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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht aus Weener

Brief, den Henni de Groot-Cossen aus Groningen am 15. November über den Besuch bei ihrer Familie in Weener unmittelbar nach dem Pogrom und die Verschleppung des Verlobten ihrer Schwester und seines Vaters aus Leer in das KZ Sachsenhausen verfasste:

15. November 1938

Sehr geehrte Frau,

Sie baten mich um eine Zusammenfassung meiner Reise, die ich am 13. November nach Deutschland gemacht habe. In großer Sorge um meinen Vater und meine Schwester bin ich am vergangenen Samstagabend nach W. gereist, wo ich meine Familie gesund antraf. Früher hatte W. eine florierende jüdische Gemeinde, die nun unter diesen Umständen stark reduziert ist. Die Synagoge war abgebrannt, und mir bot sich ein trauriges Bild. Ein Bauzaun in der unmittelbaren Nachbarschaft trug die Aufschrift „Rache dem Judentum!“. Am Haus eines jüdischen Lehrers gleich daneben gab es nicht eine Scheibe, die noch ganz war, und die Gardinen wehten aus den Fensterrahmen. Bei der Fleischerei waren die großen Schaufenster vollkommen zerstört, und im Laden war ebenfalls vieles zerstört worden. Die Fenster waren von außen mit braunem Papier zugeklebt. Die Lager von zwei Handwerksbetrieben waren vollständig geplündert, die Waren fuhr man am Donnerstag mit einem Lastwagen weg. In meinem Elternhaus war alles heil und unbeschädigt, insgesamt haben sich die Leute in W. einigermaßen menschlich verhalten.

Donnerstag früh um 5 Uhr wurden mein Vater und meine Schwester aus dem Haus geholt und mit allen anderen Gemeindemitgliedern in einen kleinen Raum eingeschlossen. 30 Frauen und Kinder und 17 Männer waren in einem Raum. Es waren vor allem ältere Menschen, darunter eine Frau, die über 89 Jahre alt und sehr schwerhörig war, bei ihr hatte man alle Fenster zertrümmert, weil sie nicht aufgewacht war. Einige von ihnen wurden verhört, danach wurden gegen 11 Uhr die Frauen freigelassen. Als sie nach Hause zurückkehrten, stand vor jeder Wohnung ein SA-Mann Wache, der sie den ganzen Tag bewachte. Meine Schwester hatte das große Glück, einen anständigen Menschen vor ihrer Tür zu haben, dem alles so zusetzte, dass er weinte. Die Männer, einschließlich meines 77-jährigen Vaters, wurden in einem Viehtransporter nach L. gefahren. Sie hatten Sitzbänke hineingestellt. Alle Verhafteten, auch die aus L., wurden zum Schlachthof gebracht und in den Raum gesteckt, in dem die Tiere geschlachtet werden, vor ihnen wurden Beile und Messer geschliffen! Da die Älteren über 70 nach einer Verwarnung freigelassen wurden, konnte mein Vater mit drei anderen nach Hause zurückkehren. Nach seiner Rückkehr gab es eine Hausdurchsuchung, und alles Bargeld wurde mitgenommen, auch das der Jüdischen Gemeinde und das für die Armen. Den Schmuck durfte er behalten. Die Leute dort haben alle kein Geld; in günstigen Fällen bekommen sie ein wenig von der Wohlfahrt.

Der Verlobte meiner Schwester und sein Vater sollen angeblich nach Oranienburg gebracht worden sein. Sie wohnten in L.; dort leben einige unter fürchterlichen Bedingungen. Es gibt Familien, die kein Bett mehr haben und keine heile Tasse, aus der man trinken könnte. Sechs oder sieben Frauen, deren Männer verschleppt wurden, haben sich zusammengetan und wissen weder ein noch aus. Ich sprach mit einer Frau, der man alles genommen hatte, zu deren Familie sechs Personen gehörten, ihre einzige Tochter war gestorben, ein Sohn in Südamerika, ein siebzehnjähriger Junge in einem Jugendgefängnis, und ihr Mann und Sohn waren verschleppt worden. In ihrer Wohnung hatte man alles kurz und klein geschlagen. Das Schlimmste für diese armen Leute ist, dass sie nicht wussten, wo ihre Männer sein könnten. Inzwischen ist in L. die schöne Synagoge mit der Amtswohnung niedergebrannt, vermutlich ohne dass die Menschen vorher die Zeit hatten, alle Wertsachen herauszunehmen. Da sie die Leute morgens abholten, überraschte man sie im Schlaf, neben den Betten der erschrockenen Menschen standen mit Knüppeln Bewaffnete. Im Kerzenlicht, das einer der Unmenschen hielt, konnten sie das Notdürftigste anzie-hen, und wenn noch Zeit war, wurde das zerstörerische Werk vollendet. Waschbecken wurde in Spiegel geworfen - nichts blieb heil. Mein künftiger Schwager wurde im Nachthemd und ohne Strümpfe oder Unterwäsche verschleppt, seine verstörte Mutter lief mit einer Hose zum Zug. Den Menschen, die kurz vor der Ausreise standen, wurden das Tafelsilber und auch der Schmuck weggenommen. In W. bekamen die Juden sogar eine Quittung für die Sachen, die man ihnen weggenommen hatte. Ich besuchte einige mir bekannte Familien, und ich werde nie den stummen Schmerz vergessen: sie waren wie versteinert.

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