Bericht über Buchenwald
Nach 12. Dezember 1938 berichtet Dr. Willy Schiller, 39 Jahre, Syndikus aus Hindenburg in Oberschlesien, über die Misshandlungen in der Bahnhofsunterführung in Weimar und über seine Erlebnisse in Buchenwald bis zu seiner Entlassung am 9. Dezember; erwähnt werden Einzelschicksale von Häftlingen aus Gleiwitz, Nordhausen, Hindenburg und Beuthen:
Als in meiner Heimat die Synagoge in Brand gesteckt wurde, wurden wir verhaftete Juden in eine Schule, die der Synagoge gegenüberliegt, gebracht und gezwungen, von dort aus das Niederbrennen der Synagoge mit anzusehen und gleichzeitig untätige Zuschauer zu sein, als SS-Leute mit der Sseferthora Fußball spielten. Dann kam ein SS-Mann zu uns, ließ sich den Rabbiner vorführen und ihm den Bart abschneiden. Dann versuchte er ein Religionsgespräch mit ihm zu beginnen, das dieser jedoch ablehnte. Er ging dann mit den Worten: „Wir sind doch stärker als euer Jehova“ fort.
Wir wurden dann nach Buchenwald gebracht, einem Lager, das insgesamt etwa 22000 Insassen hatte, 10000 ordentliche und 12000 aus den Verhaftungen vom 9. November. Dort empfing uns eine Alarmbereitschaft Hitler in Grau, alles kraftstrotzende junge Leute von 18-23 Jahren. Die Alarmbereitschaft bestand aus etwa 2500 Mann. Wir wurden mit Gewehrkolben in einen Tunnel getrieben, ohne Rücksicht darauf, dass über 70-Jährige unter uns waren - der Jüngste war 14 Jahre. Viele brachen zusammen durch die Ermattung infolge der langen Reise, durch das Gedränge in dem engen Tunnel und durch die Hiebe mit den Gewehrkolben.
Mit uns eingeliefert wurden etwa 3000 Mann aus Schlesien. Im Lager befanden sich 3000 aus Frankfurt am Main, 3000 aus Breslau und 1000 aus Kassel und Leipzig, im Lager befanden sich auch noch die Wiener Juden aus der sog. Juni-Aktion - es handelte sich hierbei um 5000, die eingekleidet waren. Wir wurden von diesen getrennt untergebracht, an der anderen Seite eines Drahtzaunes, und zwar in provisorischen Baracken. Die Verhafteten aus der Juni-Aktion hießen Aktionsjuden, während wir die Novemberjuden genannt wurden. Die Aktionsjuden wurden in keiner Weise beschäftigt, der Kommandant erklärte: „Wir haben keine Arbeit und kein Fressen für die Aktionsjuden.“
Ich will noch bemerken, dass wir in dem Tunnel, der schlauchförmig war, uns mit der Front zur Breitseite unter fortwährenden Schimpfreden der SS-Leute aufstellen und in dem fürchterlichen Gedränge unsere Rasiermesser nach rückwärts abwerfen und militärische Wendungen ausführen mussten. Dabei verrenkten sich viele die Knochen und wurden ohnmächtig. Die Anreden erfolgten abwechselnd mit den Worten: Jude, Zuhälter, Betrüger, Talmudgauner usw. Wir wurden dann gefragt, was wir bisher gewesen wären, und jede Antwort oder Schweigen mit einem Kolbenhieb beantwortet, sodass schließlich fast alle bluteten. Besonders schlimm wurde ein Rabbiner Ochs aus Gleiwitz misshandelt.
Infolge der Stöße mit den Gewehrkolben wurden eine so große Reihe ohnmächtig, dass ein Polizeihauptmann schließlich Einhalt gebot. Die in blauer Uniform gekleideten normalen Polizeibeamten haben sich ordentlich benommen, einer hat sogar geweint, weil er diese unglaubliche Quälerei im Tunnel, die eineinhalb Stunden dauerte, nicht ansehen konnte. Wir mussten die ganze Zeit die Köpfe gebeugt halten und konnten an sich schon uns nicht aufrecht halten, weil wir ohne Nahrung ca. 14 Stunden unterwegs gewesen waren.
Wir wurden dann zu dem Polizeiwagen geführt. Wer dabei stolperte oder sonst wegen Blutverlust [fiel], blieb eben liegen, ohne dass sich jemand um ihn kümmerte. Auf den Wagen wurden wir mit Peitschen getrieben - er war ca. eineinviertel Meter über dem Erdboden, sodass es besonders den Älteren fast unmöglich war, da jegliche Hilfe fehlte, hinaufzukommen. Der Wagen war mit Planen geschlossen - wir hatten den Befehl, auf die Erde zu sehen, damit wir nicht wahrnehmen konnten, was draußen vorging. Auf den Trittbrettern standen SS-Leute, die durch Gucklöcher in das Wageninnere sahen und zu ihrer Erheiterung ab und an durch diese Löcher einen Kopf herauszogen und so lange auf ihn einschlugen, bis der Mann ohnmächtig in den Wagen zurückfiel.
Als wir im Lager ankamen, wurden wir mit Gewehrkolben heruntergetrieben und mussten über Schotter im Laufschritt, wieder von Gewehrkolben angetrieben, zum Appellplatz laufen. Auf dem Tor, das den Eingang zum Lager bildet, sind in Höhe von etwa vier Metern fünf bis sechs Maschinengewehre, ein Lautsprecher und die Scheinwerfer eingebaut - außerdem befindet sich dort das Zimmer des Lagerfiührers, der den Titel Vicekommandant führt. Wer bei dem Dauerlauf zu dem Appellplatz liegen blieb, wurde mit der Peitsche geschlagen. Wir wurden dann nach Orten geordnet - dabei stellte sich in unserer Gruppe heraus, dass viele bluteten und zerbrochene Glieder hatten. Nachdem wir dann drei bis vier Stunden gestanden hatten, ohne etwas Essen oder Trinken erhalten zu haben und ohne austreten zu dürfen, wurden wir zum Lagerbarbier gebracht und uns dort die Haare geschnitten, die wir auffangen mussten. Wir mussten dann wieder stundenlang stehen, bis schließlich durch ältere Häftlinge ein Protokoll aufgenommen wurde.
Wir wurden im Gegensatz zu den im Juni Verhafteten nicht eingekleidet und - wie bereits bemerkt - auch nicht beschäftigt. Der Vicelagerkommandant, der übrigens ein Träger des Blutsordens ist, erklärte, für diese Schweine hätte er keine Beschäftigung. Durchfroren und hungrig kamen wir dann in die provisorischen Baracken, die 250x8 Meter groß und vier Meter hoch waren. Der Boden war nackter Lehmboden, Torf. An den Wänden zogen sich wie Fächer in einem Regal 70 cm übereinander fünf Bretter hin, auf denen wir schlafen mussten, sodass die Häftlinge, die im obersten fünften Fach schliefen, eine ziemliche turnerische Leistung jedes Mal zu vollbringen hatten. Blockwart bei uns war ein oft vorbestrafter Zuchthäusler mit Namen Strauss aus Frankfurt. In unserer Baracke lagen 3000 Mann.
Täglich fand Appell statt. Wir mussten ungefähr fünf bis sechs Stunden stehen. Der Lagerkommandant nannte uns seine „Vögel“ und begann den Zählappell damit, dass er fragte, ob alle „Vögel“ da wären. Die Appelle fanden später nicht mehr regelmäßig statt. Ein junger Chasen Zeidler aus Nordhausen wurde von einem Unterscharführer Zöllner zu Tode gepeinigt. Am Tage des Begräbnisses wurde sein 69-jähriger Vater herausgesucht, einen halben Meter über der Erde an einen Baum gebunden und, nachdem er dort eine halbe Stunde an einem Strick gehängt hatte und die Leichenstarre bereits eingetreten war, auf die Erde gelegt, nicht ohne dass ihm dieser entmenschte Scharführer noch einen Tritt mit dem Fuß in den Unterleib gegeben hätte.
Bis zu meinem Fortgange aus dem Lager am 9. Dezember sind 4% unserer Belegschaft gestorben. Ein Kamerad, der am 12. entlassen ist und den ich hier sprach - er ist unbedingt zuverlässig erzählte mir, dass von 250 während der Kältewelle 17 erfroren sind. Vor der Entlassung mussten wir wieder 12 Stunden stehen, obwohl wir alle nicht gesund waren - ich z.B. hatte Kopfgrippe. Wir wurden dann rasiert und geschoren. Das Essen war erträglich, aber zu wenig, Wasser war völlig unzulänglich. Besonders schlimm waren die Latrinenverhältnisse, es waren einfach ausgehobene Gruben, über die breite Stangen gelegt waren. Es ist mehr als einmal vorgekommen, dass Leute in der Latrine ertrunken sind. Auch habe ich gesehen, dass ein SS-Mann einen Juden hereingestoßen hat. Ein provisorisches Revier war eingerichtet, in das aber nur Sterbende oder Wahnsinnige kamen - Wahnsinnsanfälle waren an der Tagesordnung. Da es an Medikamenten fehlte, haben wir RM 400.- gesammelt - sie wurden uns aber schließlich dann nicht gegeben, mit der Begründung, jüdische Ärzte wären ja so tüchtig, die könnten auch ohne Medikamente heilen. Ein Breslauer Arzt wurde wahnsinnig, weil er diese Vernachlässigung schwerkranker Menschen nicht mehr mit ansehen konnte. Wir hatten beobachtet, wie er von Stunde zu Stunde sich mehr darüber erregte.
Erkältungskrankheiten durch verfaultes Schuhwerk waren an der Tagesordnung. Die meisten von uns zogen die Stiefel überhaupt nicht aus, weil sie durch das ewige Gehen in dem tiefen Morast derart durchweicht waren, dass man sie kaum von den Füßen bekommen konnte.
Bei den Appellen wurden Prügelstrafen verhängt und vollzogen. Es gab dann je nach der Laune des Kommandanten 20-30 Hiebe, oft nur deshalb, weil ein Papierschnitzel auf der Stelle gelegen hatte, wo der Häftling stand.
Die Leichen wurden in die dafür bestimmte sog. Waschküche gebracht; ich selbst habe 25-30 heraustragen sehen. Von 97 Häftlingen aus Hindenburg sind vier gestorben (u. a. Roth, Ehrlich und Berg), aus Gleiwitz von 95 fünf. Bei Frost erhöhten sich die Ziffern. Das war die Sterblichkeit in knapp drei Wochen.
Unsere Entlassung wurde dann durch Lautsprecher bekanntgegeben. Wir mussten wieder einmal, obwohl Grippeerkrankungen zahlreich waren, zehn Stunden stehen, dann wurden uns die Haare geschnitten, und wir mussten wieder zehn bis zwölf Stunden stehen, wurden dann auf die Kommandantur geführt, wo wir die bekannten Reverse unterschreiben mussten, dass wir keine Ansprüche hätten, gut behandelt wären und nichts über das, was wir erlebt hätten, erzählen würden. Obwohl wir alle krank waren, erfolgte die ärztliche Schlussuntersuchung lediglich auf Striemen und sonstige körperliche Veränderungen, die einen Rückschluss auf Misshandlungen hätten zulassen können. Waren solche vorhanden, so unterblieb die Entlassung.
Bei dem oben erwähnten Rabbiner Dr. Ochs wurde Höhensonne angewandt, um die Narbenentfernung zu beschleunigen. Bei der Entlassung wurde uns dann von dem Oberscharführer erklärt, wir dürften nicht mit dem Schnellzug [fahren], und wer zum zweiten Male wiederkäme, bliebe immer im Lager. Einer der Entlassungsgründe war Arisierung des Geschäftes. Zu diesem Zwecke wurde der Vertrag dem Lagerkommandanten eingesandt, damit der Inhaftierte ihn unterschrieb. Als ein Moritz Heimann aus Beuthen den Vertrag vor der Unterschrift sehen wollte, sagte der Oberscharführer: „Du Jude hast nicht zu sehen, du musst unterschreiben.“
In dem Lager befand sich, wie ich noch bemerken will, ein kleiner zoologischer Garten mit Doggen, Bären und Adlern.
Bericht von Dr. Willy Schiller, Syndikus, 39 Jahre alt, Hindenburg in Oberschlesien