Bericht aus Berlin
Nach dem 16. Dezember 1938 verfasster Bericht eines Berliners über Korruption in der Beamtenschaft, die Arbeit des Jüdischen Kulturbundes, die Zensur des Jüdischen Nachrichtenblattes und die Probleme bei der Organisation der Auswanderung, vor allem wegen der wenigen Einwanderungsmöglichkeiten und der Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Gestapo und der „Reichsstelle für Wanderungswesen“:
Korruption
Zu den auffälligsten Erscheinungen in Deutschland gehört die sozusagen täglich wachsende Korruption der Beamtenschaft usw.
Zunächst einige Beispiele:
Ich selbst war im Dezember auf dem Polizeirevier 156, Scha-perstraße, um Auswanderungspässe zu beantragen. Der Beamte stellte dabei Fragen nach den Vermögensverhältnissen, um ein Formular auszufüllen. „Sehen Sie, nun müssen Sie das ganze Geld zur Bank bringen - an uns Beamte hat nie jemand gedacht.“ Ich war darauf etwas verblüfft und fragte: „Bitte, wie meinen Sie?“ Daraufhin wiederholte er noch einmal dasselbe. Ich sagte daraufhin: „Wie meinen Sie das - im Rahmen des Möglichen tut man doch gern, was man kann.“ Daraufhin sagte er, „er hätte es ja nicht so gemeint“. Dann verließ er das Zimmer und ich auch. Draußen sagte er mir seinen Namen (Kusch) und sagte: „Nicht wahr, wenn Sie auswandern, dann denken Sie an mich.“ Ich sagte ihm, er solle mir mal seine Wünsche sagen, ich würde gern sehen, was ich tun könnte. Einige Stunden später, als ich bei Tisch zu Hause saß, klingelte es draußen, der Beamte selbst erschien (in Uniform mit Mantel darüber), und als ich ihm verblüfft öffnete, sagte er, „er wollte mir nur sagen, er hätte gern einen runden Tisch und einen Teppich 2 mal 3 Meter“. Im Übrigen sind die Auswanderungspässe in verblüffend kurzer Zeit ausgestellt worden. Einer meiner Freunde, Rechtsanwalt W., dem ich die Sache erzählte, rief mich einige Tage später an, um mir zu sagen, dass, was bei mir der „runde Tisch“, bei ihm „die Schreibmaschine“ sei.
In einem anderen Falle ist mir Folgendes bekannt:
Eine alte polnische Jüdin war in einer Passangelegenheit auf dem Fremdenamt in der Karlstraße. Einer der Beamten sagte zu ihr: „Nicht wahr, wir sind hier anständig, wir nehmen kein Geld.“ Daraufhin sagte die Dame, Frau Th.: „Das ist, weil Sie noch gehören zur alten Schule“, worauf der Beamte erklärte: „Das haben Sie aber sehr gut gesagt.“
Von diesen bezeichnenden Anekdoten abgesehen, ist Folgendes zu sagen: Besonders blüht die Korruption in Bezug auf die Abfertigung des jüdischen Umzugsguts bei Auswanderern und des Reisegepäcks. Von den verschiedenen Speditionsfirmen, die die Abfertigung der Auswanderer vornehmen, ist bekannt, ob sie gute Beziehungen zu den Behörden haben oder nicht. Diese Frage ist für den jüdischen Auswanderer sehr viel wichtiger als die Billigkeit ihrer Kostenanschläge. Eine Firma wie z. B. Franzkowiak erfreut sich bezüglich des Einflusses bei Behörden eines ausgezeichneten und für sie höchst lukrativen Rufes. Da es absolut keine irgendwie bindenden Regeln gibt, worauf und in welcher Höhe Abgaben gezahlt werden müssen, ist der Willkür völlig freie Bahn gelassen (und entsprechend auch der Korruption). Bezeichnend ist in dieser Hinsicht Folgendes:
Die Verhältnisse sind lokal völlig verschieden. In Berlin bekommt man noch fast alles mit, muss allerdings bei Neuanschaffungen (aus dem Jahre 1938) meist eine Abgabe von 100% zahlen. Nicht mitgelassen werden meines Wissens nur ganz selten besonders wertvolle Dinge. Dagegen ist die Handhabung anderwärts viel strenger. An manchen Orten, wie z. B. Nürnberg, Magdeburg ist sie äußerst streng; was besonders wertvolle Neuanschaffungen anbetrifft, so werden diese überhaupt kaum noch mitgelassen, für andere wertvolle Gegenstände werden oft Abgaben bis zu 500% verlangt. Im Übrigen istbekannt, dass viele Leute bei der Bezahlung der Gebühren für die Abfertigung durch die Devisenstelle den kleinen Betrag mit sehr großem Geld bezahlen und das ganze Wechselgeld liegenzulassen pflegen.
Kulturelle Entfaltungsmöglichkeiten in Deutschland Augenblicklich gibt es weder jüdische Buchhändler noch jüdische Verlage. Alles ist übergeleitet auf den jüdischen Kulturbund, Abt. Buchverlag. Soviel ich gehört habe, führt dies u. a. dazu, dass riesige Bestände aus dem jüdischen Antiquariat eingestampft werden müssen, da der Kulturbund absolut nicht die Räume usw. hat, die Sachen aufzubewahren. Ferner führt die Neuregelung zu folgenden Konsequenzen:
1. Bisher haben noch jüdische Firmen jüdische Verlagserzeugnisse drucken dürfen, das hört auf.
2. Es muss alles bei einer bestimmten Firma, deren Namen ich im Moment vergessen habe, deren Inhaber aber PG mit goldenem Parteiabzeichen ist, gedruckt werden.
Es geht so weit, dass z. B. das neue „Südamerikaheft“ des Hilfsvereins der Juden in Deutschland (Neuauflage des Heftes von 1936), das schon vollständig bei der Fa. Lichtwitz gesetzt war, nicht von dieser Firma gedruckt werden darf, sondern schon von der neuen Firma. Alle weiteren Hefte müssen schon bei der neuen Firma gedruckt werden.
„Joci causa“ folgendes Detail:
Der alte Verleger des Hilfsvereins, Herr Schmoller, der die Inseratenbearbeitung betrieb, erscheint mit einem gänzlich unbekannten zweiten Herrn, dem die Leitung der Abteilung Buchverlag im Kulturbund übertragen worden ist, beim Hilfsverein und stellt dem erstaunten Redakteur des Correspon-denzblattes „Jüdische Auswanderung“ diesen Herrn als seinen Nachfolger vor; „Sie haben nicht gewollt, Herr X. hat nicht gewollt, ich hatte auch das Geschäft nicht aufgeben wollen, aber Sie müssen eben jetzt Zusammenarbeiten.“
Im Übrigen war der Verkauf und sogar die unentgeltliche Abgabe der „Jüdischen Auswanderung“ mindestens sechs Wochen verboten, obwohl das Heft in jeder staatlichen Auswanderer-Beratungsstelle gebraucht wird und ganz offensichtlich der von der Regierung gewünschten Auswanderungsförderung dient.
Das „Jüdische Nachrichtenblatt“, der einzige Rest der jüdischen Presse, der bestehen geblieben ist, erscheint unter doppelter Zensur. Eine Zensur, die des Büros Hinkels, gilt als harmlos: Dagegen ist die zweite Zensur, die der Reichsführung SS, [äußerst streng.] Faktisch steht der Redakteur Kreindler unter derartigem Druck, dass eine ganze Reihe von Artikeln den Eindruck machten, als seien sie direkt von der Gestapo eingegeben. Insbesondere erzählt man sich z. B., dass der eine Brief, der in der zweiten oder dritten Nummer des Blattes erschien [und] darüber bittere Klage führte, dass die ausländischen Juden nichts für die deutschen Juden täten, ferner, dass die ausgewanderten Intellektuellen usw. nur ihre eigenen Interessen verfolgt hätten etc. - unter folgenden Umständen in das Blatt gekommen sei:
Abschrift des Briefes sei gleichzeitig an die Gestapo geschickt worden, die auf dem Abdruck bestanden hätte. Ich kann mich für die Wahrheit dieser Behauptung nicht verbürgen, da sich Herr Kreindler einer Aussprache mit mir seit langem entzieht.
Zur Wanderungslage
Die Situation ist z. Zt. dadurch charakterisiert, dass von den 30- bis 35000 Personen, die Ende November verhaftet worden waren, alle wieder freigelassen worden sind - mit Ausnahme von etwa 2000. Ich kann mich für die Zahlen nicht verbürgen. Alle diese Zehntausende von Menschen sind aber entlassen unter strikter Aufforderung, schleunigst auszuwandern. Die Frist, die für die Auswanderung gesetzt ist, variiert. In sehr vielen Fällen beträgt sie drei Wochen. Eine Frist, in der es normalerweise unmöglich ist, irgendeine geregelte Auswanderung auch nur technisch durchzuführen bei der Kompliziertheit der Pass- und Zollvorschriften usw., der Schwierigkeit der Erlangung der Unbedenklichkeitsbescheinigung usw. Tatsächlich ist die Widersinnigkeit dieses Zustandes offenbar; nur sind die Folgerungen, die hieraus gezogen werden, ganz entgegengesetzt:
1. Die Gestapo strebt danach, sämtliche Formalitäten der Auswanderung zu vereinfachen, und zwar nach „Wiener Muster“, d. h., dass die Gestapo selbst die Devisenabfertigung, die Passausstellung usw. in eine Hand zentralisiert. Richtungsweisend in dieser Hinsicht ist der berühmte Artikel aus der „Essener Nationalzeitung“. Technisch ginge bei einer derartigen Regelung tatsächlich die Auswanderung beschleunigt durchzuführen. Dass bei der gegenwärtigen Lage dem Auswanderungsdrange nur sehr beschränkte Einwanderungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und dass eine mit allen Mitteln forcierte Massenauswanderung unter Umständen sehr schnell zur Verringerung auch der vorhandenen Möglichkeiten führen muss, steht auf einem ganz anderen Blatt. Dies scheint die Gestapo auch nicht primär zu interessieren. Dagegen sind diese Gesichtspunkte der Reichsstelle für Wanderungswesen absolut vertraut, und diese hat deshalb auch eine Eingabe des Hilfsvereins auf Verlängerung der Fristen bei der Entlassung aus dem Konzentrationslager grundsätzlich befürwortet und weitergeleitet. Die Reichsstelle hat sogar den Standpunkt vertreten, dass grundsätzlich (der Forderung des Hilfsvereins entsprechend) eine Frist von etwa drei Monaten zur Auswanderung gewährt werden sollte, dass aber außerdem nach Ablauf dieser drei Monate, falls die Auswanderung inzwischen nicht vollzogen sei, die Frist nochmals verlängert werden sollte, wenn die örtlich zuständige staatliche Auswanderer-Beratungsstelle erkläre, dass die Auswanderung bisher nicht möglich gewesen sei. Die Reichsstelle zieht also die entgegengesetzte Forderung wie die Gestapo, nicht Vereinfachung der Formalitäten, sondern Verlängerung der Fristen, vor. Politisch ist die Situation so, dass die Reichsstelle natürlich bei diesem Plan das Bestreben hat, ihre Stellen nach Möglichkeit einzuschalten. Die Reichsstelle zittert vor der Neuorganisation, die ihr angedroht ist, und hat sich tatsächlich bei jüdischen Stellen erkundigt, was eigentlich kommen sollte: „Wir tappen vollständig im Dunkeln.“ - „Wir wissen nichts, als was in der „Essener Nationalzeitung“ gestanden hat, und das ist doch nicht anwendbar auf Deutschland. Die Verhältnisse sind doch hier ganz anders als in Österreich.“ (Äußerung eines Mitarbeiters der Reichsstelle zum Hilfsverein am Telefon.)
Das Vorstehende beleuchtet nur einen Teil-Ausschnitt aus dem Kampf der Gestapo gegen alle übrigen Behörden. Wanderungspolitisch steht die Sache so, dass die Gestapo durch das Konzentrationslager und die kurzfristigen Entlassungen, ferner durch die dauernden Ausweisungen von Staatenlosen und jetzt häufig auch schon von Deutschen einen derartigen Auswanderungsdrang erzeugt, dass irgendeine wirklich geregelte Tätigkeit der Reichsstelle gar nicht mehr möglich ist. Auch solche Fragen wie z. B. die nicht seltene Verhaftung von Beratern des Hilfsvereins (während der Novemberaktion sind mindestens ein halbes Dutzend Berater in die Konzentrationslager gekommen) zeigen, dass die Gestapo gar keinen Wert auf irgendeine geregelte Auswanderung mehr legt. Dies hat u. a. auch zur Folge, dass ein Einschreiten gegen offenbare Ausnutzung der Auswanderungsnot durch private Firmen, insbesondere durch die Reisebüros und die zahlreichen heimlichen Agenten usw., fast unmöglich ist. Eines der Reisebüros, das am schamlosesten zur Übervorteilung der Auswanderer und zur Zerstörung von Einwanderungsmöglichkeiten durch Hinaussenden von Auswanderern mit völlig unzureichenden Visen beiträgt, erklärte auf Vorhaltungen, dass man nach dem Gesetz wegen Missbrauch von Auswanderungspässen gegen sie vorgehen könne, lächelnd, die Behörde, auf die es ankäme, schicke ihnen ja heute selber Kunden. Infolge des ungeheuren Auswanderungsdranges und der sehr beschränkten Visumsmöglichkeiten stehen tatsächlich die Leute stundenlang vor den Reisebüros an, um die zweifelhaftesten Visen zu kaufen. Keine Schilderung des Flüchtlingselends in Shanghai oder Bolivien hält sie davon ab zu buchen. Gegen den Hilfsverein werden sie ungeheuer ausfallend, wenn er diesem Auswanderungsdrange „ä tout prix“ Widerstand entgegenzusetzen sucht.
Wohin die jetzige Entwicklung führen soll, vermag sich keine Phantasie auszumalen. Wenn man nur die 30000 in Konzentrationslagern gewesenen Männer samt ihren Angehörigen rechnet, d. h., ganz absieht von den anderen dringenden Auswanderungskategorien, d. h.
a) von denen, die als staatenlos oder als Polen, Rumänier, Ungarn usw. Auswanderungsbefehle erhalten,
b) von denen, die an Umschichtungskursen mit Genehmigung des Stadtpräsidenten teilgenommen haben und jetzt zur Auswanderung drängen, und
c) endlich von der großen Masse derer, die nur hinauswollen, weil ihnen jede Verdienstmöglichkeit genommen und meistens auch die Wohnung gekündigt worden ist, selbst dann kommt man auf eine Zahl von unbedingt zur Auswanderung zu bringenden Menschen von tooooo, die eigentlich innerhalb eines halben Jahres hinaus sein müssten. Die Möglichkeiten sind demgegenüber, wie bekannt, äußerst gering, nämlich insgesamt etwa 2000 Menschen nach USA (alles in allem), ferner etwa 300 bis 400 monatlich nach Australien, ferner vielleicht 500 Personen insgesamt nach Argentinien, Brasilien und Chile (zusammen monatlich) - so wäre die Zahl1 verfügbarer konstruktiver Auswanderungsmöglichkeiten im wesentlichen erschöpft, und es bleiben gewisse Gegenden, in die man im Allgemeinen nur Massendeportationen, aber keine wirkliche Auswanderung großen Stils durchführen kann, wie Shanghai oder Bolivien. Ferner bleiben die beschränkten Möglichkeiten, Transitaufenthalt in europäischen Ländern zu erhalten mit allen finanziellen und sonstigen Folgen, die damit verbunden sind. Zweifellos wäre die Lage eine andere, wenn rechtzeitig mit der Vorbereitung großzügiger Siedlungspläne begonnen worden wäre. Augenblicklich wird ohne Vorbereitung improvisiert werden müssen, wenn wenigstens ein Teil der Menschen irgendwie gerettet werden soll.