worden, dass dies unter das Standrecht falle, und tatsächlich wurden auch diese Leute „auf der Flucht erschossen“, d. h. von den nächtlichen Patrouillen der SS getötet. Einzelne, deren Namen genannt wurden, sollen sich infolge ihrer zusammengebrochenen Nerven in einen Wortwechsel mit der SS eingelassen haben und sind selbstverständlich erschossen worden. Die weitaus größere Zahl starb an Magenschluss, Lungenentzündung, Herzschlag, Fieber und anderen Krankheiten.
Die Meldungen zum Arzt wurden um 4 Uhr nachmittags angenommen, und die Vorführung beim Arzt erfolgte dann um 10 Uhr des nächsten Vormittags; und wenn zu großer Andrang war, um 10 Uhr des darauf folgenden Tages. Solange die Leute nicht vom Arzt ins Revier gesprochen wurden, was nur in ganz dringenden Fällen geschah, mussten sie beim Appell wie jeder andere mit antreten. Wir haben also abends und morgens Sterbende zum Appellplatz mitgeführt, und es ist auch passiert, dass die Leute während des Appells tot zusammengestürzt sind.
Entlassungen wurden nach folgenden Gesichtspunkten vorgenommen:
1. Leute über 60 Jahren, jedoch nicht alle, nur teilweise.
2. Leute, die ihre Auswanderung fix und fertig hatten und innerhalb ganz kurzer Frist Deutschland verlassen konnten.
3. Leute, die zu Geschäftsverkäufen unerlässliche Unterschriften zu leisten hatten.
4. (jedoch nur in den letzten Tagen vor meiner Entlassung) Leute mit besonderen Verdiensten und Verwundungen im Weltkrieg.
Bei der Entlassung wurden die Auswanderer darauf aufmerksam gemacht, dass sie mit ihrer Familie lebenslänglich ins Konzentrationslager kommen, falls sie sich noch einmal auf deutschem Boden blicken ließen. Die Auswanderung wurde auch dadurch „erleichtert“, dass für die bayrischen Gefangenen der Notar nach Dachau mit einem Partei-Rechtsanwalt ins Lager kam, und alle die, die Grundstücke, Geschäfte und dergl. hatten, mussten dem Rechtsanwalt Vollmacht geben, alles bestmöglich zu verkaufen, sodass ihnen selbst bei der Vernichtung ihres Vermögens jede Mühe genommen war.
Bei meiner Entlassung kamen noch eine Anzahl meiner Kameraden zu mir, warfen sich auf den Boden und versprachen mir ewige Dankbarkeit, falls ich es fertigbringen würde, dass sie in ein ausländisches Zuchthaus kämen. Sollte meinen Kameraden, die noch in Dachau sind, ein eingemauertes Territorium im Urwald zur Verfügung gestellt werden, so würden sie Tag und Nacht für den beten, der ihnen dieses große Glück bringen würde.
Sollte in Deutschland oder im Ausland noch einmal ein Jude einen Schuss abgeben oder dem Regime dort sonst eine Handhabe gegeben werden, so ist es sicher, dass kaum einer der jetzt noch in Deutschland lebenden Juden mit dem Leben davonkommt.
Der Bericht stammt laut Brief vom 19. Dezember 1938 vom Landessekretariat S. I. G. in Zürich, Löwenstrasse 1. Er ist vom Büro des Lokalsekretariats S. I. G. Zürich aufgenommen worden, da das Mitglied des Loka[l]comites, das die Berichterstattung selbst durchführen wollte, zurzeit krank ist.