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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht aus Kiel

Gustav Lask, Vorsteher der Jüdischen Gemeinde in Kiel, berichtete im Sommer 1939 rückblickend über die von ihm am Morgen des 10. November 1938 erlittenen schweren Schussverletzungen, seine langwierige Genesung, den von der Gestapo erzwungenen Umzug nach Berlin und seine Ausreise nach England.:

Als ich am 9. November 1938 durch das Radio erfuhr, dass der Legationssekretär vom Rath in Paris gestorben sei, sagte ich sogleich zu meiner Frau: Wenn nur nichts passiert!

In der Nacht zum 10. November, um % 5 Uhr morgens, wurde bei mir heftig geläutet. Ein mir bekannter, auffallend erregter Polizeibeamter erschien und erklärte mich für verhaftet. Er entsicherte seine Waffe, indem er erklärte, bei jedem Fluchtversuch wird geschossen. Ich erwiderte mit aller Ruhe: „Das haben Sie bei mir nicht zu befürchten.“

Als der Beamte und ich durch den Vorgarten gingen, sah ich zwei mir unbekannte typische SS-Leute stehen, die Lederjacken trugen. Der mich begleitende Polizeibeamte flüsterte mit beiden. Er sagte zu mir: „Gehen Sie weiter!“ und ließ mich in der Dunkelheit allein gehen.

Als ich wenige Minuten gegangen war, ertönten plötzlich drei Schüsse. Der erste Schuss fehlte. Der zweite traf mich im Rücken, der dritte war ein schwerer Bauchschuss. Die Schüsse waren aus einer Parabellumpistole abgegeben worden. Ich hatte vor dem Abschuss bemerkt, dass die beiden mir unbekannten SS-Leute die Täter waren, nachdem sie in Spiralen auf mich zugelaufen waren. Ich hatte die Geistesgegenwart, nicht zu schreien. Die SS-Leute liefen davon. Ich kroch in einen Vorgarten. Plötzlich erschien der Polizeibeamte auf der gegenüberliegenden Seite und überzeugte sich, dass ich dalag. Er bestieg darauf ein in der Nähe haltendes Auto und fuhr davon. Ich röchelte schwer, insbesondere als ich bemerkte, dass nach etwa zehn Minuten einer der Mörder nochmals kam. Er rief: „Solche Schweinerei!“

Ich hütete mich, sofort um Hilfe zu rufen. Als ich merkte, dass anscheinend die Mörder und ihre Helfershelfer verschwunden waren, wagte ich Hilferufe. Zehn bis zwölf Personen fanden sich trotz der frühen Stunde ein. Ich bat zuerst, meiner Frau zu bestellen, dass ich nicht wohl sei. Der Sanitätswagen kam nicht. Nach den Berichten, die ich über die Schwierigkeiten erfuhr, ihn in Bewegung zu setzen, nehme ich als sicher an, dass die Ausfahrt des Wagens von der Gestapo absichtlich verhindert worden war.

Ich wurde dann doch mit dem Krankenwagen in das Krankenhaus gebracht und musste mich einer etwa zwei Stunden dauernden Operation unterziehen. Es handelte sich um einen Darmdurchschuss. Die Tatsache, dass ich, bevor mich der Polizeibeamte aus meiner Wohnung führte, die Toilette aufsuchte, hat entscheidend dazu beigetragen, dass ich die schwere Schussverletzung und die darauf folgende Operation überstanden habe. Nach sieben Wochen1 Krankenlager wurde ich aus dem Krankenhause entlassen. Die Entlassung erfolgte nur mit Genehmigung der Gestapo. Da ich schon lange Jahre in meiner Vaterstadt ansässig war, so wurde ich bei meinen Gehversuchen von vielen christlichen Freunden und Bekannten zu meiner Genesung beglückwünscht. Von Unbekannten wurden mir Blumen ins Haus geschickt, und ich erhielt anonyme Briefe, die mir Beweise von Sympathie brachten. Eine mir bekannte, der NSDAP angehörige Dame wollte gegen die Schandtat protestieren, indem sie der zuständigen nationalsozialistischen Zeitung ein „Eingesandt“ zuschickte. Nur die Tatsache, dass sie alte Nationalsozialistin war, bewahrte sie vor üblen Folgen. Ein mir bekannter Ingenieur (Seeoffizier) und dessen Sekretärin wurden verhaftet, weil sie angeblich sich zu meinen Gunsten geäußert hatten.

Da die Gestapo beobachtete, dass mein Aufenthalt Anlass zu der Partei abträglichen Stimmungen und Berichten gab, so erhielt ich den Befehl, am 16. Januar meine Heimatstadt zu verlassen. Dazu wurde mir aufgegeben, mich bei der zuständigen Polizeistelle in Berlin zu melden. Ich dürfe das Reichsgebiet nicht verlassen, obwohl für mich schon Permit und ebenso für meine Frau nach England Vorlagen.

Mir wurde dann während meines sieben Monate langen Aufenthaltes in Berlin immer wieder zugesagt, dass ich meinen Pass für die Ausreise erhalten würde. Ich erhielt ihn auch endlich, nachdem, wie ich erfuhr, Herr Himmler selbst eine Entscheidung darüber getroffen hatte.

Ich begab mich sodann mit meiner Frau nach London.

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