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Chronik und Quellen
1939
Januar 1939

Bericht aus Berlin

Ein Anfang Januar 1939 verfasster Bericht aus Berlin über die Stimmung in der Bevölkerung angesichts von Kriegsfurcht und Lebensmittelknappheit, die Verarmung der jüdischen Bevölkerung und die Ausplünderung der Auswanderer:

Bericht aus Berlin Anfang Januar 1939

Es herrscht gedrückte Stimmung, Angst vor kommenden Ereignissen, insbesondere vor Krieg.

Z.B. wird die Rückberufung der deutschen Dienstmädchen aus dem Ausland im Publikum nicht nur damit erklärt, dass man sie im Hausdienst und in den Rüstungsindustrien benötigt, sondern auch damit, dass man auf die Ersparnisse abziele, welche sie mitzubringen haben. Es herrscht das Gefühl, der Staat sei genötigt, auf alle Gelder zu[zu]greifen. Es wird geradezu befürchtet, auch die ansässige Bevölkerung, nicht nur die Juden, die Kirchen etc., werde noch enteignet werden. Daher habe eine gewisse Flucht in Sachwerte Platz gegriffen, weil man um die Geldmittel Befürchtungen hegt.

An Butter, Eiern und dergl. herrsche Knappheit. Man müsse dafür anstehen. Die Schuld dafür werde den Juden zugeschoben, insbesondere denjenigen Amerikas, die durch ihren Boykott gegenüber deutschen Waren verhindern, dass Deutschland die Devisen erhalte, welche es für die Zufuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln benötige. Auf diese Anschuldigungen falle das Publikum herein, und die Stimmung gegen die Juden werde dadurch verschlechtert. Diese Ablenkung schaffe aber die Tatsache der Knappheit nicht aus der Welt.

Zum Teil werde im Publikum allerdings vermutet, die Lebensmittel wären zwar vorhanden, sie werden aber als Kriegsreserven zurückgelegt, was möglich ist. Nach all den Entbehrungen und Verzichtleistungen der letzten Jahre sieht man unter solchen Umständen einem Kriege nur mit Bangen entgegen.

Es scheint Unwille zu herrschen über die Errichtung von Riesengebäuden und neuen Ortschaften, während gleichzeitig an anderen Orten der Wohnungsbau vollständig ruhe, obschon Bedarf vorliege. Die z. T. blendende Ausstattung der Neubauten wirke geschmacklos und bedeute einen Rückschritt in schön begonnener künstlerischer Entwicklung, namentlich in der Innenausstattung.

Zur Leistung der Strafmilliarde fehlen manchen Juden die Mittel vollständig. Sie müssen die Beträge öfters bei anderen Juden entlehnen, die auf Rückzahlung nicht rechnen können.

Wenn Juden auswandern, erscheinen Beamte bei ihnen, welche das Wenige an Kleidern und Wäsche bezeichnen, das sie mitnehmen dürfen, und den Wert der Gegenstände schätzen. Für den ermittelten Betrag sei eine Ablösungssumme an den Staat zu entrichten. Man müsse also sein persönliches Eigentum noch einmal kaufen. Die Mittel werden dadurch beschafft, dass die nicht zum Mitnehmen bestimmten Gegenstände, vor allem die Wohnungseinrichtung, veräußert werden. Da man nur ca. ein Zehntel des Wertes erhalte, reiche der Erlös kaum weiter als zur Ablösung dessen, was man mitnehmen dürfe. Man verlasse das Land somit ohne alle Mittel. Brautpaare machen Gebrauch von der billigen Erhältlichkeit des Mobiliars etc. aus jüdischen Wohnungen. Der Staat spare somit sich die Ehestandsdarlehen, oder mit Hilfe der Letzteren können sich die Brautpaare sehr ausgiebig einrichten.

Bis alle Formalitäten vor einer Ausreise erfüllt seien, vergehen Wochen, insbesondere bis die Unbedenklichkeitsbescheinigung von allen Stellen unterzeichnet vorliege, deren Unterschrift erforderlich sei (Steuerämter, Devisenstellen, Polizei, Zoll etc. etc.). Inzwischen werden die flüssiggemachten Geldmittel verbraucht und sind auch Abgaben, Gebühren, Auslösungen etc. zu bezahlen, bis die Leute tatsächlich nichts mehr besitzen.

Aus einer anderen Stadt ist ein Fall bekannt, in welchem der Ehemann vom 11. November an vier bis fünf Wochen im Konzentrationslager war. Die Ausreise nach Amerika über die Schweiz wäre geregelt, konnte aber bisher nicht stattfinden, weil immer neue Schwierigkeiten und Formalitäten in den Weg gelegt und Beträge gefordert werden. Für Ablösung der Gegenstände, die Mann, Frau und Mutter mitnehmen dürfen, wurden RM 6000 - verlangt, welcher Betrag dann auf RM 4000 - ermäßigt wurde. Die hiesigen Angehörigen haben alles aufgeboten, um die Ausreise zu ermöglichen. Geld ist genug vorhanden. Aber die Leute sind bis heute noch nicht hier (in der Schweiz) eingetroffen, wo sie seit Wochen erwartet werden, um nach Amerika zu fahren, wo sie schon früher wohnten.

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