Bericht über Nürnberg
Emil Fischer, Amstelveen, berichtet über die Misshandlung seiner Angehörigen und die Zerstörung ihrer Wohnung am frühen Morgen des 10. November 1938, vermutlich in Nürnberg, „auf Grund persönlicher Feststellungen, Inaugenscheinnahme an Ort und Stelle“:
Betroffene Personen: Der 81-jährige Großvater, ein kleines etwa 80 Pfund wiegendes Männlein; die 71-jährige Großmutter, herz- und rückenmarkleidend, welche sich ohne fremde Hilfe kaum allein fortbewegen kann; der zufällig im Hause anwesende Schwiegersohn, der sich vor seiner Ausreise aus Europa verabschieden wollte.
Zeitpunkt der Geschehnisse; Die Nacht des 9. zum 10. November 1938, morgens um 4 Uhr.
Vor dem Wohnhause der Obigen fährt ein Mannschaftswagen mit uniformierten SA-Männern vor, die in wenigen Minuten die Haustüre öffnen und mit Gebrüll an der im ersten Stock gelegenen Wohnungstüre der alten Leute Einlass begehren. Bevor das alte Männlein, das aus dem Bette gesprungen war, um zu öffnen, [an der Tür war,] wurde die Türe durch Beilhiebe zertrümmert, und acht Männer im Ehrenkleide der SA und NSKK stürmten laut schreiend in die Wohnung und befahlen den tödlich erschrockenen alten Leuten, die Wohnung sofort zu verlassen. Unsere Mutter flüchtete nur mit Nachthemd und einem schnell übergeworfenen Mantel in das Treppenhaus. Inzwischen demolierten die Besucher die Inneneinrichtung der Wohnung, wobei merkwürdigerweise diejenigen Teile der Wohnung, die dem Hausbesitzer gehörten, verschont blieben (Fensterscheiben zur Straße, Badezimmer, Dampfheizung, Gasmesser und Elektrizität). Ein im Hause wohnender Arier, der voller Entsetzen das Krachen, Splittern von Holz, umgestürzten Schränken mit Porzellan hörte, rief das Überfallkommando an, weil er an ein Verbrechen glaubte. Ihm wurde bedeutet, er solle sich nicht darum kümmern, die Sache ginge „in Ordnung“.
Nach einer Stunde fleißiger Arbeit hatten oder glaubten die Besucher ihr Werk auftragsgemäß erledigt zu haben und verließen unter Hohngelächter die Wohnung. Die verzweifelten alten Leute begaben sich, durch Scherben watend, wieder in ihre Behausung und versuchten, sich durch das inzwischen herbeigelaufene Dienstmädchen (die in ihrem Schlafzimmer im Hinterhaus unter Drohungen eingesperrt wurde) etwas Kaffee kochen zu lassen, da sie natürlicherweise völlig erschöpft und erfroren waren. Kaum hatten sie sich zum Trinken niedergesetzt (alle Stühle waren zerschlagen), als nach etwa 30 Minuten ein zweites „Rollkommando“ erschien, welches mit Zivilisten gemengt war. Man ging nun zum Generalangriff über, die alten Menschen wurden wieder zur Türe hinaus, die Treppe hinunter auf den Hof gejagt. Unsere Großmutter war auch auf diesem Wege nur mit Nachthemd und Mantel bekleidet, hatte nur noch schnell ein Paar Halbschuhe angezogen. Vater war in Unterhosen und hatte Morgenschuhe an. Zu beiden Seiten der ersten kleinen Treppe hatten die uniformierten Strolche Posten gefasst und schlugen mit Knüppeln auf die Passierenden. Es ist selbstverständlich, dass der alte Mann nach einem Hieb auf den Kopf heftig blutete, während der Schwager bevorzugt mehrere Hiebe bekam. Auf dem Hofe hatten sich inzwischen alle im Hause wohnenden Juden versammelt. Da die Spontaniker immer noch in den Wohnungen zu tun hatten, während alle Ein- und Ausgänge des Hauses bewacht waren, gelang es, unserer schwer leidenden alten Mutter durch eine arische Hausgenossin eine Unterhose zuzustecken.
Nach einer weiteren halben Stunde erschien die Horde unter Freudengeheul und erklärte, dass nun „geschossen“ würde. Die Unglücklichen waren auf das Schlimmste gefasst. Die Verbrecher befahlen, dass man sich nach ihren Anordnungen aufzustellen habe. Die dem Zusammenbruch nahen, heftig blutenden Menschen wurden immer wieder in ihren Stellungen und Haltungen durch Hiebe und Stöße korrigiert... bis man ihnen nach und nach begreiflich machte, dass nur Blitzlichtaufnahmen gemacht würden.
Um 7 Uhr früh wurden alle Betroffenen vor das Haus gebracht und von dort zu Fuß durch die Straßen der Stadt in das Polizeipräsidium getrieben. Hier wurden die Frauen um halb acht entlassen.
Berichterstatter: E. Fischer, Amstelveen, Soerlaan 3
Emil Fischer, Amstelveen, setzt seinen Bericht später fort. Die Oberschwester des jüdischen Krankenhauses in Fürth erzählte ihm von den zahlreichen schon vor dem 9. November dort eingelieferten Verletzten des Pogroms aus der ganzen Umgebung, dem Zusammentreiben dergesamten jüdischen Bevölkerung Fürths auf dem Marktplatz am Morgen des 10. November, der Verschleppung der Männer in das Konzentrationslager Dachau, der Zerstörung der Synagoge und der Behandlung der vielen Verletzten des Pogroms in Fürth. Ferner beschreibt er die dreitägige Haft seines Vaters, den Zustand der elterlichen Wohnung nach der Verwüstung und die Sammlung von Plünderungsgut im Polizeipräsidium.
Besuch im jüdischen Krankenhaus in X. [Fürth] Am Sonntag besuchte ich mit unserem Großvater das Krankenhaus, in dem unter vielen anderen Misshandelten ein alter Mann lag, dem man anlässlich der spontanen Aktion ebenso wie seiner Frau durch „von der Treppe Hinunterwerfen“ beide Arme und Beine zerbrach! Ich bat die jüdische Oberschwester, mir über den Ablauf jener Nacht einen Bericht zu geben. Ich hörte folgenden Bericht:
Schon in den Tagen vor dem 9. November haben wir zahlreiche Fliehende aufnehmen müssen, die, in kleinen Orten der Umgegend wohnhaft, nächtlicherweise überfallen und misshandelt wurden. Diese Menschen waren stets viel mehr gefährdet, weil sie allein wohnend noch exponierter waren. Sie wurden mit schweren Verletzungen eingeliefert. Manche waren beim Bemerken der ins Haus Dringenden in ihrer Angst und Verzweiflung aus dem Fenster gesprungen, andere kamen mit Vergiftungserscheinungen, die auf Selbstmordversuchen basierten.
In der Nacht des 9. zum 10. November um 4 Uhr morgens wurde an dem schweren eisernen Tore des Vorgartens zum Krankenhaus gelärmt. Die Schwester fragte in Erwartung evtl. neuer Fälle aus dem Fenster und bemerkte ein Kommando SA, das Einlass verlangte. Ehe sie noch zum Tore kam, war dieses mit Gewalt geöffnet. Als sie die Haustüre öffnete, stürmten die Besucher hinein und verlangten, dass alle Patienten aus den Betten heraus auf die Straße sollten. Auf energischen Protest wurden alle Türen der Krankenzimmer auf den Korridoren geöffnet und jeder Fall einzeln „durch besonders sachverständige SA-Männer“ überprüft. Nur frisch Operierte wurden in den Betten gelassen, alle die Kranken, welche laufen konnten, mussten angekleidet das Haus verlassen. Alle jüdischen Schwestern mussten ebenfalls hinaus, und so übernahmen die diensthabenden katholischen Schwestern die Wacht. Als die jüdische Oberschwester von ihrem Ausflug zurückkam, war ein Schwerkranker durch die Aufregung gestorben.
Alle Menschen des Krankenhauses wurden auf einen Hauptplatz von X. getrieben, wo inzwischen alle aus den Häusern Gejagten eingetroffen waren oder eintrafen. In der Mitte des Platzes lagen die Thorarollen, die unter Aufsicht des inzwischen verprügelten Rabbiners auf dem Pflaster lagen. Zu gleicher Zeit wurde die Synagoge in Brand gesteckt. Neben den Thorarollen lagen die Kassetten und Dokumente des vernichteten Gemeindehauses. Eine Schar von etwa 50 Kindern, die aus dem jüdischen Waisenhause stammten, wurde herangetrieben. Unter den Frauen, die isoliert standen, bemerkte man eine Frau, welche zwei einjährige Zwillingskinder bei sich hatte. Um sieben Uhr früh wurden die Frauen entlassen, während die Männer ins Gefängnis und im Anschluss daran in das Lager Dachau gebracht wurden.
Als die jüdischen Schwestern wieder im Krankenhaus waren, fanden sie alle freien Betten, aber auch jeden anderen Raum, selbst Korridore mit Kranken und Misshandelten belegt, die inzwischen durch städtische Sanitäter eingeliefert waren. Christliche Ärzte halfen uneigennützig bei der Behandlung der unglücklichen Opfer. Es waren in den meisten Fällen Schädelverletzungen und Selbstmordversuche mit grotesken Mitteln. Aus dem Fenster Gesprungene hatten sich noch vor ihrer Tat die Pulsadern mit Glasscherben aufgeschnitten oder hatten irgendein Gift oder starke Quanten Schlafmittel genommen. Es sind etwa hundert Personen, meistens hoffnungslose Fälle, eingeliefert worden.
Die katholischen Schwestern sind noch in der Nacht auf Anordnung der SA zwangsweise und endgültig aus dem Krankenhaus entfernt worden.
Bericht über Z.
Entlassene aus Dachau berichten:
Während der Nacht wurden wir aus den Wohnungen in die Synagoge getrieben. Dort zwang man unseren Rabbiner, aus dem Buche Hitlers „Mein Kampf“ von der Kanzel herunter einige Kapitel vorzulesen. Dann wurden Proben abgehalten und schließlich durch alle Anwesenden einschließlich der Juden das Horst-Wessel-Lied gesungen. Während nun die Synagoge angezündet wurde, transportierte man die Männer nach Dachau.
Bezeichnend für die Situation und das Verhältnis der Beziehungen zwischen den braunen Gesellen und der Polizei ist, zu vermerken, dass den Unglücklichen im Polizeipräsidium durch menschliche Beamte zugeflüstert wurde: „Bei uns könnt ihr ruhig sein, hier passiert euch nichts!“ Man nahm die Personalien auf und überführte etwa 350 Eingelieferte in das Zellengefängnis. Unser Vater wurde nachmittags 2 Uhr endlich verbunden, nicht ohne dass der behandelnde Arzt seiner Entrüstung Ausdruck gab. Die schwerer Verletzten waren schon früher in das Krankenhaus X. eingeliefert. Unser Vater wurde wegen Raummangels mit drei anderen Verbrechern (Leidensgenossen) in einer Zelle untergebracht, aus welcher er am dritten Tage seiner Haff durch Protektion befreit wurde.
Unsere Mutter fand die Wohnung systematisch vernichtet vor. Was an Glas und Porzellan vorhanden war, ist zerschlagen. Die Bilder an den Wänden sind besonders scherzhaft zugerichtet, indem man aus ihnen mit dem Seitengewehr viereckige Stücke von etwa 30 qcm herausschnitt. Der Radioapparat war nicht mehr zu erkennen, das Buffet auf die Vorderseite gekippt, sodass alles herausfiel und von den schwe ren Stiefeln der SA der Einfachheit halber zertreten wurde. Das Schlafzimmer wurde ebenfalls stark mitgenommen. Der Waschtisch wurde in Atome verwandelt, dieser, ebenso die Nachtkästchen (Marmorplatten) waren zerbröckelt. Die Uhren der Einwohner, welche auf den Nachtkästchen lagen, wurden heruntergeworfen und später, völlig platt getreten, wiedergefunden. Ein Portefeuille mit Geld fand man später... aber ohne die RM 500-, die darin waren. Alle anderen großen Möbelstücke sind nur noch als Brennholz zu verwerten.
Es ist noch zu erwähnen, dass von polizeilicher Seite, sozusagen offiziell, bekanntgegeben wurde, dass sich im Anschluss an diese „spontane Aktion“ ansehnliche Mengen „mitgenommener Gegenstände“ aus Silber und Gold, ebenso Geldbeträge im Präsidium befänden, die abgeholt werden könnten! Es hat sich klugerweise keiner der Betroffenen als geschädigt gemeldet.
Berichterstatter: E. Fischer, Amstelveen, Soerlaan 3