Bericht aus Dessau
Das Staatsministerium Anhalt gab am 11. Februar 1935 folgenden „Bericht über die politische Lage“ für Dezember 1934 und Januar 1935 ab:
Vor Weihnachten sind von einzelnen nationalsozialistischen Gliederungen vor verschiedenen jüdischen Geschäften und Kaufhäusern Posten aufgestellt worden, die feststellen sollten, ob und in welchem Umfange Angehörige der NSDAP oder nationalsozialistischer Verbände bei Juden kaufen. Zu irgendwelchen Zwischenfällen ist es anläßlich dieser Kontrollmaßnahmen nicht gekommen. Jüdische Geschäftsleute haben sogar erklärt, daß irgend ein Geschäftsausfall gegenüber dem Vorjahre nicht eingetreten sei.
Die Juden scheinen ihre Versammlungstätigkeit langsam wieder aufzunehmen. So veranstaltete u.a. die Ortsgruppe Dessau der Zionistischen Vereinigung am 6.1.1935 in Zerbst eine Filmvorführung, die von Ansprachen des ehemaligen Landgerichtsdirektors Alterthum und des Vorsitzenden der Dessauer Ortsgruppe geleitet war. Zur Vorführung gelangte ein Palästinafilm. Die Veranstaltungen der Juden sind stets rechtzeitig und ordnungsgemäß angemeldet worden. Zu einem polizeilichen Einschreiten lag bisher kein Grund vor.
Zu einer Protestkundgebung der Bevölkerung gegen einen jüdischen Angestellten der I.G. Farben in Wolfen, der in Dessau eine Werkswohnung inne hat, kam es am 24.1.d.J.. Als dieser gegen Abend nach Hause kam, ist er von einer großen Zahl von Personen, die sich vor seinem Hause versammelt hatten, empfangen und beschimpft worden. Man erklärte ihm, daß man es nicht dulden werde, daß ein Jude bei der heutigen Wohnungsknappheit eine aus städtischen Mitteln erbaute Wohnung inne habe. Das inzwischen herbeigerufene Überfallkommando stellte die Ruhe wieder her, der Jude mußte mit seiner Frau die Nacht in der Stadt verbringen.