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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über Pogrom in Berlin

Augenzeugenbericht über die Zerstörung der Berliner Synagogen und Gemeindegebäude, die Plünderung und Verwüstung von Geschäften und die Massenverhaftungen:

Über die Aktion in Berlin am 10. und 11. November 1938 berichtet ein Augenzeuge:

Schon gleich nach dem Attentat gegen den Legationssekretär vom Rath wurden in den Kreisen der Berliner Juden große Befürchtungen über die Folgen dieses Attentates laut, sodass zahlreiche Juden von diesem Tage ab nicht mehr in ihrer eigenen Wohnung übernachteten.

Auch dieser Herr berichtet wie alle anderen Augenzeugen, dass in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag die Zertrümmerungsaktion eingesetzt hat und dass in dieser Nacht die Synagogen in Brand gesteckt wurden. So wurden u. a. auch die in den Zeitungen bisher nicht genannten Synagogen Lessing-, Klopstock-, Ryke- und Lützowstraße völlig zerstört. In der Synagoge in der Lützowstraße sind die Thorarollen zerfetzt worden.

Auch er meldet übereinstimmend mit anderen, dass erst nach dem Aufruf Goebbels' am Nachmittag ein neuer Tumult eingesetzt hat, erst am Donnerstag, dem 10. November, nachmittags begannen in Berlin die Plünderungen und völligen Zerstörungen der Geschäfte.

Der Berichterstatter ist an diesem Nachmittag durch verschiedene Gegenden Berlins gegangen und hat hierbei feststellen können, in wie entsetzlicher Weise die Plünderungen vor sich gegangen sind, die das Eigentum der Juden völlig vernichtet haben. Durch diese Aktion sind zahlreichejüdische Geschäftsinhaber ihres letzten Hab und Gutes beraubt worden.

In dem bekannten Uhrengeschäft Brandmann am Alexanderplatz wurde alles kurz und klein geschlagen, sogar die großen Standuhren. Die Schulkinder füllten sich ihre Taschen mit den goldenen Uhren und Ringen.

In den Buchhandlungen in dieser Gegend, z. B. in der Buchhandlung Lewin, bei Wolf Sales, wurden alle Bücher verbrannt und zerfetzt. Bei Gonzer in der Oranienburgerstraße wurden auch die Thorarollen zerrissen, die Tallesim1 zerschnitten und besudelt. Dort drangen die Plünderer auch in die Wohnung ein, schlugen das Mobiliar entzwei und raubten Geld. Ebenso wüst ging es bei dem so genannten „Haus der Geschenke“ von Saalberg in der Königstraße her.

Wie sich der Überfall in einem der zahlreichen Antiquitätengeschäfte in der Lützowstraße - in dieser Gegend Berlins befinden sich viele der Antiquitätenläden - abspielte, verdeutlicht die Wiedergabe folgender Szene:

In dem Geschäft erschien ein Mann mit einer dicken Aktentasche. Die Ladeninhaberin begrüßte ihn mit den Worten: „Womit kann ich Ihnen dienen?“ Der Mann: „Ist dies ein jüdisches Geschäft?“ Die Inhaberin: „Ich selbst bin Jüdin, womit kann ich Ihnen dienen?“ Der Mann (brüllend): „Ziehen Sie sich sofort zurück!“

Daraufhin trat die Frau eingeschüchtert einige Schritte zurück, um sich in die an den Laden anstoßende Wohnung zu begeben. Im gleichen Augenblick schleuderte der Mann irgendeinen schweren Gegenstand in eine der im Laden stehenden Vitrinen, die mit kostbaren Tassen gefüllt war. Dies war wohl das Signal für den imitierten Überfall. Im Nu ist der ganze Laden angefüllt mit Rowdies, die nicht nur das ganze Inventar, sondern auch alle Gegenstände des Geschäftes, darunter zahlreiche Kostbarkeiten, in sinnloser Wut vernichteten.

Durch die Zerstörungsaktion wurden nicht nur die Fensterscheiben, die Ladeneinrichtung und die Waren völlig zerstört. Es wurden sogar auch die kostbaren Ladenausbauten mit Gewalt zertrümmert.

Selbst bei leeren Läden wurden die Scheiben eingeschlagen, wenn man feststellte, dass sich dort frühere Geschäfte von Juden befunden hatten.

In dem Viertel der ärmsten Juden, in der Grenadierstraße, bot sich ein unbeschreibliches Bild.

Merkwürdigerweise ist ein kleiner Straßenzug in der Nähe des Rathauses völlig verschont geblieben. Wahrscheinlich ist er vergessen worden. Am Freitag früh erschienen bereits Polizisten in den dort befindlichen Geschäften jüdischer Inhaber und notierten sich, dass dort die Schaufenster und Geschäfte nicht zertrümmert worden seien.

Das Palästinaamt in der Meineckestraße soll auch völlig demoliert worden sein. Die Akten wurden zerrissen und Schreibmaschinen aus dem Fenster geworfen.

Im Hause der Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße waren die Türen eingetreten. Das Gemeindehaus in der Oranienburgerstraße wurde von der Gestapo besetzt.

Schon am Donnerstag, dem 10. November, setzten zahlreiche Verhaftungen ein, viele Männer zwischen 18 und 60 Jahren wurden verhaftet. Die Polizeireviere erklärten, dass sie mit den Verhaftungen nichts zu tun hätten. Man behauptete dort auch, dass Leute mit Auswanderungspässen nichts zu befürchten hätten. Es ließ sich natürlich nicht feststellen, ob diese Angaben zutrafen.

Infolge der Verhaftungen schliefen die meisten Juden nicht mehr im eigenen Hause, sondern verbargen sich bei Bekannten, auch in vielen Fällen bei christlichen Freunden. Im Hansaviertel haben zahlreiche Juden auf dem Boden einer jüdischen Schule übernachtet.

Zu den Verhafteten gehört u. a. Dr. Horwitz, Chirurg am jüdischen Krankenheim in der Elsässer Straße. Trotzdem ein großer Teil des Publikums die Schreckensszenen ablehnte, wurde publik, dass Parteikreise sich beschwert hätten, dass bisher kein Blut geflossen sei.

Telefonische Verbindungen mit jüdischen Familien in den Provinzstädten waren vielfach unmöglich, entweder weil die Betreffenden sich nicht in der Wohnung befanden oder das Amt keine Verbindung mit jüdischen Teilnehmern durchführte.

Zu der Frage der Schätzung des Vermögens bemerkt Herr X. mit Recht, dass diese Schätzungen sehr übertrieben seien. Man hat z. B. alle Pensionen und Renten kapitalisiert. Einem pensionierten Beamten, der vielleicht eine Jahrespension von ca. RM 4000 - erhält, wird diese Rente so berechnet, als ob er ein Vermögen von RM 100 000 - besäße. Auf diese Weise kommen natürlich völlig unberechtigte Vermögensschätzungen zustande, und es werden Riesenvermögen errechnet, die nicht vorhanden waren oder nicht mehr vorhanden sind.

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