Bericht aus Leipzig
Anfang Januar 139 verfasster Augenzeugenbericht eines Leipzigers über die Zerstörung der Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße, der Ez-Chajim-Synagoge und der Gebäude des neuen Israelitischen Friedhofs, die Verwüstung von Ladengeschäften, Cafés und Wohnungen, die Massenverhaftungen und Misshandlungen sowie die Verschleppung der unter 60-Jährigen in das Konzentrationslager Buchenwald:
Ich berichte lediglich Tatsachen, die mir persönlich bekannt sind oder die ich von zuverlässigen Menschen erfahren habe, und berichte vor allem vom Standpunkte eines Leipzigers. Am Mittwoch, dem 9. November, in der siebenten Stunde wurde bekannt, dass geplant war, die beiden jüdischen Cafes zu stürmen. Rechtzeitig konnten die dort anwesenden Juden sich retten, sodass bei den Cafes lediglich Zerstörung an Einrichtungsgegenständen zu beklagen war.
Gegen Abend war dem Gemeinde- und Synagogendiener bekannt geworden, dass geplant war, die Gemeindesynagoge anzuzünden. Er machte davon Mitteilung, es wurde jedoch als überflüssig und in jedem Fall als unzweckmäßig erachtet, irgendwelche Schutzmaßnahmen zu versuchen. In der frühen Nacht wurden die Gemeindesynagoge (Gottschedstraße Ecke Zentralstraße) und die Ez-Chajim-Synagoge angezündet und standen schnell in Flammen. In einem Nebenteil der Gemeindesynagoge befand sich die Wohnung des Synagogeninspektors. Dieser war erst nach 11 Uhr in seine Wohnung zurückgekehrt, war eingeschlafen, als er durch den Lärm und den hellen Lichtschein geweckt wurde und erschreckt zu entkommen suchte. Das Treppenhaus war jedoch schon vollständig verqualmt, irgendein Ausweg war für ihn nicht mehr frei, nur mit Mühe konnte er sich den Menschen, die sich angesammelt hatten, verständlich machen. Darauf wurde die Feuerwehr gerufen und er und seine Frau über die Leiter gerettet. Sein gesamtes Hab und Gut verblieb in der Wohnung. Bemerkenswert ist, dass dieser Teil des Gebäudes nicht mit abgebrannt ist. Es wurde jedoch später festgestellt, dass das Inventar dieses Gebäudeteils nicht mehr in den Räumen zu finden war. Zu diesem Inventar gehörten ein Flügel, die Thoravorhänge und die Ornate der Gemeinderabbiner und Kantoren und die Wohnungseinrichtung des Inspektors. Auf dem Schreibtisch des Inspektors lag eine Aktentasche, in der abgezählt ein Betrag von etwa RM 325 - enthalten war, bestimmt, am nächsten Tage eine Rechnung zu zahlen. Auch Schmuck lag auf dem Schreibtisch. Als später wegen dieser Aktentasche Nachforschungen angestellt wurden, wurde ermittelt, dass sich die Aktentasche in Verwahrung der Polizeibehörde befand. Der Inspektor wurde ersucht, sie dort in Empfang zu nehmen. Bei mehrmaligem Vorsprechen an [der] Polizeistelle wurde er wiederholt auf später vertröstet, schließlich barsch angefahren, er solle nicht wagen, wieder nachzufragen. Auch ein Versuch, über die im Gemeindeamt die Aufsicht übenden Beamten der Geheimen Staatspolizei die Angelegenheit zu klären, scheiterte; es wurde der Gemeinde aufgegeben, den Betrag für diese Rechnung nochmals auszugeben.
Bei der Ez-Chajim-Synagoge (Apels Garten - Otto-Schill-Straße) erschienen nachts auf die Nachricht von dem Brand der orthodoxe Gemeinderabbiner und ein Synagogenvorsteher mit der Absicht, Thorarollen zu retten. Sie kamen aber nicht an die Synagoge, sondern wurden ergriffen und erlitten schwere Verletzungen; besonders der Synagogenvorsteher hatte etwa zwei Wochen mit der Heilung der ihm zugefügten Wunden zu tun. Die Verletzungen des Rabbiners waren in der Nähe des Auges, waren aber nicht gefährlich.
Gleichfalls in der Nacht wurde auch das Gebäude auf dem Gelände des neuen israelitischen Friedhofs an der Delitzscher Landstraße in Brand gesteckt. Die große Friedhofshalle, die kleine Friedhofshalle brannten vollständig aus, aber auch die an der neuen Halle befindlichen Wohngebäude wurden vollständig vernichtet. Die Einwohner konnten nur das nackte Leben retten. Es soll hier hinzugefügt werden, dass der Gemeinde später aufgegeben wurde, für den vollständigen Abbruch der noch gebliebenen Baureste Sorge zu tragen. Die Synagogen und die Friedhofsbaulichkeiten sind vollständig dem Erdboden gleichgemacht worden.
Gleichzeitig mit der Brandstiftung dieser Gemeindebaulichkeiten wurde auch das der Herrenkonfektionsfirma Bam-berger & Hertz am Augustusplatz Ecke Grimmaische Straße gehörige Grundstück in Brand gesteckt. Schon in der Morgenausgabe des 10. November wurde über diesen Brand berichtet und die Sache so dargestellt, als hätte der Inhaber der Firma das Grundstück selbst in Brand gesteckt, um einen Versicherungsbetrug zu begehen, nachdem die Verkaufschancen für das Unternehmen in der [letzten] Zeit sehr schlecht geworden und damit auch seine Vermögensverhältnisse sehr beeinträchtigt gewesen seien. Das Grundstück beherbergte nach der Seite des Augustusplatzes in einem Gebäudeteil auch ein Café, das dort das Erdgeschoß und die erste Etage innehat. Der Brand verlief so, dass die Geschäftsräume der Firma Bamberger & Hertz restlos ausbrannten, dass jedoch die Räume des Cafes und auch die darüber liegenden Büroräume vollständig unberührt blieben. Der öffentlich so Verdächtigte stellte sich daraufhin ohne weiteres der Staatsanwaltschaft, die jedoch erklärte, dass gegen ihn nichts vorläge. Daraufhin begab er sich in die Wohnung, wurde verhaftet und ins Konzentrationslager gebracht, und nachdem er dort sieben Wochen festgehalten worden war,1 erneut ins Polizeigefängnis eingeliefert. Dort versuchte man von ihm ein Protokoll zu erzwingen, worin er die Beschuldigung der Brandstiftung in irgendeiner Form anerkannte. Er weigerte sich, auch als man von ihm nur eine Erklärung verlangte, dass der gegen ihn vorliegende Verdacht von ihm nicht restlos habe aufgeklärt werden können. Schließlich wurde er auf freien Fuß gesetzt.
Das große Geschäftshaus der Firma Uri Gebrüder wurde relativ wenig beschädigt. Es wurden nur die zahlreichen Schaufenster zerstört, und die Schaufensterauslagen verschwanden. Später wurden die Warenbestände durch einen Treuhänder verwertet und nach Abwicklung das Grundstück für die Textilmesse neu hergerichtet und verwendet.
In zahlreichen Wohnungen erschienen kleinere und größere Rotten und zerstörten sinnlos die Einrichtungen. Möbel wurden zertrümmert, und mit besonderem Behagen wurden Spiegel und Kristallsachen und ähnliche Gegenstände zerschmettert.
Am frühen Morgen begannen Verhaftungen. Sie wurden teils ordnungsmäßig durch Beamte der Kriminalpolizei oder der Gestapo, meist unter Mitwirkung von SA- und SS-Leuten vorgenommen, teils aber auch kamen Rotten von offenbar unbefugten Menschen und holten aus den Wohnungen jüdische Männer heraus, um sie der Polizeibehörde zuzuführen. Im Stadtteil Eutritzsch wurden auch die Frauen zunächst mitgenommen, sie wurden alle, Männer und Frauen, zum Teil auch mit Kindern auf einem öffentlichen Platz aufgestellt, sodann wurden die Frauen alle, von den Männern ein kleiner Teil wieder entlassen, die anderen, ohne irgendwelche Gegenstände mitnehmen zu dürfen, abgeführt. In der Gegend des Zoologischen Gartens jagte man die Verhafteten an die dort fließende Parthe, nötigte sie, eine Treppe, die hinunterführt, hinabzusteigen, und trieb sie so bis dicht an das Wasser heran, ließ sie allerdings zum Teil später wieder in ihre Wohnungen zurück. Den anderen Teil nahmen Polizeibeamte mit, um sie ins Konzentrationslager zu überführen. Die Festgenommenen wurden zunächst zum Teil in das Gerichtsgefängnis, zum Teil in das Asyl für Obdachlose gebracht.
In den beiden Abteilungen des Gerichtsgefängnisses wurden die Verhafteten korrekt behandelt. Dagegen wurden die im Asyl für Obdachlose Untergebrachten schon dort in der schmählichsten Weise misshandelt. Ein Vorgesetzter, er wurde als Werkleutnant bezeichnet, der den Befehl über diese Verhafteten hatte, legte es offensichtlich ganz systematisch darauf an, die Leute in der Nacht nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Dieser Beamte erschien in ganz kurzen Zeitabständen, donnerte die Leute an, ließ sie aufstehen und in dem Saal einen Dauerlauf veranstalten, bei dem auch Männer über 60 Jahre über Hindernisse hinwegspringen mussten. Andere, die infolge sichtbaren Leidens daran nicht beteiligt werden konnten, mussten einen Kreis herum bilden und dabei singen; „Weißt du, wie viel Sternlein stehen?“
Im Laufe des Vormittags wurden an den einzelnen Stellen die über 60 Jahre aiten Männer ausgesondert und zum größten Teil nach wenigen Tagen entlassen. Die übrigen wurden in das Lager Buchenwald gebracht, und zwar, soweit sie nicht über 60 Jahre alt waren, die Rabbiner und Kantoren der Gemeinde, die Mitglieder des Gemeindevorstandes, die leitenden Ärzte des jüdischen Krankenhauses, auch die große Mehrzahl der zugelassenen jüdischen Ärzte und Anwälte, Inhaber der größeren Firmen, aber auch in stattlicher Zahl Arbeitslose, und zwar sowohl deutsche Staatsangehörige wie Staatenlose. Am Freitag um die Mittagsstunde erfolgte der Transport nach dem Bahnhof.