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Chronik und Quellen
1939
Januar 1939

Bericht aus Breslau und Niederschlesien

Zum Jahresbeginn 1939 entstandener Bericht einer in der jüdischen Wohlfahrtspflege tätigen Breslauerin über die Stimmung der deutschen Bevölkerung in Breslau und Niederschlesien nach dem Pogrom, die wirtschaftliche Lage der jüdischen Bevölkerung, die Gemeindeverwaltung, die Wohlfahrtspflege, die Massen Verhaftungen und Todesfälle in den Konzentrationslagern Buchenwald und Sachsenhausen sowie unter den aus der Haft Entlassenen:

Allgemeine Lage

Man kann nicht davon sprechen, dass sich in Breslau und in Niederschlesien eine scharfe oppositionelle Stimmung bemerkbar macht. Die so genannten gebildeten Stände, die sich noch ein Gefühl für Humanität und Anstand bewahrt haben, sind natürlich durch das ganze Auftreten der führenden Kreise des Dritten Reiches, insbesondere aber durch die Inbrandsetzung der Synagogen, abgestoßen und stehen dadurch wie durch andere Eindrücke abseits. Die große Masse hingegen steht den Ereignissen gleichgültig oder sogar mit einer gewissen Sympathie für die Regierung gegenüber. Den Leuten fehlt im Großen und Ganzen wenig. Sie werden durch geschickte Propaganda stark beeinflusst und glauben das, was sie schwarz auf weiß zu lesen bekommen. Die Lebensmittelversorgung ist zwar im Ganzen gesehen sprunghaft, d. h., es gibt bald die eine Warensorte, bald die andere, z. B. bei Südfrüchten tritt dies in Erscheinung. Durch diese geschickte Ersatzpolitik lässt man es nicht zu einer tiefer gehenden Unzufriedenheit kommen. Zugleich ist die Einschüchterung selbst bei Leuten, die früher in der Opposition standen, so groß, dass sie es nicht wagen, ihre Unzufriedenheit kundzutun.

Es ist ausdrücklich zu betonen, dass diese Beobachtungen für Breslau, Niederschlesien, teilweise auch für Berlin gelten, dass sich aber in anderen Teilen des Reiches, besonders im Westen, ein anderes Bild ergeben kann.

Im Falle eines Krieges würde die Bevölkerung, wenn auch nicht begeistert, so doch widerstandslos der Kriegsparole folgen. Wie lange allerdings das Mitgehen anhielte, das lässt sich noch gar nicht voraussagen.

Die Lage der Juden

Die noch verdienenden Berufe sind an einer Hand aufzuzählen. Es sind dies einige wenige Ärzte, einige Anwälte (Rechtskonsulenten) und alles, was mit der Gemeindearbeit zusammenhängt, also Lehrer, Krankenhaus, Fürsorge. Alle anderen leben von ihrem Geld oder von Unterstützungen.

Es sind so wenige Ärzte zugelassen, dass die ärztliche Versorgung nur sehr knapp gesichert ist. Anwälte sind in ganz unzu reichender Zahl vorhanden. Man hat zwar in dem Bezirk etwa 15 Anwälte zugelassen, diese sind aber willkürlich ausgewählt worden. Der böse Leumund behauptet, dass es danach ging, ob jemand mit einer Arierin verheiratet ist. Die ausgewählten Anwälte hat man vorher nicht befragt, ob sie gewillt sind, noch hat man geprüft, ob sie geeignet sind. Daher kommt es, dass zwei Drittel davon arbeitsmüde sind, weil sie mit eigenen Auswanderungsplänen beschäftigt sind, die anderen sind infolgedessen derart überlastet, dass sie nichts mehr durchführen können. Manche sind auch zu alt. Es herrscht eine absolute Rechtsnot. Prozesse spielen eine untergeordnete Rolle. Es handelt sich im Wesentlichen um Beratung bei Abwicklungen und Auswanderungen. Vermögensverwalter gibt es nur wenige, und es gibt trotz großer Nachfrage nur zwei oder drei Devisenberater.

Jüdische Bevölkerungsziffern

Seit dem vorigen Jahr ist die Bevölkerung in der Provinz um 50% zurückgegangen, nämlich von 5000 auf 2500 Seelen. Die jüdische Bevölkerung Breslaus ist von 17000 im Jahre 1938 auf 12- bis 13000 zurückgegangen. Dieser geringere Rückgang gegenüber der Provinz ergibt sich daraus, dass etwa 2000 bis 3000 Personen in Breslau aus der Provinz zugezogen sind.

Den neu nach der Großstadt Zuziehenden werden nur indirekt Schwierigkeiten gemacht, wie Vorladungen zur Polizei etc. Es bestehen aber keine Zuzugsverbote.

Die Vorladungen zur Polizei und Gestapo sind aber nichts Außergewöhnliches. Im Augenblick ist man in Breslau damit beschäftigt, die ganze jüdische Bevölkerung nach dem Alphabet der Straßen aufzurufen, wobei man weder alte Leute noch kleine Kinder auslässt. Die Vorgeladenen werden befragt, wann sie auszuwandern gedenken.

Die Verwaltung der jüdischen Gemeinde Die Gemeindevorsteher sind der Ansicht: Rette sich, wer kann! Dadurch geht die Intelligenzschicht der Gemeinde weg. Es gibt keine Sicherung für die zurückbleibenden Beamten der Gemeinde. Es müsste für solche Personen ein Permit für England für alle Fälle bereitliegen. Ersatz für die Wegziehenden ist schwer zu beschaffen. Die Berichterstatterin hatte als Nachfolgerinnen drei Personen zur Auswahl, von denen die eine über 60 Jahre alt und schwächlich, die zweite 50 Jahre alt und ungeeignet, die dritte etwas jünger und sehr geeignet, aber krank war.

Der Hilfsverein hat noch verhältnismäßig gute Kräfte bekommen, weil sich die beschäftigungslosen Anwälte dafür zur Verfügung stellten.

Der Hilfsverein ist von Berlin aus schlecht organisiert, in der Provinz noch schlechter. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, dass ein Laden, der keine Ware zu verkaufen hat, keine geschulten Verkäufer braucht. Die Kräfte dieser Menschen und die Kräfte der Ratsuchenden werden verzettelt. Es stehen täglich Hunderte von Menschen vor den Türen des Hilfsvereins und warten stundenlang. Dabei sind allein in Breslau fünf Berater nebst fünf Stenotypistinnen und etwa fünf Registraturangestellten beschäftigt.

Die Verhaftungen

In Niederschlesien waren etwa 100% aller jüdischen Männer verhaftet. Heute sind noch etwa fünf bis zehn Personen im Konzentrationslager. In Bunzlau hat der Bürgermeister erklärt, er sei außer Stande, den Haftbefehl, der sich auf „alle Juden“ bezog, durchzuführen, da die Gefängnisräume dafür nicht ausreichten. Daher wurde in B. niemand verhaftet. Heute ist es noch vorgekommen, dass man vier Personen in Haft genommen hat, weil sie ihre Auswanderung nicht energisch genug betrieben. Man hat sie eine Woche lang in Haft behalten. Häufig wird eine Frist zur Auswanderung gestellt. Da man den Leuten beim Hilfsverein zu keiner legalen Einwanderung verhelfen kann, geht man jetzt vielfach illegal nach Palästina und Belgien.

Die Wohlfahrtsgesetzgebung und die Aufgaben der jüdischen Gemeinde

Man hat die Fürsorgepflichtverordnung verändert. Am 19. November ist ein Nachtrag dazu herausgekommen, mit der Einschränkung: „Juden erhalten grundsätzlich keine öffentliche Unterstützung mehr, sondern sind den jüdischen Stellen zuzuweisen. Im Falle des Eintretens der öffentlichen Fürsorge sind die Fälle besonders streng zu prüfen.“ D. h. praktisch, dass sämtliche privaten Einkünfte ohne Ausnahme auf die Unterstützung angerechnet werden müssen. Z.B. wenn die Gemeinde früher RM 10.- und die Stadt RM 30 - gab, so wird jetzt der Betrag der Gemeinde angerechnet auf die RM 30-, und die Stadt gibt infolgedessen nur RM 20.-. Die Vorrechte für Kleinrentner sind für Juden aufgehoben. Die Gemeinden haben also grundsätzlich alle Unterstützungen zu übernehmen. Sie müssen dabei zwangsläufig ihr Vermögen antasten und aufbrauchen, denn aus Steuererträgen ist der Bedarf nicht zu decken. Breslau würde bei voller Übernahme aller Lasten allein für offene Fürsorge monatlich RM 30000 - benötigen, dazu kommen die Lasten für Krankenhaus, Altersheime etc., sodass im Ganzen RM 80000 - monatlich benötigt werden, d. h. ca. eine Million RM im Jahre!

Übrigens wird die Rente an Schwerkriegsbeschädigte weiter ausgezahlt, überhaupt gehen die Rentenauszahlungen weiter.

Auswirkungen der Wohlfahrtsgesetzgebung In allen Fällen, wo man an dem Wort „grundsätzlich“ der neuen Verordnung festhielt, zahlen die Städte und Kreise weiter wie bisher die Unterstützungen, da die jüdischen Gemein den nachgewiesen haben, dass sie sonst in einem halben Jahre fertig sind mit ihrem Vermögen. Fast alle Gemeinden in der Provinz haben gut akkordiert. Teilweise haben die Bürgermeister bei den Gemeinden angefragt, was sie in den einzelnen Fällen zahlen sollen. In Breslau hat leider Stadtrat Less die Sache nicht energisch genug betrieben, weil er stolz darauf war, dass die Gemeinde liquide war und imstande, große Auszahlungen zu leisten. Die Zahlstellen sind im Allgemeinen weiter bei der Stadt geblieben, aber in Breslau spielten sich die Auszahlungen im jüdischen Wohlfahrtsamt ab, das auf derartigen Ansturm von Menschen nicht eingerichtet ist.

Auch die Kosten für jüdische Insassen der staatlichen oder städtischen Irren- und Heilanstalten müssen eigentlich von den jüdischen Gemeinden nunmehr getragen werden. Der Landeshauptmann schickte ganze Bündel von Vordrucken betr. solche Personen. Man hat sich erboten, von jüdischer Seite einen Satz von 50 Pfg. pro Tag zu zahlen. Die Verhandlungen darüber laufen noch. Grundsätzlich ist der Landeshauptmann aber bereit zu solchem Abkommen. Bei Breslau aber wird er wahrscheinlich auf voller Zahlung bestehen, da dort auch der Bürgermeister die vollen Unterstützungszahlungen auf die jüdische Gemeinde abgewälzt hat.

Jüdische Heime und Anstalten

Das Kinderheim in Flinsberg, das dem Jüdischen Frauenbund gehörte, ist verkauft worden. Das Kurhospital in Warmbrunn wird wahrscheinlich wieder eröffnet als Altersheim oder als Kurhospital. Das Liegnitzer Altersheim ist noch in jüdischem Besitz. Die jüdische Haushaltungsschule in Breslau ist aufgelöst worden. Sie war als Schule nicht mehr genehmigt worden. Das Breslauer Rabbinerseminar ist geschlossen, Bibliothek und Archiv sind versiegelt, ebenso die Bibliothek der jüdischen Gemeinde in Breslau. Einige der landwirtschaftlichen Ausbildungsstätten hat man als Hachscharah belassen, z.B. Groß-Bresen, nachdem dort alles zerstört worden war. Die Berichterstatterin erzählt, dass sie dort ein völlig zerstörtes „ausgeweidetes“ Klavier gesehen hat, unter allem Zerstörten ein besonders wüster Eindruck.

Die Enteignung der Juden

Man hat bei der Vermögensangabe in vielen Fällen beobachten können, dass die Leute ihre Werte zu hoch angegeben haben, aus Furcht, bei zu niedrigen Angaben bestraft zu werden. Dies rächt sich jetzt bei der Besteuerung. Auch Silber und Gold hatte man ganz genau angegeben. Diese Vorsichtigen sindjetzt die am meisten Geschädigten. Man nimmt alles, was Wert hat, selbst aus schon gepacktem Umzugsgut lässt man im letzten Augenblick das Silber herausnehmen.

Persönliche Erlebnisse

Bei der Berichterstatterin fanden in den Novembertagen drei Haussuchungen statt. Sie selbst befand sich auf einer beruflichen Reise, aber die alte Mutter von 80 Jahren war in der Wohnung. Man suchte dort nach jüdischen Männern, die sich aus Furcht vor Verhaftung versteckt halten sollten. Im Vorbeigehen rissen die Leute, die in die Wohnung eindrangen, den Kontakt der Telefonleitung aus der Wand. Als die Berichterstatterin später beim Telefonamt um Reparatur ersuchte, wurde ein Beamter geschickt, der ihr aber sagte, da sie Jüdin sei, dürfe er nichts reparieren. Nach nochmaliger Anfrage beim Amt erschien jemand, der ihr den Schaden in Ordnung brachte, ohne dafür etwas zu verlangen.

Arische Freunde zeigten sich sehr hilfreich. Sie verwahrten bei sich das Silber und alle Wertgegenstände der Frau X.

Die Berichterstatterin war am 10. November in einer kleinen Stadt Niederschlesiens, in Mielitsch.

Dort wurde sie mit anderen Personen, mit denen sie im Gemeindehaus zusammen war, unter unflätigen Beschimpfungen von SA-Leuten dazu gezwungen, die Scherben der zerstörten Fenster auf der Straße zusammenzusuchen. Das Publikum sah neugierig zu, ohne sich zu äußern. Sie hatte bald Gelegenheit, zu entkommen, und fuhr nach Breslau.

Im Allgemeinen könne man sagen, je weiter nach Osten, desto schlimmer war der 10. November. In Liegnitz ging es am anständigsten zu. In Neusalz aber gab es kein jüdisches Geschäft, nur vier jüdische Familien. Man hat alle vier Wohnungen restlos zertrümmert, weil man glaubte, damit den Vorschriften am besten nachzukommen.

Todesfälle

Dr. Emanuel Joel, Breslau, Lehrer, 40/45 J., in Buchenwald gestorben,
Erich Weyl, Breslau, Kaufmann, 37 J., in Buchenwald an Lungenentzündung gestorben,
Wormann, Breslau, Schuhhändler, 60 J., in Buchenwald gestorben,
Karl Steinfeld, Kaufmann, 60 J., in Buchenwald gestorben, Cohn, Görlitz, Fabrikant, in Sachsenhausen gestorben,
Guttstadt, Reichswirtschaftsgerichtsrat, Berlin, 58 J., nach Entlassung aus Sachsenhausen gestorben,
Plachte, Glogau, etwa 60 J., Kaufmann, in Buchenwald gestorben,
Jules Beer, Reichenbach, i. Fa. Weil & Nassau, erhängte sich nach Entlassung aus der Haft,
Arthur Dresel, Görlitz, Kaufmann, gestorben (?) während der Aktion 1934.

Amputation infolge Erfrierung im Konzentrationslager Fritz Neumann, Brieg, 30 J., alle Zehen wegen Erfrierung amputiert.

Zahlreiche Todesfälle infolge von Erkrankungen oder Nachwirkungen unter den aus den Konzentrationslagern Entlassenen.

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