Bericht über Dachau
Am 22. November 1938 verfasst ein Münchener einen Bericht über seine Erlebnisse in Dachau:
Die Verhaftungen in München begannen ab nachts 3 Uhr (vom 9. zum 10. November). Meist wurden die Leute in anständiger Weise aus den Wohnungen heraus verhaftet und zur Politischen Polizei geführt. Dort wurden die Personalien aufgenommen, alles in anständiger Weise. Dann begann der Abtransport nach Dachau in Autobussen. In München wurden auch Kranke verhaftet, selbst aus den Betten in den Krankenhäusern holte man sie heraus. Auch sie wurden nach Dachau gebracht, ebenso Greise im Alter bis zu 75 Jahren.
Bei der Einlieferung ins Lager wurden alle aufs schmählichste behandelt. Wir mussten uns in Reihen aufstellen. Jeder Einzelne bekam von verschiedenen SS-Leuten furchtbare Prügel und Ohrfeigen. Unzählige Leute haben davon blaue und geschwollene Augen davongetragen. Speziell die Rabbiner wurden schlecht behandelt. Einem orthodoxen Rabbiner mit schwarzem Bart wurden die Haare einzeln ausgerissen.
Nach den Prügeln, die wohl von oben herab befohlen waren, wurden wir weggeführt zur Aufnahme eines vierfachen Photos. Bei dieser Gelegenheit bekam der eine oder andere wieder ein paar heftige Ohrfeigen. Dann wurden wir wieder in ein anderes Haus geführt. Dort wurden die Taschen entleert. Jeder nahm seine eigenen Dinge aus den Taschen mit und gab sie an der Garderobe ab. Mitnehmen durfte man nur Taschentücher und das Silbergeld. Über das übrige Geld wurde eine Empfangsbescheinigung erteilt. (Ich betone bei dieser Gelegenheit, dass ich meine sämtlichen abgelieferten Sachen restlos zurückerhalten habe. Es hat nichts gefehlt, auch kein Geld.) Es ging weiter, und man musste sich nackt ausziehen. Die Kleider wurden ebenfalls an der Garderobe abgeliefert. Dann wurden wir durch einen Saal getrieben, wo ungefähr zehn Leute auf Hockern saßen, arische Gefangene, die schon jahrelang dort sind und denen man sich gegenübersetzen musste. Im Nu waren mit einer Maschine jedem einzelnen die Haare geschnitten, die Leute mit Bärten wurden auch rasiert. Es ging in einen weiteren sehr hygienisch eingerichteten Saal, nachdem vorher die Kleidung gefasst wurde. Diese bestand aus Hose, Rock, einem kurzen Hemd, Strümpfen und Schuhen. Wie wir nachträglich erfuhren, war die Kleidung für den Kriegsfall - blau-weiß (zionistische Farben) gestreifte Drillichanzüge - bereits zurechtgemacht. Auf den Jacken, die wir erhielten, waren ein rotes Dreieck und darüber ein gelbes, also der „Mogen Dovid“, aufgenäht. Später mussten wir dann noch eine mit Druckbuchstaben fertiggestellte Gefangenennummer selbst aufnähen.
Im Saal selbst wurde geduscht und gewaschen, und danach ging es zur ärztlichen Untersuchung. Bei dieser Gelegenheit möchte ich bemerken, dass irgendwelche zu leistende Arbeit im Lager von arischen Gefangenen ausgeführt wird, die sich zum Teil schon jahrelang im Lager befinden und für eine Art Vertrauensstellung gegenüber den neu ankommenden jüdischen Häftlingen verwandt werden. Diese arischen Gefangenen benehmen sich durchaus würdig und hoch anständig. Ein arischer Gefangener nimmt nochmals die Personalien auf, fragt nach Kinderkrankheiten und früheren Gebrechen oder vorhandenen Leiden, macht aber schon gleichzeitig im Flüsterton darauf aufmerksam, gewisse Dinge nicht zu melden. Man tritt dann beim Arzt vor und erhält in der Zwischenzeit zum Teil schon wieder Prügel. Wer sich nun beim Arzt, wenn er an die Reihe kommt, nicht mit „Schutzhaftjude“ und seinem Namen meldet, bekommt wiederum furchtbare Prügel. Der Arzt fragt nicht viel, lässt die Leute sich herumdrehen, und wer nicht rasch genug davoneilt, bekommt einen Fußtritt. Hat jemand eine Operationswunde am Körper, so kann er bestimmt damit rechnen, diverse Ohrfeigen zu bekommen.
Dann mussten wir uns anziehen, wurden gesammelt und mussten zu je 200 Mann abzählen, die dann in eine der Lagerbaracken geführt wurden. Diese Baracken sind hygienisch einwandfrei. Die Stuben sind eigentlich für 50-70 Leute bestimmt und müssen eben jetzt 200 Leute aufnehmen. In den Stuben selbst war es aber auszuhalten, denn sie sind gut geheizt, und das Strohlager ist nicht das schlechteste.
Nach einer kurzen Einteilung wurden wir auf den großen Platz geführt, und dort mussten wir von morgens 10 bis nachts hi Uhr stehen. Es war kalt (die nach uns Ankommenden bekamen keine Mützen mehr und froren also an den geschorenen Köpfen). Das Stehen war furchtbar. Denn während dieser Zeit gingen immer SS-Leute um die Abteilungen herum und schlugen den einen oder anderen furchtbar. Die Art der Behandlung war tierhaft. Man behandelt Tiere in Deutschland bestimmt besser. Es würde ein jeder wegen Tierquälerei bestraft werden, der sich derart an Kreaturen vergreift. Während wir standen, kamen immer und immer weiter endlose neue Reihen von Juden an, und wir mussten feststellen, dass wir zuerst Angekommenen gegenüber den Neuankommenden noch gut behandelt wurden. Die SS-Mannschaffen müssen sich anscheinend auf Befehl von oben so benehmen. Denn selbst wenn ein SS-Mann mal eine Zeitlang nichts tat, so konnte man feststellen, dass sich ihm ein Vorgesetzter SS-Mann näherte, daraufhin begann er sofort wieder mit lauten Beschimpfüngen und wurde erneut tätlich.
Nachts um hi Uhr wurden wir dann in die Stube geführt, wobei uns gesagt wurde, dass es zu spät zum Essenfassen sei. Man könne aber noch etwas warmen Tee haben. Es gab aber leider nicht genügend, sodass er nicht für alle ausreichte.
Am anderen Morgen um 5 Uhr mussten wir aufstehen. Wir bekamen warmen Kaffee und Kommissbrot, das beides sehr gut schmeckte. Gegen ½ 7 Uhr musste zum Appell gegangen werden, wozu man schon um 6 Uhr antrat. Das dauerte einige Stunden, teils stillgestanden, teils rührt euch. Und wieder gab es entsprechende Prügel.
Tagsüber wurden vor den Barackenlagern Namen verlesen und Listen aufgestellt, abends um ½ 7 Uhr ging es wieder zum Appell, der wieder einige Stunden dauerte mit entsprechenden Prügeln. Und immer noch trafen endlose Züge von Juden ein. Im Ganzen befinden sich im Lager etwa 15-18 000 Juden. Etwa am dritten Tag hörten die Misshandlungen auf. Unsere Truppe hatte sich zu einer gegliederten Masse entwickelt, die wusste, dass nur eiserne Disziplin, eisernes Stillstehen und Geradeausschauen beim Nähern von SS-Leuten, damit sie nicht zum Schlagen veranlasst wurden, nötig war.
Je 200 Leute unterstehen einem Stubenältesten, einem so genannten Capo (Caporale). Den Namen trägt er auf einer Armbinde. Dieser Capo ist ein arischer Gefangener, der in den meisten Fällen bereits vier bis fünf Jahre, also seit Beginn des Regimes, inhaftiert ist, meistens ein früherer Kommunist. Der Mann muss natürlich Zucht und Ordnung unter seine Leute bringen, ist darum manchmal etwas grob, aber in nahezu allen Fällen ein durchaus gutmütiger und anständiger Mensch. Unser Capomann sagte einmal zu uns: „Wer das vergisst, was er hier erlebt hat, dem gehört ins Gesicht gespuckt.“ Er fuhr dann fort, dass man die Willenskraft aufbringen müsse, durchzuhalten. „Und wenn die SS nur sehen, dass man Willen hat, dann lassen sie einen auch in Ruhe. Aber Disziplin muss herrschen.“
Die Verpflegung war in jeder Beziehung sowohl reichlich als wohlschmeckend. Es gab z. B. sehr gute Linsensuppe, sehr gute Graupensuppe oder Gelbe-Rüben-Suppe, abends Kartoffeln mit Blutwurst, Leberwurst oder Hering z.B., meistens dazu noch etwas warmen Tee. Dazu gab es reichlich Kommissbrot, das auch sehr gut ist. Sehr schlimm dran sind aber die orthodoxen Juden, die nur von Brot und in der Kantine zu kaufender Butter, Käse, evtl. auch einmal Keks leben können. Man musste diese Leute oft durch Schwindel dazu bringen, etwas Warmes zu essen.
Am dritten oder vierten Tage wurde die Erlaubnis gegeben, in der Kantine zu kaufen. Man bekommt dort nahezu alles, was der Mensch braucht: z.B. Strümpfe, Fußlappen, Rasierapparate, Zahnbürsten, Zahnpasten, Trinkgläser, Zigaretten, Esswaren usw. Davon wurde natürlich reichlich Gebrauch gemacht. Die Stimmung im Lager war verhältnismäßig gut und kameradschaftlich, schon infolge der Tatsache, dass keiner, ob arm oder reich, von dem Schicksal ausgenommen ist. Zu leiden hatten wir vor allem unter der Kälte, und besonders zu leiden hatten die bereits krank Eingelieferten, von denen wohl der größte Teil in der Zwischenzeit bereits gestorben ist und weiter sterben wird.
Keiner traut sich, sich ins Revier, d. h. zum Arzt, zu melden, nachdem verschiedene furchtbare Fälle bekanntgeworden sind. Zum Beispiel konnte ich beobachten, dass zwei arische Krankenträger einen Mann, der von SA-Leuten getreten und geschlagen war, bis er ohnmächtig wurde und sich nicht mehr erheben konnte, ins Revier trugen. Nach einer knappen Viertelstunde kamen die beiden Krankenträger mit dem Kranken auf der Bahre zurück, schmissen den Mann rücksichtslos von der Bahre auf die Erde und entfernten sich. Der Arzt hatte gesagt, dem Mann fehle nichts. Diejenigen, die ins Revier geschafft werden, sterben meistens. Es ist natürlich niemand beim Tode anwesend.
Zu den Appellen morgens und abends mussten sämtliche Leute, auch die kranken, antreten. Es gab natürlich viele Leute, die keinen Schritt mehr machen konnten. Sie wurden dann von zwei Leuten getragen und stellten sich dann, gestützt oder getragen, hinten an. Es waren Dutzende, die so antreten mussten. Die menschlich fühlenden Capos ließen diese kranken Leute in der Zeit zwischen den Appellen in den Stuben im Stroh liegen. Und natürlich bemühen sich die Kameraden, ihnen das Leben so gut wie nur möglich zu gestalten. Auch Schwerkriegsverletzte, selbst solche mit nur einem Bein, befinden sich im Lager.
Zwischen den beiden Appellen morgens und abends sind die Gefangenen gewissermaßen sich selbst überlassen. Sie stellen sich unter Obhut von früheren Chargen, Offizieren und exerzieren in den engen Lagerstraßen. Wer über die Lagerstraßen hinausgeht oder z.B. nach dem Abendessen, nachdem es heißt, [sich] schlafen legen, die Baracken verlässt, auf den wurde rücksichtslos geschossen. Mehrere derartige Fälle habe ich miterlebt. Auch schießt die SS nachts rücksichtslos in die in den Baracken befindlichen Waschräume, sofern einer mit Licht sich darin aufhält. Auf den Türmen an den beiden Eingängen zum Lager befinden sich Maschinengewehre, die dauernd auf die Gefangenen gerichtet sind. Mancher hat gebetet: Wenn sie nur unter uns aufräumen würden!
Die arischen Gefangenen werden genauso schlecht behandelt wie die Juden. Bei den jüdischen Gefangenen, die später kamen, konnten wir bei den Appellen feststellen, dass die SS noch sadistischer geworden war, noch ärger zuschlug. Alle Juden sind sich darüber einig, dass jeder Einzelne alles aufgeben möchte, er will nur aus dem Lager heraus, irgendwo in ein Durchgangslager, und würde gern sein ferneres Leben mit seiner Hände Arbeit fristen, nur heraus aus dieser Hölle.