Bericht aus Treuchtingen
Ein früherer Geschäftsmann, vermutlich aus Treuchtlingen, Bezirksamt Weißenburg, berichtet Ende November 1938 über die Vernichtung seines Geschäfts durch den seit 1933 immer stärker werdenden Boykott seitens der Kundschaft und der Lieferanten, schließlich durch behördliche Schikanen, über die zunehmende Feindseligkeit der Bevölkerung, den Überfall auf das jüdische Mädchenheim in Berlin im Juni 1938, die Zerstörung und Plünderung seines Hauses am Morgen des 10. November, wobei er verletzt wurde, seinen Aufenthalt im Konzentrationslager Dachau und über den Zwangsverkauf seines Hauses; er erwähnt die Verwüstung und Plünderung auch anderer Wohnungen an seinem Wohnort, die Zerstörung der dortigen Synagoge und den Zwangsverkauf des Synagogengeländes.
Die allgemeinen Judengesetze des Dritten Reiches sind bekannt. Bevor ich auf die Ereignisse des 10. November 1938 eingehe, will ich kurz die Gründe anführen, die zur Vernichtung unseres Geschäftes führten. Der Boykott seitens der Kundschaft setzte sofort mit der Machtübernahme ein, verschärfte sich immer mehr, weniger freiwillig als durch Zwangsmittel des Staates und der Partei. (Entzug der Winterhilfe, der Fürsorge, der Kinderreichen-Unterstützung, Ausschluss der Kinder von einzelnen Schulen, Drohung der Nichtbeförderung der nahen Verwandten, Ausschluss [aus] Parteiorganisationen etc.)
Da dies der Partei aber nicht schnell genug zur Vernichtung der jüdischen Geschäfte führte, setzte später der Boykott seitens der Lieferanten ein. Zuerst ließ der Reichsnährstand die Lieferung von Mehl und Grieß sperren, dann kamen die Sperrungen der Kontingente der Auslandsartikel (Öl, Südfrüchte, später teilweise Kakao, Schokolade, Reis). Ende 1937 teilten uns die staatlichen Salinen München mit, dass sie nicht mehr Salz liefern, Mitte 1938 machte die Süddeutsche Zuckerfabrik, mit welcher wir seit vielen Jahrzehnten große Umsätze hatten, dieselbe Mitteilung. Zur gleichen Zeit fingen auch teilweise die Markenartilcelfabriken an, die Lieferung zu sperren, zuerst Oetker, Bielefeld.
Frühzeitig haben sich auch eine Anzahl Kunden bei Nichtzahlung auf die Partei berufen. Da alle unsere Forderungen einwandfrei waren, nahmen wir meistens keine Kenntnis davon, obwohl wir teilweise direkte Drohbriefe von der Partei erhielten, nicht gegen die Schuldner vorzugehen.
Mit den Behörden war anfangs der Verkehr noch korrekt. Ende Dezember 1937 verweigerte das Bezirksamt Weißenburg die Ausstellung der Reiselegitimationskarten, also schon neun Monate vor Erlass des diesbezüglichen Reichsgesetzes. Damit war jede Reisetätigkeit unmöglich, was in den meisten Großhandlungen zum Untergang des Geschäftes führen musste. Das Finanzamt erhob im Herbst 1938 eine Summe von über RM 35000 - für Umsatzsteuer nach, da angeblich die Voraussetzungen der Großhandels-Ermäßigung nicht gegeben waren, obwohl eine schriftliche Genehmigung des Finanzamtes vorlag.
Bei einer Besprechung im Finanzamt wegen Reklamation sagte der Sachbearbeiter, das Landesfinanzamt werde bei Einlegung einer Beschwerde noch eine weitere Buchprüfung der Umsatzsteuer vor 1935 vornehmen. Tatsächlich wurde dieselbe auch für Anfang November 1938 angesetzt und ist nur durch die November-Ereignisse unterblieben.
In... war die Lage so, dass es schon seit Jahren fast unmöglich war, die Kinder allein durch die Straße gehen zu lassen. Die Anpöbelung seitens der Schuljugend [machte] auch vor Erwachsenen nicht halt; bis Anfang 1938 hatten Beschwerden bei der Gendarmerie für kurze Zeit Ruhe ergeben, später waren auch Beschwerden zwecklos. Das Einschlagen der Fenster wurde teilweise durch die Glasversicherungs-Gesellschaften unterbunden. Jedes Kaufen in jüdischen Geschäften, jedes Sprechen oder Grüßen eines Juden durch einen Nichtjuden wurde sofort dem Bürgermeister gemeldet, welcher sofort die „Frevler“ zu sich kommen ließ. Sie wurden von städtischen Lieferungen, Unterstützungen etc. ausgeschlossen. Im Mai 1938 haben die Friseure in ihrer Gesamtheit beschlossen, Juden nicht mehr zu bedienen. Einzelne Handwerker hatten dies schon früher getan.
Anfang Herbst 1938 bei der tschechischen Kriegskrise nahm die Feindseligkeit der Bevölkerung sichtlich zu. Anrempelungen von Groß und Klein, Steinwerfen, Fenster-Einwerfen, Aushängen der Fensterläden bei Tag waren nichts Seltenes. Die Unruhe und die Nervosität nahmen noch zu, als von verschiedenen jüdischen Gemeinden gehört wurde (Leutershausen, Ellingen etc.), dass die Juden an den hohen Feiertagen gezwungen wurden, ihre Häuser zu verlassen, ihr Hab und Gut stehenzulassen und die Synagogen zu Spottpreisen (teilweise um wenige Mark) zu verkaufen.
Einschalten will ich noch, dass meine 17-jährige Tochter bei einem Überfall des Pöbels bei der Juni-Aktion in Berlin dabei war. Es wurde das jüdische Mädchenheim überfallen; auf einen Telefonanruf bei dem Überfallkommando der Hauptstadt Berlin kam die Rückfrage, ob es sich um Nichtarier handelt, dann sei das Überfallkommando nicht zuständig.
Am 10. November 1938 zwischen 4 und 5 Uhr hörte ich Schritte im Garten. Als ich zum Fenster hinaussah, standen acht bis zehn Mann (SA), stark bewaffnet mit Äxten, Beilen, Dolchen und Revolver, [draußen]. Bis ich meine Frau und meinen 11-jährigen Sohn weckte, war bereits ein Mann im Schlafzimmer, befahl uns, in den Keller zu gehen, und fing sofort an, alles klein zu schlagen: Waschgeschirr, Spiegel, Fenster, Möbel, Türen etc. Als wir (auch meine Schwägerin und Tochter) kurze Zeit im Keller waren, wurde ich heraufgerufen. Als meine Tochter mich begleiten wollte, wurde sie zurückgestoßen. Ich wurde angeschrien: „Du Lump, du weißt doch, dass ihr uns seit nachts um 12 Uhr freigegeben seid, gib uns deine Schriftstücke.“ - Bis ich den Schreibtisch aufschloss, bekam ich einen derartigen Schlag ins Gesicht, dass meine Brille herunterfiel und zersprang, mein rechtes Auge stark anschwoll und meine Pupille gelähmt wurde. Der Arzt erklärte später, dass durch den Schlag auch das Augenlicht hätte verloren sein können. Dann wurde ich in die Ecke gestoßen und wahllos Möbelstücke nach mir geworfen. Dass ich dabei nur drei Fleischwunden erhielt und mir keine ernstliche Verletzung zuzog, muss als besonderes Glück bezeichnen werden. Inzwischen wurde das ganze Haus in der oben erwähnten Weise zertrümmert. In der Küche wurde das Geschirr restlos zerschlagen; im Keller wurde meiner Frau eine volle Konservenbüchse an den Kopf geworfen; Weinflaschen und Weckgläser mussten die Frauen selbst zerschlagen.
Nach der SA kam der Plebs, dann die Schuljugend; jede Partei hat noch weiter vernichtet und gestohlen. Einwandfrei festzustellen ist, dass die SA den Inhalt des Schreibtisches mitnahm: eine goldene Herrenarmbanduhr, eine neue Herrenarmbanduhr, RM 120.- in bar, ein Ehering, ein Collier. Eine goldene Damenarmbanduhr und ein Mädchenring wurden ebenfalls Donnerstag noch gestohlen. Nachzutragen ist noch, dass ein Teil der großen Kachelöfen sowie der Flügel ebenfalls zerstört wurden.
Bis meine Frau nach einigen Tagen zum Packen gekommen ist, waren sämtliche Schränke und Schubladen fast restlos leer, sodass fast die ganzen Kleider und der größte Teil der Wäsche gestohlen wurden. So und ähnlich wurden die sämtlichen Judenwohnungen in... behandelt. Inzwischen wurde auch die Synagoge mit sämtlichen Thorarollen, sämtlichen Gebetbüchern, Tefillin, Tallesim, dem über 100 Jahre alten Memorbuch etc. angezündet und verbrannt. Die unbrauchbaren Thorarollen, die im Nebengebäude aufbewahrt waren, sind nicht mit verbrannt. Für den großen Platz, auf dem die Synagoge, das Bad, die Lehrerwohnung standen, für das Nebengebäude und den Garten zahlte die Stadt nichts, da die Aufräumungskosten sich mit dem Wert ausgeglichen haben. Vor und nach dem 10. November wurde auch wiederholt der jüdische Friedhof geschändet.
Wir durften am 10. November nach den verschiedenen Zerstörungsaktionen etwas Wäsche und Kleider packen und mussten zwischen dem Spalier des Pöbels und dessen Hohngelächter zum Bahnhof. Dort waren bereits andere Mitglieder der Gemeinde, andere [waren] schon mit früheren Zügen abgefahren. Einige Zurückgebliebene wurden noch abends stark misshandelt; teilweise von SA, im Rathaus insbesondere der mehr als 70-jährige Arzt..., der sich aus Aufregung darüber das Leben nahm. Die restlichen Juden mussten die Stadt am anderen Tag verlassen, womit die jahrhundertealte jüdische Gemeinde ihr Ende gefunden hat.
Wir fuhren nach München, dort traf ich meinen Bruder, der schon einige Stunden früher fuhr. Nach kurzem Aufenthalt wurden mein Bruder und ich verhaftet. Nach verschiedenen Personalaufnahmen wurden wir nach Dachau gebracht. Auch dort hatten wir verschiedene Personalaufnahmen zu erledigen, wurden fotografiert und mussten stundenlang warten, bis wir ins Badehaus kamen. Dort wurden [wir] nach dem Bade dem Arzt unter der Meldung vorgeführt: „Schutzhaft-jude N. N. meldet sich gehorsamst zur Stelle.“ Ich, wie die meisten Häftlinge, bekam im Beisein des Stabsarztes Ohrfeigen rechts und links, weil die Meldung nicht laut genug war. Untersuchung wurde nicht vorgenommen; es wurde nur gefragt: „Krank oder Unfall gehabt?“
In Haff blieben aber alle, Kranke, Alte, Krüppel, Zuckerkranke, Geistig-Minderwertige; in unserer Baracke z.B. ein Herr, der spinale Kinderlähmung hatte, kaum gehen und sprechen und sich nicht einmal rein halten konnte.
Nach der „Untersuchung“ kamen wir aus dem warmen Badehaus, bekleidet nur mit einem kurzen Hemde, Socken, Hose und Drillichjacke, ins Freie. Wir alle, ob wir, wie einzelne Münchener Herren, schon am frühen Morgen oder später eingeliefert wurden, mussten bis nachts 12 Uhr stehen. SS-Männer beaufsichtigten uns, und wenn einer gesehen wurde, der nicht genügend strammstand, gab es Ohrfeigen oder Stöße. Nach 12 Uhr wurden wir in die Baracken geführt. Dort gab es als einziges Essen des Tages Tee und Kommissbrot. Die Baracken selbst waren in vier Stuben eingeteilt; jede Stube bestand aus zwei Zimmern, berechnet für eine Belegschaft von 50 Mann. Belegt waren sie mit je 200 Mann. Dementsprechend waren auch Waschraum und Toilette ungenügend. Anfangs mussten sich vier Mann mit einem Handtuch begnügen, welches auch zum Trocknen der Essgeschirre verwendet wurde. Später waren Handtücher sowie auch Unterhosen in der Kantine käuflich.
Die Tageseinteilung war ungefähr folgende: Wecken 5 Uhr, Waschen, Kaffeetrinken. Wir durften in der Baracke essen und trinken, es gab aber Blöcke, die fast immer im Freien, also im Stehen essen und trinken mussten. Es hing dies von den Stubenältesten ab, die natürlich von der aufsichtsführenden SS niemals wegen schlechter Behandlung der Juden zur Rede gestellt wurden. Da vor dem Appell die Stuben gereinigt wurden, war es nötig, dieselben um 5>2 Uhr zu verlassen. Wir mussten dann längere Zeit in der Lagerstraße warten, bis wir zum Appellplatz geführt wurden. Nach Beendigung des Appells durfte der Zimmerdienst x.x. (wozu auch ich meistens gehörte) abtreten, während die Masse bei jedem Wetter bis nach 11 Uhr marschieren und exerzieren musste. Anfangs durften frühere jüdische Offiziere befehlen, später nur Arier. Nach dem Mittagessen hatten wir meistens 30-60 Minuten freie Zeit, dann war wieder Appell, wieder Marschieren und Exerzieren und nach kurzer Pause Abendappell. Nach dem Abendessen war bis zum Zubett-Gehen (8 Uhr) Freizeit.
Auf dem Appellplatz wie im ganzen Lager und auch in den Baracken war man [nie] sicher vor Kontrollen der SS. Dabei ging es fast nie ohne Schläge und Stöße ab. Ich hatte einmal einen Kranken geführt, als ein SS-Mann kam, mir befahl, denselben allein gehen zu lassen, und mir ohne weiteren Grund einen Stoß von hinten gab. Ebenso bekam ich, als ich nicht schnell genug in der Baracke einen Befehl ausführte, einen Besen an den Kopf geworfen, glück[lich]erweise, ohne getroffen zu werden. Zum Appell musste grundsätzlich jeder, ob krank oder alt. So kam es, dass Kranke und Schwache oft von 2-4 Mann getragen werden mussten. Leute, die sich zum Revier oder Arzt meldeten, wurden oft 2-3 Mal wieder heimgeschickt, bis sie vorgelassen wurden; dann wurden sie oft ohne jede oder ohne genügende Untersuchung und ohne ordentliche Behandlung entlassen.
Besondere Vorfälle:
Einmal mussten die gesamten Judenblocks (ca. 10000 Mann) von mittags bis abends 6 Uhr auf dem Appellplatz stehen. Stillstehen von 30-60 Min. auf dem Appellplatz war keine Seltenheit, besonders beim Abendappell wurden wir oft durch verlängertes Stillstehen, anstatt dass wir einrücken durften, schikaniert.
Ein Bekannter (über 70 Jahre) wurde von einem SS-Mann nach dem Namen gefragt. Als er solchen ohne den vorgeschriebenen Zusatz „Schutzhaftjude“ nannte, bekam er zwei tüchtige Ohrfeigen, dass er umfiel. Der Mann wurde kurz darauf entlassen und ist zwei Tage [nach] der Entlassung gestorben, ein anderer 2 Stunden nach seiner Rückkehr nach München.
Ein ca. 60-jähriger Blasenleidender ersuchte, austreten zu dürfen. Als dies verweigert wurde und er eine Antwort gab, wurde er so geschlagen, dass er umfiel. Seinen Kameraden wurde verboten, ihm aufzuhelfen. Er wurde weiter von dem Stubenältesten (arischer Sträfling) im Beisein von SS derart verprügelt, dass er tot vom Platze getragen wurde.
Ein Münchener Sanitätsrat meldete sich abends wegen Blinddarmschmerzen zum Arzt. Derselbe lehnte eine Behandlung ab, und der Herr musste in die Baracke zurück. Am nächsten Morgen rief der Sanitätsrat um Hilfe. Ein Kollege musste nach einigen Minuten den Tod feststellen. Ob ein Durchbruch des Blinddarms oder Herzschlag die Ursache war, konnte nicht fest[ge]stellt werden.
Ein Herr verstarb infolge eines Herzschlages am Appellplatz. Er wurde einfach liegen gelassen und es dauerte 20-30 Minuten, bis er von dem Sanitätspersonal mit den Worten „Wieder einer verreckt“ geholt wurde.
Am Entlassungstag mussten wir von früh 5 Uhr nach Einnahme des Kaffees ohne weiteres Essen bis zum Abgang des Zuges in Dachau 4 Uhr nachmittags stehen.
Nach Ansicht arischer Gefangener stand die ganze „Juden-Aktion November 1938“, so wurde auf den Akten die Angelegenheit genannt, in keinem Zusammenhang mit der Affäre vom Rath, da die Vorbereitungen in Dachau schon wesentlich früher abgeschlossen waren.
Noch während ich in Dachau war, wurde meiner Frau gedroht, ich käme nicht eher aus dem I<Z, bis meine ausländischen Geschwister ihre Hypotheken auf meinem Anwesen löschen lassen. Ich bin zwar tatsächlich früher entlassen worden, musste aber mein Haus, das unter Berücksichtigung der gesamten Lager einen Wert von mindestens RM 23000 - darstellte, zu RM 14000 - verkaufen. Hievon wurden noch RM 2500 - gekürzt für die Schäden, die bei der Aktion am 10. November die SA durch wilde Vernichtungswut verursachte.
Ich habe in dem obigen Bericht fast ausnahmslos nur Tatsachen erwähnt, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, alles andere, insbesondere auch von anderen Blocks, wenn es auch von durchaus glaubwürdiger Seite berichtet wurde, weggelassen.