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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über Frankfurt und Buchenwald

Im Januar 1939 verfasster Bericht eines inzwischen ausgewanderten Frankfurter Arztes über seine Verhaftung am 10. November 1938, die Sammlung der Verhafteten in der Festhalle, seine Erlebnisse in Buchenwald bis zur Entlassung am 19. November und die Reaktionen der Bevölkerung auf der Rückfahrt nach Frankfurt:

Am 10. November um ½ 10 Uhr morgens, etwa eine halbe Stunde nachdem ich erfahren hatte, dass in der Stadt die Synagogen brennen und Verhaftungen stattfinden, erschien ein Polizeibeamter bei mir, um mich zu verhaften. Auf meine Frage, was vorliege und wie lange meine Vernehmung auf dem Polizeirevier dauern würde, antwortete er, er wäre lediglich ausführendes Organ. Er benahm sich nicht besonders freundlich, aber absolut korrekt. Ich wurde von ihm nach dem Polizeirevier gebracht, wo meine Personalien aufgenommen wurden und ich kurz auf Waffen untersucht wurde. Darauf wurde ich in das Sitzungszimmer der danebenliegenden Synagoge gebracht, wo bereits etwa 20 andere Verhaftete anwesend waren. Nach einer knappen halben Stunde wurden wir mit Autobussen in die Festhalle transportiert, wo bereits mehrere andere Abteilungen von Häftlingen, schätzungsweise 100, versammelt waren, deren Zahl sich im Laufe des Tages auf etwa 500 vergrößerte.

Hier mussten wir bis kurz vor 7 Uhr abends stehen, nur für die älteren, etwa über 65-Jährigen waren wenig Stühle vorhanden, auf die sie sich zuweilen setzen konnten. Austreten war in Abteilungen von etwa 20 Mann gestattet. Die Aufsicht führte hier im Allgemeinen die reguläre Polizei. Nur zuweilen erschien ein anscheinend höherer SS-Offizier, der sich durch grobes unflätiges Schimpfen auszeichnete.

In der Festhalle wurde uns von Polizeibeamten gegen Quittung Geld, Uhren, Brieftaschen usw. abgenommen. Die Behandlung durch die Polizeibeamten war im Allgemeinen korrekt, nur einige, darunter der Wachthabende, ein noch ziemlich junger Polizeihauptmann, leisteten sich zuweilen verletzende Redensarten, z. B. sagte er, als sich einige unterhielten: „Das Mauscheln könnt ihr in eurer Synagoge tun.“ Es fiel mir dieser Ton besonders auf, da man von ihm als Offizier eigentlich einen anderen Ton erwartet hätte. Ohne etwas zu trinken oder zu essen erhalten zu haben (einige hatten etwas Essen mit und konnten dies verzehren, teilten es auch mit solchen Kameraden, die nichts hatten), wurden wir kurz vor 7 Uhr abends wieder in Autobusse verladen und nach dem Südbahnhof gebracht. Hier mussten wir erst einige Zeit in einer zugigen Unterführung stehen, bis wir in einen bereitstehenden Sonderzug dritter Klasse Personenwagen verladen wurden, dessen Türen verschlossen wurden. Es wurde uns mitgeteilt, dass, sowie ein Fenster geöffnet werden würde, scharf geschossen werden würde.

Nachzutragen ist noch, dass in der Festhalle eine Abteilung jugendlicher Verhafteter war, anscheinend eine Schulklasse oder die Insassen eines Lehrlingsheimes. Diese mussten öfter, ohne dass dies aber in Quälerei ausartete, marschieren, Laufschritt machen und Ähnliches und dazu singen, z.B. „Das Wandern ist des Müllers Lust“. Nur dieser Zwang zum Singen zeigte uns, weniger vielleicht den Kindern selbst, die Gemütsrohheit des Wachtpersonals. Diese Kinder wurden übrigens gegen Abend entlassen, ebenso wie diejenigen, die über 65 Jahre alt waren, und einige, die anscheinend direkt vor der Auswanderung standen. Auf der anderen Seite wurde aber z. B. ein alter Herr, Landgerichtsdirektor oder Landgerichtsrat a. D., der mindestens 68 Jahre alt war und nur mit Unterhosen und einem Schlafrock bekleidet war und körperlich und psychisch stark senil war, mitgenommen bei der schon recht empfindlichen Kälte. Ich traf ihn in Buchenwald wieder, wo er erst nach einigen Tagen, ich weiß nicht von wo, Hosen und Rock bekommen hatte.

In unserem Eisenbahnabteil war eine Bewachung sonst nicht vorhanden. In Weimar, wohin der Zug ohne Aufenthalt durchfuhr, wurden wir ausgeladen, und hier begann bereits ein anderer Wind zu wehen, da wir aus den Händen der Polizei in die der SS (so genannte Verfügungstruppe) übergingen. Wir wurden auch hier in einer Unterführung aufgestellt, ganz eng, die erste Reihe ganz dicht an der Wand. Wenn einer nicht richtig stand oder sich bewegte, gab es auch gelegentlich einen Stoß. Dann wurden wir in Transportautos verladen, wo es, wenn es nicht schnell genug ging, ebenfalls Stöße setzte. Es war Befehl, den Kopf gesenkt zu halten. Ich tat dies auch, war auch bei der Fahrt etwas eingeschlafen, als ich plötzlich einen Schlag über den Kopf bekam und mich der SS-Mann wütend anschrie, dass ich aus dem Wagen gesehen hätte.

Nach etwa 10 km langer Fahrt kamen wir um etwa 2 Uhr am Tor des Konzentrationslagers Buchenwald an. Das Aussteigen musste sehr schnell erfolgen, wenn es nicht schnell genug ging, wurde dazwischengeschlagen. Ich hatte in Unwissenheit, dass man im Lager keinen Hut aufbehalten dürfe, wie auch die meisten anderen, den Hut aufbehalten, der mir samt Brille von einem der Spalier bildenden SS-Leute heruntergeschlagen wurde, die er mir allerdings selbst, da ich sie nicht fand, wieder aufhob. Dann ging es im Laufschritt über den Versammlungsplatz des Lagers, wobei diejenigen, die zu langsam waren, auch wieder mit Stockschlägen angefeuert wurden. Hier wurden wir wieder in Kolonnen aufgestellt, wobei in mehr oder weniger liebenswürdiger Weise nachgeholfen wurde, und die Personalien aufgenommen. Jeder bekam eine auf einem Stück Leinwand aufgedruckte Nummer, und es wurde uns mitgeteilt, dass der Verlust dieser Nummer nebst einigen anderen Todes- und Höllenstrafen erst einmal mit 25 Hieben geahndet werden würde.

Wir kamen dann in eine Baracke, wo wir von Wiener Häftlingen, die schon seit einigen Monaten dort waren, empfangen wurden, die sozusagen die Honneurs machten. Ich möchte an dieser Stelle überhaupt ein Wort über die Tätigkeit der Wiener Kameraden anfügen, die sich in jeder Beziehung großartig benommen haben. Sie beruhigten die Neuankömmlinge, weihten sie etwas in die Gepflogenheiten und Sitten des Lagers ein. Sie nahmen eine gewisse Sonderstellung ein, da ihnen die Lagerverwaltung in der Organisierung etwas freie Hand ließ. Sie teilten uns gleich mit, dass, was in einem solchen Lager natürlich unbedingt nötig ist, eine gewisse Disziplin herrschen müsse, auch ihren Anordnungen gegenüber. Wir sollten uns nicht wundern, wenn sie, wenn das Bewachungspersonal in der Nähe wäre, auch zuweilen fürchterlich mit uns schreien und schimpfen würden, sogar manchmal machen würden, als ob sie uns schlügen. Das wäre aber alles nur Theater, damit die SS-Leute nicht dächten, dass sie uns nicht richtig behandelten.

Ganz besonders muss die Tätigkeit eines Wiener Kollegen, Dr. Kries, hervorgehoben werden, der Außerordentliches geleistet hat. Der arische Lagerarzt war [sich] natürlich zu gut, um sich um die jüdischen Insassen des Lagers zu bekümmern. So lag die ganze ärztliche Versorgung in seiner [Dr. Kries'] Hand, wobei er die zahlreich vorhandenen Kollegen nach Bedarf hinzuzog. Die Behandlung war in den ersten Tagen dadurch fast unmöglich, als keine Medikamente und keine Verbandstoffe vorhanden waren. Das war der Grund, dass von den zahlreichen Zuckerkranken, die ins Lager kamen, soviel ich weiß, zwei in den ersten Tagen im Koma zugrunde gingen und man auch für Herzkranke keine Mittel zur Verfügung hatte. Manche Todesfälle der ersten Tage sind hierauf zurückzuführen, abgesehen davon, dass für Herzkranke oder Kranke jeder Art ein solcher Aufenthalt in höchstem Grade lebensbedrohend ist. Ein älterer Mann wurde eines Morgens tot in der Grube der Latrine gefunden. Anscheinend hatte er einen Herzschlag bekommen, während er auf der Latrine saß. Täglich wurde mehrfach durch die Baracke durchgerufen, ob nicht ein Kamerad einen Katheter bei sich hätte, weil älteren Leuten mit Prostatahypertrophie der Urin abgelassen werden musste. Es ist bekannt, wie peinlich reinlich ein solches Katheterisieren vorgenommen werden muss, wenn man schwere Blaseninfektion vermeiden will.

Als ich nach acht Tagen das Lager verließ, hatte es der Wiener Kollege durch Vorstellung bei der Lagerverwaltung zustande gebracht, dass Medikamente, vor allem Insulin, und Verbandstoffe zur Verfügung gestellt wurden und er mit Hilfe der anderen Kollegen zweimal täglich offizielle Sprechstunden in einer Baracke abhalten konnte. Es wurden, als ich fortging, täglich 75 Insulinspritzen verabfolgt. Die Lagerverwaltung war sogar so weit entgegengekommen, dass sie für die zahlreichen akuten Psychosen die Arrestzellen als Krankenzellen zur Verfügung stellte, auch sollten schwer Erkrankte in das eigentliche Krankenrevier gebracht werden, das anscheinend sehr bald vollkommen gefüllt war.

Am Tage nach unserer Ankunft oder vielmehr am gleichen Morgen traten wir um etwa 6 Uhr draußen an. Die Hauptsache der Beschäftigung bestand im Stehen, dazwischen wurden einem die Haare geschoren und wiederum Personalien aufgenommen. Erst abends gegen ½ 7 Uhr gab es zum ersten Mal etwas zu essen, und zwar eine an und für sich sehr gute Suppe mit Fisch, wie überhaupt das Essen, das man bekam, durchaus gut war. Ich hatte also vom 10. November ½ 8 Uhr früh bis zum nächsten Abend ½ 7 Uhr weder gegessen oder getrunken. Der Durst und die Unregelmäßigkeit des Essens, auch die Unregelmäßigkeit der Zeiteinteilung waren das, worunter man am meisten zu leiden hatte. Morgens gab es keinen Kaffee, das erste Essen einmal um 10, einmal um 12 Uhr, einmal die Mahlzeiten ziemlich dicht hintereinander, einmal wieder in ganz großen Abständen. Dies lag meiner Ansicht nach daran, dass durch den plötzlichen Zuzug von etwa 10 000 Menschen die Organisation einfach nicht mitkam. Ich glaube auch nicht, dass die sehr geringe Ausgabe von Flüssigkeit (Kaffee) eine bewusste Quälerei darstellte, sondern es schien in dem Lager starker Wassermangel zu herrschen. Der Durst war so stark, dass man vollkommen ausgetrocknet war und die Lippen und die Zunge borkig und rissig wurden. Die salzigen Suppen konnten den Durst nicht stillen. Am meisten hatten auch hier die Diabetiker zu leiden, die dann auch bei der Ausgabe von Flüssigkeit wieder unter der Leitung der Wiener Kameraden begünstigt wurden. Brot gab es ausreichend, jedenfalls für uns, die nicht zu arbeiten brauchten, dazu auch zuweilen etwas Käse, etwas Wurst und einen Sirupaufstrich. Wir waren in dieser Hinsicht froh, als das schöne Wetter sich nach zwei Tagen änderte und Regen einsetzte, der zwar den Boden in einen Lehmbrei verwandelte, aber uns doch Gelegenheit bot, das Wasser, das von den Dächern der Baracken herunterträufelte, aufzufangen und zu trinken.

Zu gleicher Zeit setzte am dritten Tage aber bei fast allen Leuten sehr starker Durchfall ein. Hier muss ich einen Bericht über den Zustand der Latrinen einfügen. Für die annähernd 10000 Mann, die innerhalb von vier Tagen in das Lager kamen, war eine einzige Latrine vorhanden mit etwa sieben Sitzgelegenheiten. Man kann sich danach die hygienischen Zustände vorstellen, die dort herrschten. Schon normalerweise dauerte es mindestens eine halbe Stunde, ehe man an die Latrine herankam. In der Nacht stand ein Kübel in jeder Baracke. Als nun zugleich mit dem Regen der allgemeine Durchfall eintrat, wurden die Zustände unbeschreiblich. Die Leute hatten keine Möglichkeit zu warten, bis sie an die Latrine herankamen. Auf die Wege sollte natürlich nichts gemacht werden, höchstens hockte man sich in der Nähe der Latrine irgendwo hin. Eine neue Latrine war erst im Bau. Außerdem mussten wir an diesem Tage sechs Stunden auf frisch geteertem und gekiestem Boden hintereinander sitzen, und zwar so, dass zwischen den gespreizten Beinen immer der Vordermann saß. Dabei bekamen wir übrigens auch an diesem Tage ganz gut zu essen, u. a. eine an diesem Tage besonders angebrachte sehr gute Milchreissuppe. Nur wenigen wurde erlaubt, während dieser Zeit austreten zu können. Bei den meisten ging also alles in die Hosen. Ich war so glücklich, noch immer den Hafen mit Mühe und Not erreichen zu können. Aus Mangel an Papier musste ich allerdings Streifen meines Hemdes abschneiden und zu diesem Zwecke benutzen. Auch in der Papierfrage, eine Sache, die fast spaßig klingt, in einer solchen Lage aber bitter ernst ist, erwiesen sich dann wieder die Wiener als rettende Engel, die, ich weiß nicht, von wo, Zeitungen herbeizauberten, die zwar spärlich, aber doch gerecht verteilt wurden. Dass es in diesen Tagen nicht zu einer Darminfektionsepidemie gekommen ist, ist mir heute noch nicht klar. Vereinzelte Fälle von schwereren Darminfektionen sind aber doch anscheinend vorgekommen. So weiß ich, dass nach meiner Entlassung ein Kollege an einer Darminfektion mit Herzschwäche gestorben ist. Merkwürdigerweise gingen die Durchfalle trotz des stundenlangen Sitzens auf dem feuchten, kalten Boden sehr schnell zurück, sodass die Leute am nächsten Tage fast alle gesund waren.

Dieses stundenlange Sitzen und Stehen war natürlich ausgeklügelte Quälerei. Bei der Menge der plötzlichen Neuaufnahmen von ca. 10 000 Mann reichten natürlich die Kochgeschirre nicht aus. So wanderte ein Kochgeschirr mit Löffel von einem zum andern, ohne dass es vorher irgendwie gespült oder abgewischt werden konnte.

Untergebracht waren wir im Lager in großen Holzbaracken. Zuerst waren drei solcher Baracken vorhanden. Im Laufe der nächsten Tage kamen noch in Windeseile zwei neue Baracken hinzu. Diese Baracken sind jede für 2.000 Menschen gewesen. Sie haben vier „Etagen“ übereinander Bretterböden, auf denen man liegt, ohne jegliches Stroh und ohne Decken. Man hat zum Zudecken nur das, was man sich gerade mitgebracht hat, ich einen dünnen Mantel. Als Heizung war in unserer Baracke ein kleiner eiserner Ofen vorhanden, in anderen Baracken fehlte er. Man lag so eng, dass man sich kaum bewegen konnte, tatsächlich wie Sardinen in der Büchse. Die Kleider wurden nie gewechselt bzw. ausgezogen, man war bis zu den Knien mit einer dicken Lehmschicht bedeckt, und Waschen gab es nicht. Als alter Soldat kam man über diese Sachen einigermaßen leicht hinweg. Wir haben uns auch im Kriege zuweilen wochenlang nicht gewaschen und ausgezogen und waren auch verdreckt. Damals war es aber ehrenvoller Dreck, und man wusste, warum man es tat. Man wurde auch nicht wie Vieh behandelt. Denn das Unterkommen war so, dass man stets das Gefühl hatte, dass man als Vieh in einem schmutzigen Stall eingesperrt sei. Auch die Art und Weise, wie man z. B. nach dem Appell in die Baracken hineingetrieben wurde, entsprach durchaus der Art, wie man Vieh in die Ställe hineintreibt, auch hier immer die Aussicht, von zufällig in der Nähe befindlichen SS-Männern eins mit der Reitpeitsche übergezogen zu bekommen, wenn es, was bei der Menge natürlich war, nicht schnell genug ging.

Furchtbar war es zuweilen nachts, wenn irgendein Imbeziller (auch solche Leute waren oben) oder einer, der eine akute Psychose bekam, einen akuten Angstzustand bekam und andauernd und schrill um Hilfe schrie. Zuweilen wurde ein solcher Mensch von den patrouillierenden SS-Leuten herausgeholt und anscheinend geschlagen. Ob sie wirklich empfindlich gepeitscht wurden oder ob sich diese sadistischen Leute (denn das ist dort fast die ganze SS) nur mit ihnen einen „Spaß“ machen wollten, konnte ich nicht sicher herausbekommen. Jedenfalls war es schrecklich, die Hilferufe und Angstschreie dieser Leute zu hören. Man konnte nicht helfen und wusste nicht, was mit den Leuten geschah. Was man an Menschenwürde besitzt, muss man in dem Lager in die Tasche stecken. Selbstverständlich wird man geduzt, die offizielle Anrede heißt: „Der Jude soundso“. Wenn einen ein SS-Mann, meist Scharführer, fragt, was man ist, und er einem auf die betreffende Antwort sagt: „Du hast ja doch nur die Arier betrogen, du Saujud“ etc., so muss man seinen Mund halten. Worte wie „Judenschwein“ sind an der Tagesordnung. Wehe, wenn einer sich zu einem Protest hinreißen ließ. Eine Prügelstrafe von 25 Hieben, einmal sogar ca. 40-50 Hiebe, habe ich wiederholt mit angesehen. Es steht dazu immer ein Block bereit, auf den der Betreffende gelegt wird und dort mit dem Ochsenziemer seine 25 Hiebe mit aller Gewalt bekommt.

Eine andere Strafe, die ich sah, bestand darin, dass zwei Leute um einen Baumstamm herum mit den Händen zusammengebunden wurden, sodass die Arme etwa in Schulterhöhe waren und sie in dieser Stellung stundenlang stehen mussten. Was sie verbrochen hatten, weiß ich nicht. Ein Rabbiner, ich glaube aus Breslau, der allerdings in falschem Mut die Leute verhöhnte und sie fragte, ob dies der berühmte Nationalsozialismus sei, wurde erst geprügelt und ihm gesagt, dass man ihn zu Tode bringen würde, aber langsam. Ich nehme als sicher an, dass man dieses Wort gehalten hat. An einer weißen Mauer, in deren Nähe die Auspeitschungen stattfanden, waren Blutspritzer bis in Manneshöhe zu sehen. Auch an dieser Mauer mussten Leute oft mit dem Gesicht dicht an der Wand stundenlang stehen. Ein Mann, der meiner Erinnerung nach ebenfalls nach der Prügelstrafe zusammenbrach und trotz Tritten und Hieben nicht wieder aufstand, wurde auf dem Kiesboden fortgeschleift. Ob er tot oder nur bewusstlos war, weiß ich nicht.

Bei den großen Appellen, die besonders in den ersten Tagen stattfanden (nachher war es des Regens wegen nicht mehr möglich), musste man stundenlang stehen. Auch die Kranken und sogar Sterbende mussten mit zum Appell auf einer Bahre herausgetragen werden. Ein oder zwei dieser Leute starben während des Appells.

Ein älterer Mann war am ganzen Körper grün und blau, anscheinend eine Misshandlungsfolge. Er war so schwach, dass er mir keine nähere Auskunft geben konnte. Einem Mann war ein Auge ausgeschlagen. Er kam nach einigen Tagen in das Krankenhaus.

Überhaupt kamen Leute, besonders aus den kleineren Ortschaften, z.B. aus Thüringen und aus der Kasseler Gegend, zum Teil in arg misshandeltem Zustand an. Verschorfte Hiebwunden auf dem Kopf, blau geschlagene Augen etc. sah man zahlreich. Einen Unterarmbruch behandelte ich selbst. Die Wiener Kameraden erzählten uns, dass sie viel mehr Schwerverwundete seiner Zeit und mehrere Arm- und Beinbrüche gehabt hatten. Sie seien auch in der ersten Zeit bedeutend schlechter behandelt worden als wir, hätten z. B. stundenlang Kniebeugen machen müssen.

Als wir eines Morgens zum Austreten herausgingen, lagen auf dem zehn Meter breiten Geländestreifen, der sich vor dem elektrisch geladenen Drahtgitter hinzog, zwei Tote. Wir hatten in der Nacht zwei Schüsse gehört. Wahrscheinlich wollten diese Leute nachts auf die dicht daneben liegende Latrine gehen, waren in der Dunkelheit und in der Schlaftrunkenheit etwas zu weit vorgegangen und auf den verbotenen Geländestreifen geraten und vom Wachtturm aus erschossen worden. Oder sie waren an den Draht gekommen und dann erschossen worden.

Ein junger Mann, dessen Vater im Lager irrsinnig geworden war, lief in selbstmörderischer Absicht an den Draht, den er mit der einen Hand anfasste; in der anderen Hand hielt er sein Gebetbuch. Der Selbstmordversuch hatte Erfolg.

Wir hatten im Lager junge Leute, darunter einen 14-Jährigen, der aber, wohl seines netten frischen Wesens wegen, gut behandelt wurde und nach acht Tagen entlassen wurde, aber auch Leute von über 60, ja sogar über 70 waren dabei. Es war bewunderungswert, wie diese Leute geduldig alles ertrugen. Selbst Krüppel waren im Lager. Außer einigen Prothesenträgern, die auch nach acht Tagen entlassen wurden, war u. a. auch ein völlig verkrüppelter Mann da, dessen Gliedmaßen so verkrümmt und versteift waren - er hatte übrigens nur einen dünnen Jackettanzug ohne Mantel an -, dass er nur mit Hilfe zweier niedriger Stöcke gehen und stehen konnte. Seine Beine waren völlig nach hinten ausgebogen, ein ganz armer elender Krüppel. Er wurde, wie ich glaube, am selben Tage wie ich - also nach acht Tagen - entlassen. Jedenfalls stand er in einer Nebenabteilung, die anscheinend auch abtransportiert wurde.

Als Unteraufseher über die Lagerinsassen fungierten die so genannten Capos, ebenfalls Häftlinge, die zum Teil schon jahrelang dort waren. Sie waren alle arisch. Das Verhalten derselben war sehr verschieden. Während einige ganz kameradschaftlich und anständig waren, solange kein SS-Mann in der Nähe war - wenn solche in der Nähe waren, wurde natürlich andauernd geschrien und unflätig geschimpft, gestoßen und geschlagen, oft aber nur zum Schein -, waren andere besonders gegen die arbeitenden Häftlinge ebenfalls ausgesprochen roh und sadistisch. Merkwürdigerweise waren, was mir oft zu denken gab, die so genannten Gewohnheitsverbrecher (die verschiedenen Kategorien: politische Verbrecher, so genannte Arbeitsscheue, d.h. auch Arbeitslose, Rassenschänder, Bibelforscher, 175er waren durch ein Dreieck in einer bestimmten Farbe gekennzeichnet) im Durchschnitt viel gutmütiger als die politischen Verbrecher. Ob sich diese besonders lieb Kind machen wollten, weiß ich nicht. Jedoch kann man danach nicht verallgemeinern. Es fanden sich auch unter den politischen Verbrechern anständige Menschen und unter den Verbrechern Quälgeister.

Die Arbeiter konnte ich bei der Arbeit nur beobachten, soweit sie im Lager selbst, hier meist mit Holzarbeiten, Barackenbau, beschäftigt waren. Sie müssen etwa 14 Stunden täglich arbeiten mit einer halben Stunde Mittagspause. Andauernd müssen sie schleppen und schuften, zuweilen von den Aufsehern, wenn es nicht schnell genug geht oder Fehler gemacht werden, mit Tritten und Hieben traktiert, vor allem, wenn es ein Aufseher besonders auf einen Mann abgesehen hat.

Die Steinbrucharbeiter sah ich nur, wenn sie von der Arbeit kamen, ein Anblick, den ich nie vergessen werde. Ausgemergelte Gestalten, jeder auf einer Schulter einen schweren Stein von etwa 40 ccm tragend, denn dieser Steintransport ist billiger als mit Wagen. So kamen sie abends in das Lager zurück. Während der „vom Rath“-Woche bekamen die jüdischen Arbeiter - Buchenwald hat fast nur jüdische Häftlinge - nur halbe Essensrationen. Sie litten bitter Hunger, und oft steckten wir ihnen heimlich von unserem Brot etwas zu. Dabei war es rührend, wenn diese Leute einem noch manchmal zuraunten: „Nicht den Mut verlieren, es ist nicht so schlimm, wenn man sich daran gewöhnt hat.“

Wie die Behandlung während der Arbeit im Steinbruch war und besonders die Behandlung in den Strafkompanien, weiß ich nicht aus eigener Anschauung. Sicher ist jedenfalls, dass die geringsten Fehler streng bestraft wurden.

Von Kolbenhieben habe ich übrigens im Lager selbst nie etwas gesehen. (Es wurde in verschiedenen Berichten, die ich las, angeführt.) Ich glaube es auch nicht, denn im Lager selbst trugen nur die auf den Wachtürmen befindlichen Posten Karabiner; sonst hatten die SS-Leute meist nur Revolver und Reitpeitschen.

Es kam mir ganz unerwartet, als am Morgen des achten Tages der Lautsprecher plötzlich verkündete: „Der Jude Dr. X. aus Y. mit allen >Effekten< (also mit meinem Sommermantel) ans Tor.“ Nach einigem Warten, währenddessen sich noch mehrere, zusammen etwa 20, Leute ebenfalls dort eingefunden hatten, wurden wir von einem „Capo“ zum Rasieren geführt, der mir auch zuflüsterte, dass wir entlassen würden. Die schnelle Entlassung nach nur acht Tagen hatte bei mir seinen Grund darin, dass ich bereits mitten in meinen Auswanderungsvorbereitungen war und ein Brief eines hohen ausländischen Diplomaten vorlag, dass er mir jederzeit das Visum für sein Land geben würde. Und dieser letzte Tag ist ein Tag gewesen, den ich nie vergessen werde und dessen Eindruck tief erschütternd auf mich wirkte. Der Schreiber, der noch einmal die Personalien aufnahm, die jungen Wiener Jungens, die uns rasierten, die Arbeiter, denen wir begegneten, der Wärter des Reviers, wo wir noch einmal flüchtig untersucht wurden, ob nicht vielleicht Merkmale von Züchtigungen am Körper seien, alle flüsterten einem zu: „Ihr Glücklichen!“ Dort schob man einem unbemerkt ein paar Zigaretten zu, die man zufällig in der Tasche hatte, dort einem verhungerten Arbeiter ein Stück Kommissbrot. Aber das Gefühl, nun hier herauszugehen und die anderen, die schon Wochen, Monate und Jahre drinsaßen, nicht mit herausnehmen zu können, war furchtbar.

Als wir nachher wieder an das Portal geführt wurden, kamen wir an dem Appellplatz vorbei, auf dem sich die anderen Kameraden beim Essen befanden. Sie winkten einem zu und riefen halblaut: Auf Wiedersehen! Keiner missgönnte es uns, aber es wurde uns Fortgehenden ebenso schwer wie ihnen. Doch bevor wir entlassen wurden, mussten wir noch wieder ca. vier bis fünf Stunden in zwei Gliedern in der Nähe des Tores bei schneidendem Wind und Feuchtigkeit stehen, direkt unter dem Hauptwachtturm. Und da gerade hier ein SS-Mann Posten stand, der sich besonders großtun wollte, durfte man sich in dieser Zeit nicht rühren, ohne dass er eine unflätige Bemerkung und eine Drohung herunterrief. Bei einer zweiten, auch etwa 20 Mann starken Abteilung, die auch anscheinend entlassen wurde, stand u. a. auch der schon erwähnte völlig verkrüppelte Mann, der vor Frost, da er keinen Mantel hatte, zitterte.

Zum Schluss wurden wir noch auf die „politische Abteilung“ gebracht, wo wir unterschrieben, dass wir keinerlei Misshandlungen gesehen noch erlitten haben etc. etc. „Und wenn ihr irgend Gräuelmärchen erzählt, werdet ihr sofort wieder festgenommen, und dann kommt ihr nicht mehr aus dem Lager heraus. Und wenn ihr im Auslande etwas erzählt, so wisst ihr, dass wir überall unsere Späher haben, und dann werdet ihr >erledigt<. Ihr wisst ja wohl, was das zu bedeuten hat.“ Anständig war nur der letzte in Zivil befindliche Beamte, der uns endgültig entließ und bei dem man so etwas wie eine Anteilnahme zu spüren glaubte.

Dann wurden wir von einem Scharführer der SS durch den Wald bis zur Lagergrenze gebracht, wo er uns mit dem Wunsche: „Besauft euch nicht!“ entließ. Wir wanderten in das nächste, etwa 2,5 km entfernt liegende Dorf, wo wir in dem Wirtshaus von dem Wirt und seiner Frau erst einmal ordentlich Kaffee, Selterwasser und Käsebrote vorgesetzt bekamen. Die Leute schienen zu wissen, was man nötig hat, wenn man von oben herunterkam. Ich war vom vorigen Abend an nüchtern. Sie waren freundlich und anständig, keine Frage über das Lager. Auch die drei alten Dorfbewohner, die im Wirtshaus ihr Bier tranken, waren schweigsam, aber nicht unfreundlich. Mit heraufbestellten Autos fuhren wir dann nach Weimar herunter, und verdreckt, wie wir waren, mit einer bis zum Knie reichenden Lehmkruste bedeckt, fuhren wir mit dem fahrplanmäßigen D-Zug nach Frankfurt. Kein Mensch im Zuge machte eine Bemerkung über die verschmutzte Gesellschaft, die in den Zug hereinkam. Sie wussten, was bei Fahrgästen, die in Weimar einstiegen und so aussahen, der Schmutz zu bedeuten hat.

Ein Herr, der einige Tage später wiederkam, erzählte mir, dass im Zuge, als er einstieg, eine arische Dame aufstand und ihm ihren Platz anbot. Auf seine Entgegnung, das könne er doch nicht annehmen, sagte sie: „Das ist doch das Wenigste, was ich für Sie tun kann!“ An solchen Äußerungen darf man nicht vorübergehen, auch nicht an der herzlichen Freude vieler Arier, besonders der einfachen Leute, als sie einen wiedersahen. Zwei Dinge hat man aus dem Aufenthalt im Konzentrationslager gelernt: Mit aller Kraft für das Herauskommen derer zu sorgen, die noch in Deutschland bzw. im Lager sind, und zweitens sich stets in jeder Lebenslage zu sagen: Alles ist besser als Konzentrationslager!

Für einen im Ganzen gesunden Mann war der Aufenthalt im Lager, besonders wenn man alter Kriegssoldat war und man seinen Mund hielt, für acht Tage auszuhalten. Was bedeuten aber acht Tage gegen die Wochen und Monate, die andere Leute aushalten mussten und noch müssen? So ist auch wohl besonders unter dem Einfluss der einsetzenden starken Kälte die Erkrankungs- und Sterbeziffer später sehr stark in die Höhe geschnellt. Als Todesursachen wurden mir von Kollegen vor allem Pneumonien (Lungenentzündungen) genannt. Ein Kollege starb an Darminfektion mit Herzschwäche, ein Mann an Mundbodenphlegmon (infolge der Austrocknung des Mundes bei dem wenigen Trinken). Einem Lehrer des Philanthropin mussten infolge Erfrierung beide Beine amputiert werden, wie überhaupt Erfrierungen häufig waren. Ein mir bekannter, übrigens außerordentlich kurzsichtiger Herr kam, noch während ich in X. war, hochfiebernd mit schwerer Darminfektion zurück. Ein anderer älterer Lehrer hatte einen Knöchelbruch.

Ein jetzt (Januar 1939) hier eingetroffener Kollege schätzte die Zahl der Toten zuletzt mindestens auf ca. 10 % der Kopfzahl!

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