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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht aus Frankfurt

Ein „arischer“ Sprachlehrer berichtet über die Zerstörung von Geschäften und Wohnungen und die Verhaftungen in Frankfurt am Main, über Gerüchte zum Schicksal von Rabbiner Florovitz, die Misshandlung und Verschleppung der Verhafteten, die Versuche, sich durch Verstecken der Verhaftung zu entziehen, und über die Haltung der nichtjüdischen Bevölkerung:

14. November 1938

Der Berichterstatter versucht, Hilfe für den Onkel seiner Frau, dessen Bruder seit einigen Jahren hier wohnt, zu finden. Der Onkel seiner Frau ist, schwerkrank, verhaftet worden, und nach der Ansicht des Hausarztes besteht direkte Lebensgefahr, wenn nicht unverzüglich Hilfe kommt. (Der Berichterstatter ist Rein-Arier.)

Der Berichterstatter, Sprachlehrer, hatte am 10. November morgens um 8 ½ Uhr einen Kursus für Anfänger abzuhalten. Der größte Teil seiner Schüler, ausschließlich SS-Leute, war nicht anwesend. Auf seine Frage erhielt er die Antwort: „Die sind abkommandiert zum Scheibeneinschlagen.“ Der Kurs wurde daraufhin auf den Nachmittag verschoben, da die Teilnehmer, in Zivil, während des ganzen Vormittags „Dienst zu machen hätten“.

Der Berichterstatter hat dann auf seinem Weg durch die Stadt nach dem Osten, wo er Stunde zu geben hatte, zugesehen, wie die Läden jüdischer Kaufleute demoliert wurden, und hat unter den Demolierenden eine Anzahl seiner Schüler, SS-Leute in Zivil, erkannt. Bei dem Einschlagen der Scheiben eines jüdischen Ladens in der A.-Straße habe ein älterer „Zuschauer“ zu einem anderen gesagt: „Schauen Sie den Mob, lauter Dreckbuben.“ Die Bemerkung wurde von dem anderen an einen Polizisten weitergegeben, und der Mann, offensichtlich Nichtjude, wurde sofort verhaftet. Im Osten, also dem ärmeren Viertel von B., wurden sämtliche Wohnungen von Juden demoliert und die Männer verhaftet. Im Westen wurden keine Wohnungen beschädigt, sondern nur die Männer verhaftet. In Fällen, wo nach mehrmaligen Versuchen die Männer nicht angetroffen wurden, hat man gedroht, Frauen und Kinder zu verhaften, wenn die Männer sich nicht stellten. In zwei bekannten Fällen wurden diese Drohungen ausgeführt, in einem anderen holte die Frau ihren Mann daraufhin aus dem Kohlenkeller.

Nach Angaben, die mir von zuverlässiger Quelle aus Frankfurt am Main gemacht wurden, sind aus dem jüdischen Krankenhaus in der Gagernstraße Patienten aus den Betten heraus verhaftet worden. Das Gerücht geht um, dass Rabbiner Horovitz in der Synagoge verbrannt sei, ein anderes Gerücht besagt, dass Horovitz in ein Irrenhaus gebracht werden musste. Die in Frankfurt Inhaftierten wurden in dem Messegebäude zusammengetrieben und in Gruppen von 30 Mann abtransportiert. Dabei sind sie nach Berichten eines Augenzeugen auf das unmenschlichste auf offener Straße misshandelt worden.

Eine große Anzahl jüdischer Frankfurter Männer treibt sich im Taunus obdachlos umher, weil sie fürchten, zu Hause verhaftet zu werden, eine kleinere Anzahl wird von jüdischen und christlichen Freunden in der Umgebung versteckt gehalten.

Nach seiner Ansicht über den Zweck der Aktion befragt, gibt der Augenzeuge an, dass man erstens die Straße beschäftigen wolle und zerstören wolle, dass aber weitgehend angenommen wird, dass man einen Druck auf das „Weltjudentum“ ausüben will, jetzt oder in einem späteren Stadium Lösegeld in Devisen zu zahlen. Selbst von angeblich gemäßigten Kreisen wird gesagt: „Lasst die im Ausland ruhig einmal ein bisschen bluten.“

Befragt, wie die Aktion auf die nichtjüdische Bevölkerung wirkt, gibt er an, dass der größte Teil völlig uninteressiert zuschaue. Ein kleinerer Teil „freue“ sich, dass endlich „aufgeräumt“ wird, ein noch kleinerer Teil „schäme“ sich. Zu offenem Protest scheine es nicht gekommen zu sein.

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