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Chronik und Quellen
1938
November 1938

Bericht über die Lage der Juden in Deutschland

Am 20. Dezember 1938 verfasste ein Unbekannter folgenden Bericht über das Pogrom, seine Folgen und die Situation der Juden in Deutschland:

Vermerk über die Lage der Juden in Deutschland

Aus verlässlichen Informationen geht klar hervor, dass gerade erst ein Bruchteil dessen, was tatsächlich seit der Pogromwelle vom 10. November in Deutschland geschieht, im Ausland bekanntgeworden ist, ungeachtet der genauen und ausführlichen Berichte in der englischen und amerikanischen Presse. Dies ist darauf zurückzuführen, dass jegliche Enthüllung an die Auslandspresse über die Behandlung vieler Tausender von Juden in den Konzentrationslagern die Gefangenen sofort in tödliche Gefahr bringen würde; in Einzelfällen ist dies auch tatsächlich geschehen. Die wenigen nachstehend zitierten Fakten dürfen nicht veröffentlicht werden.

In den frühen Morgenstunden des 10. November (zwischen ein und drei Uhr) wurden nicht weniger als 500 Synagogen in ganz Großdeutschland auf ausdrücklichen Befehl der Führung der Nazi-Partei in Brand gesteckt; in Berlin wurde der Befehl dazu von Dr. Goebbels selbst als Gauleiter gegeben. Das Niederbrennen der Synagogen war nicht nur ein Racheakt für die Erschießung von Herrn vom Rath; sie geschah in der ausdrücklichen Absicht, die Juden ihres letzten Rückhalts zu berauben und so deren endgültige „Liquidation“ zu beschleunigen.

Seit 1933 wurden die Gottesdienste in allen Synagogen auf deutschem Boden von so großen Mengen von Gläubigen besucht, dass die Türen unmittelbar und manchmal sogar vor Beginn des Gottesdienstes geschlossen werden mussten. Die Synagoge war der einzige den Juden verbliebene Platz, wo sie noch geistigen Trost finden konnten. Dies war den Führern der Nazi-Partei bewusst - daher der Befehl, alle Synagogen gleichzeitig niederzubrennen. Seit dieser Nacht wurde kein einziger Gottesdienst von Juden in Deutschland abgehalten, auch wenn ausländischen Pressekorrespondenten kürzlich gegenteilige Informationen gegeben wurden.

Es muss betont werden, dass zahlreiche Einzelinformationen, die der Presse außerhalb Deutschlands geliefert wurden, nicht in den deutschen Zeitungen erschienen sind und völlig unzutreffend sind.

Am Nachmittag des 10. November begannen die Massenverhaftungen von Juden. 60000 Juden im Alter von 16 bis 80 wurden in die Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg, Buchenwald bei Weimar und Dachau gebracht. Es ist nahezu unmöglich, sich eine Vorstellung von den Leiden dieser Leute zu machen, [sie werden] geschlagen, unaussprechlichen Foltern unterworfen und in einigen Fällen direkt ermordet.

Diejenigen, die am 10., lt. und 12. November verhaftet wurden, wurden bei ihrer Ankunft im Lager gezwungen, 17 Stunden lang in Reih und Glied zu stehen, ohne sich zu rühren. Essen wurde erstmals 24 Stunden nach Ankunft ausgegeben. Viele, vor allem unter den älteren Männern, starben als Folge dieser anfänglichen Behandlung. Die neuen Gefangenen wurden in Baracken untergebracht, und 260 Mann mussten schlafen, wo nur für 50 Platz war. Sie waren aus Platzmangel gezwungen, eng aneinandergepresst auf der Seite zu liegen.

Die Lagerinsassen müssen um 5.30 Uhr aufstehen, da ein Appell stattfmdet (der erste von fünf oder sechs) und die Arbeit verteilt wird. In Sachsenhausen werden die Häftlinge bei der Vorbereitung von Eisenteilen und Steinen für den Bau von Brücken und die Anlage von Kanälen eingesetzt; diese Arbeit müssen alle verrichten, ohne Rücksicht auf ihr Alter oder ihre körperliche Verfassung. Gearbeitet wird ohne Pause bis 7 Uhr abends. Das Mittagessen besteht aus einem Stück trockenem Brot, das beim Morgenappell ausgeteilt wurde, und muss im Laufschritt gegessen werden, angetrieben von SS-Leuten in Totenkopf-Uniformen, die die Häftlinge mit Peitschen schlagen.

Zusätzlich zu den drei genannten Konzentrationslagern gibt es ein so genanntes Moorlager nahe der holländischen Grenze namens Esterwegen. Vorher wurden dorthin nur besonders hart gesottene Kriminelle gebracht, die man schnell loswerden wollte. Diese Kriminellen wurden nach Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau gebracht, um dort als Vorgesetzte der gefangenen Juden zu fungieren.

Leute, die Monate in den Gefängnissen der russischen GPU zugebracht haben, schwören, dass ihnen selbst dort keine derart sadistische Grausamkeit begegnet ist, wie sie tagtäglich in den deutschen Konzentrationslagern praktiziert wird. Ein oder zwei Beispiele sollten genügen.

Eine besonders grausame Folter, die aus Esterwegen mitgebracht wurde, wurde jetzt in den Lagern eingeführt. Die jüdischen Häftlinge werden liegend am Rand eines Kanals aufgereiht, der jetzt nahe der Oder gebaut wird. SS-Männer befördern sie mit Fußtritten in den mehrere Meter tiefen Kanal, und sie müssen zurück auf die Böschung klettern und sich wieder hinlegen, nur um wieder mit einem Tritt in den Kanal befördert zu werden; dieser Vorgang dauert an, bis die Männer blutüberströmt daliegen. Nach dem 10. November wurden die Häftlinge über eine Woche lang gezwungen, täglich 7 Stunden am Stück ohne Unterbrechung um den Kanal zu laufen; SS-Männer waren auf beiden Seiten postiert und warfen Sand in die Mäntel, die die Läufer aufzuhalten hatten; diesen Sand mussten sie auf dem gegenüberliegenden Ufer abwerfen.

Die meisten Aufseher sind junge Burschen von 17 bis 19 Jahren, die ihre Befehle stets mit gezogenem Revolver erteilen. Da der geringste Ungehorsam oder Arbeitsunfähigkeit mit sofortigem Erschießen bestraft wird, ist es nicht überraschend, dass es zahlreiche Todesfälle geben muss. Es sollte auch leicht einzusehen sein, dass die Häftlinge, wenn sie nicht rasch gerettet werden, alle Lebenskraft verlieren werden.

Niemand wird von der Arbeit befreit. Solange ein Häftling noch am Leben ist, so schwer krank er auch sein mag (die Krankenstationen in den Lagern waren in den ersten drei Wochen für Juden gesperrt), ist er gezwungen zu arbeiten und an jedem Appell teilzunehmen. Sowohl in Dachau als auch in Sachsenhausen gab es Fälle von alten Männern, die während des Appells nicht mehr aufrecht stehen konnten. Sie wurden drei Tage lang der Nahrung beraubt, und diejenigen Häftlinge, die neben ihnen gestanden und ihnen zu helfen versucht hatten, indem sie sie aufrecht hielten, wurden öffentlich ausgepeitscht.

Eine Auspeitschung wird in Gegenwart aller Insassen der Baracke des Häftlings vollzogen. Er wird vollständig entkleidet und von zwei SS-Männern mit Lederpeitschen geschlagen. Die Schreie, die man von allen Seiten des Lagers zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten hören kann, sind manchmal so schrecklich, dass die Häftlinge ihre Ohren mit jedem Papierfetzen zu verstopfen suchen, den sie finden können. Die SS-Männer machen täglich Jagd auf Rabbiner, Ärzte, Anwälte und generell Angehörige der intellektuellen Schichten.

Die Lager sind mit einem elektrisch geladenen Zaun umgeben, und wenn die SS-Männer einen jüdischen Häftling erledigen wollen, befehlen sie ihm, auf den Zaun zuzulaufen; der Posten dort schießt dann auf ihn, und das Opfer wird als „beim Fluchtversuch erschossen“ gemeldet, obwohl es klar ist, dass jeder, der es versuchen würde, bei der Berührung des Zauns vom Stromschlag getötet würde.

Sehr bald nach dem 10. November erhielten Hunderte jüdischer Frauen Urnen mit der Asche ihrer Ehemänner, deren Körper verbrannt worden waren. Einäscherung ist die Regel im Fall von Juden, die in einem Konzentrationslager sterben, weil man so die Entdeckung von Verletzungen an den Leichnamen verhindern kann.

Jeder Jude, der zum Zweck der Auswanderung entlassen wird - und nur diejenigen, die auswandern können, werden freigelassen -, muss eine Erklärung unterschreiben, dass er nicht misshandelt wurde, dass er Stillschweigen über alles bewahren wird, was er im Lager gesehen hat, und dass er sich zeit seines Lebens weder mündlich noch schriftlich an Propaganda zum Schaden des Dritten Reiches beteiligen wird. Diese Darstellung behandelt die Fakten bei weitem nicht erschöpfend. Eines Tages wird ein umfangreicher Bericht über die Ereignisse der letzten fünf Wochen in Deutschland geschrieben werden müssen. Ziel dieses Vermerks ist nur, einen Eindruck vom tragischen Schicksal des deutschen Judentums zu vermitteln.

Dieses Schicksal droht noch schlimmer zu werden. Im Januar 1939 wird die „Arisierung“ der deutschen Wirtschaft abgeschlossen sein, und Juden werden aus allen Beschäftigungs-möglichkeiten hinausgeworfen sein. Sie werden dann als „asoziale Elemente“ betrachtet werden, und es ist geplant, sie, um die „Demoralisierung Deutschlands“ zu verhindern, in Arbeitslager zu sperren, wo sie Straßen bauen und im Steinbruch arbeiten müssen.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass der deutsche Staat, der bisher den Ärmsten unter seiner Bevölkerung eine Art Unterstützung zukommen ließ, den Juden eine solche Hilfe verweigert. Dies bedeutet, dass die jüdischen Gemeinden Deutschlands für Tausende von Menschen sorgen müssen, die auf sie zurückgeworfen sind - eine Aufgabe, der sie angesichts ihrer Verarmung möglicherweise nicht gewachsen sind.

So bekommen wir folgendes Bild der Lage: 60000 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert, von denen bisher nur 25000 entlassen wurden; eine Gemeinschaft, die im Begriff ist, auf den Stand proletarischer Armer zurückgeworfen zu sein, aller Unterhaltsmittel beraubt und buchstäblich vom Hungertod bedroht.

Es gibt nur einen Weg zur Linderung dieses furchtbaren Elends, nämlich die Einrichtung von Durchgangslagern in verschiedenen europäischen Ländern, wo die Flüchtlinge ein oder zwei Jahre lang auf neue Beschäftigungen umgeschult werden können, damit sie sich in Übersee niederlassen können.

Wichtig ist auch, dass die jüdische nationale Heimstätte in Palästina, die lange die einzige Quelle des Trostes und der Hoffnung für das deutsche Judentum gewesen ist, zur Lösung dieses schwierigen Problems beitragen sollte. 200 Männer, die viele Jahre lang dem Zionismus außerordentlich große Dienste geleistet haben, leiden in Konzentrationslagern. Der Gedanke ist unerträglich, dass die jüdische Gemeinschaft in Palästina nichts tun kann, um einige der jüdischen Kinder in Deutschland zu retten (deren Zahl auf nicht weniger als 50000 geschätzt wird).

Auswanderung allein kann die zu einem furchtbaren Schicksal verurteilten Juden in Deutschland retten; und das gilt nicht nur für diejenigen in den Konzentrationslagern, sondern auch für die Kinder. Da neue Verordnungen, die das jüdische Elend weiter zu vermehren drohen, in Kürze herauskommen sollen, muss die Auswanderung, um tatsächlich wirksam zu sein, unverzüglich vollzogen werden.

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