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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht aus dem Saarland

Nach dem 14. November verfasster Bericht eines Schweizers über den Besuch bei Verwandten im Saarland, deren Wohnung am 10. November verwüstet worden war, die Zerstörung der Synagoge und des Friedhofs und den Zwangsverkauf der Liegenschaften:

Ein Schweizer Bericht über eine Deutschlandreise vom November 1938

Wenn einer eine Reise tut..., dann wird allgemein erwartet, dass man nur Angenehmes zu erzählen hat. Bei meinem Fall ist es leider das Gegenteil, da ich auf SOS-Ruf meiner Verwandten in Deutschland mich zu einer [Reise] nach dorten entschließen musste.

So fuhren mein Vater und ich schweren Herzens ins Ungewisse, ohne zu ahnen, was unserer harren werde. Meine Verwandten, zwei Frauen von über 60 Jahren, wohnen seit ihrer Kindheit im Saargebiet in einer Stadt von ca. 10.000 Einwohnern. Es dunkelte bereits, als wir an unserem Bestimmungsort eintrafen, und [wir] waren erstaunt, in diesem Städtchen einen solchen enormen Betrieb vorzufinden.

Am Hause meiner Verwandten angelangt, sahen wir als Erstes, dass alles dunkel war, sodass ich bereits das Schlimmste befürchtete. Die Fensterläden waren geschlossen, jedoch notdürftig mit einigen Brettern neu zugenagelt, ebenso die Haustür, wo die ganze Füllung fehlte. Auf unser Klopfen öffnete meine Tante, und bei näherem Zusehen konnten wir zu unserer Freude feststellen, dass ihnen körperlich nichts angetan war. Aber welches Chaos wartete unser im Inneren des Hauses. Der Korridor mit Glas- und Holzsplittern, zerschlagenes Porzellan, zerrissene Bilder und Photographien, Dreck, Steine ... genau wie auf einem Müllhaufen. In der Küche, im Wohn- und Schlafzimmer dasselbe Bild.

Hier ein kurzes Resume, wie sich alles abspielte: Am besagten Donnerstagabend gegen 8 Uhr verlangte jemand Einlass in die Wohnung. Eine meiner Tanten öffnete die Türe, und vor ihr stand ein fast zwei Meter großer SA-Mann, welcher sagte: „So, Kameraden, jetzt man ran.“ Bewaffnet mit Pickeln, Hämmern, Äxten, Blocher und anderen schweren Dingen drang die Horde, 50 bis 60 Mann stark, darunter auch einige Mädels und Schulkinder, in das Haus, warf Schränke, Tische, Stühle zu Boden. Mit aller Wucht wurde darauf losgeschlagen, und was der Bande nur unter die Finger kam, kurz und klein gemacht. Wie durch ein Wunder blieben zwei Betten und ein Schrank verschont, was meiner Ansicht [nach] nur darauf zurückzuführen ist, dass so viele Leute in der Wohnung hausten und sie einander ganz einfach im Wege standen. Sämtliche Esswaren, wie Eier, eingemachte Früchte, Konfitüre, wurden dazu verwendet, die Wäsche vollständig zu verschmieren. Meine beiden Tanten flüchteten aus dem Hause, durch den Anblick vollkommen gebrochen, und begaben sich mit polizeilicher Hilfe auf das Polizeipräsidium, wo sie sich mit noch anderen jüdischen Frauen in Schutzhaft begaben. Die Nacht verbrachten sie dort, wo sie Schlafgelegenheit hatten und auch am nächsten Morgen ein Frühstück verabreicht bekamen. Gegen 11 Uhr morgens wurden sie dann wieder nach Hause geschickt, mit der Mitteilung, dass nichts mehr geschehen werde und das Haus über Nacht polizeilich bewacht worden sei. Inzwischen wurden die Fenster und die Haustüre durch die Polizei notdürftig geflickt, d. h. mit Brettern zugenagelt. Die paar Männer, die noch in der Stadt wohnen, wurden verhaftet und abgeführt mit unbestimmtem Aufenthaltsort. Die Synagoge ist vollkommen ausgebrannt, Mauer und Dach stehen noch, die herrlichen Glasfenster sind eingeschlagen, der gute Ort [Friedhof] vollkommen vernichtet, indem die Grabsteine aus der Erde herausgerissen und zerschlagen wurden.

Mein Vater und ich hatten zwei volle Tage Arbeit, um überhaupt nur einigermaßen Ordnung zu schaffen, und man hält es für kaum glaublich, dass ein solcher Vandalismus im so genannten kulturellen Dritten Reich existieren kann. Meine Tanten, die während der ersten vier Tage überhaupt nicht mehr heizen konnten, da die Rohre demoliert waren, konnten sich nur in der Küche aufhalten. Ins Bett zu gehen, trauten sie sich nicht, vor Angst, das grausame Spiel beginne von vorne.

Nun muss ich noch hinzufügen, dass in dieser Stadt im Moment ca. 5.000 Arbeiter für Festungsbau beschäftigt sind, welche in zwei Schichten ä zwölf Stunden arbeiten müssen. Dazu kommen noch 300 Mann Polizei, zur so genannten Überwachung. Das Komische an der ganzen Sache ist ja, dass die Polizei in besagter Nacht überhaupt nicht eingreifen durfte, sondern stillschweigend zusehen musste. Auch wurde uns versichert, dass diese Demolierungen nicht von den ortsansässigen Einwohnern, sondern eben von diesen Arbeitern vorgenommen wurden.

Bereits hat die deutsche Regierung begonnen, die im Besitz von deutschen Juden sich befindlichen Häuser und Liegenschaften zu schätzen, ein solches Haus darf nur noch an den Staat verkauft werden. Die Frauen wurden gezwungen, eine betreffende Vollmacht zu unterschreiben, und wenn sie sich weigern, werden sie ganz einfach des Besitzes enteignet. Der Staat bezahlt 60% der Schätzung, aber nicht in bar, sondern die Leute werden gezwungen, Anteilscheine zu zeichnen, d. h., sie werden auch davon nichts zu sehen bekommen.

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